Als Erna Meier die Tür mit der Aufschrift „Wartezimmer“ öffnete, schauten sie 13 Augenpaare neugierig an. Sie wandte sich der Garderobe zu und suchte nach einem freien Kleiderbügel. Als sie keinen fand, hängte sie ihren Mantel kurzerhand an einen der vielen Haken. Dann nahm sie neben einer dicken Dame Platz, die stumm in einer Zeitschrift blätterte und schwer atmete. Ihr gegenüber saßen zwei Männer, die sich leise unterhielten. Der linke mußte ungefähr in ihrem Alter sein, der andere war weitaus jünger.
„Meine Frau hat gestern Hausputz gehalten“, vernahm sie deutlich. „Und weißt du, was sie dabei gefunden hat“, erzählte der linke von den beiden weiter. „Du wirst es nicht glauben!“ Der andere Mann räusperte sich und blickte seinen Nachbarn fragend an.
„Na, nun sag’ schon“, antwortete er ungeduldig.
„Einen Zeitungsausschnitt von 1947.“ Er machte eine Pause.
„Ja, und was ist daran so besonderes?“ fragte der rechte.
„Mensch, Egon, 1947! Sagt dir das nicht was?“
Während sein Nachbar noch nachdachte, wusste Erna Meier natürlich längst, um was es ging. Damals, März 1947, als draußen im Wald in der Nähe des kleinen Städtchens ein Toter gefunden und wenig später als der Industrielle Kurt Straußbach identifiziert wurde. Unruhig wartete sie auf die Antwort ihres Gegenübers.
„Mensch, Egon“, begann jetzt wieder sein Nachbar, als keine Antwort kam, die Sache mit dem Straußbach draußen im Forst!“
„Ach, sag bloß“, meinte der rechte, der Egon hieß, ziemlich dumm, „und was soll daran so interessant sein?“
Der linke zog die Augenbrauen hoch. „Du weißt wohl gar nichts, wie?“
Egon kratzte sich umständlich am Hinterkopf und blickte sich in der Runde um, als wolle er überprüfen, ob einer der Anwesenden das Gespräch mitverfolgt hatte. Erna Meier beeilte sich, völlig unbeteiligt auszusehen und wühlte in dem Zeitschriftenstapel auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Wartezimmers. In diesem Moment ertönte eine blecherne Stimme aus dem kleinen Lautsprecher über der Tür: „Margarete Wenzel bitte!“ Die Dame, die auf diesen Namen hörte, stand auf und verließ leise den Raum. Egon hatte sich wieder seinem Nachbarn zugewandt und hörte sich nun dessen Geschichte an.
„Dem Straußbach gehörte doch damals die alte Papierfabrik am Schillingshof, wo jetzt diese Müllverwertung eingezogen ist“, begann der linke. „Und man erzählte sich hier im Ort eine ganze Menge über ihn. Ist ja schon lange her. Ich war ja gerade erst 13 Jahre alt damals. Aber meine Eltern, die hatten Kontakt mit dem alten Straußbach. War so’n Einzelgänger, immer Frauengeschichten und so, aber nie verheiratet. Und dann passierte eines Tages was ganz Merkwürdiges. Mensch, Egon, daß du das nicht mehr weißt!“
Egon schaute ihn betreten an. „Erzähl’ weiter, Herbert“, forderte er seinen Nachbarn auf.
„Also, der Straußbach soll damals so eine Kleine, naja, wie sagt man, er soll der jedenfalls ein Kind angedreht haben. Sagte die Kleine. Er hat’s immer bestritten. Stand alles groß in der Rundschau. Meine Eltern unterhielten sich beinahe jeden Abend beim Abendbrot darüber, deshalb ist mir das alles noch im Gedächtnis, als wär’s gerade gestern erst gewesen. Und dann mit einem Mal hat der Straußbach ...“
Wieder ertönte die blecherne Stimme und unterbrach die Geschichte: „Herbert Stratenkötter bitte!“
Herbert zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, Egon, aber jetzt muss ich erstmal zum Doktor ...“ Er stand auf und ließ seinen Nachbarn zurück, dem auf diese Weise das Ende der Geschichte entgangen war. Erna Meier kannte natürlich die Fortsetzung, und sie beobachtete, wie ihr Gegenüber sich Gedanken machte. In diesem Moment stieß ihre dicke Nachbarin sie beim Blättern in ihrer Zeitschrift ungeschickt mit dem Ellbogen an.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie. „Aber diese Wartezimmer bieten einem ja immer so wenig Platz!“
„Müsstest mal ein bisschen weniger essen“, dachte Erna Meier. Sie spürte noch den dumpfen Schmerz an ihrem rechten Oberarm. „Macht nichts“, sagte sie freundlich und bedachte ihre Nachbarin mit einem aufgesetzten Lächeln. Die verstand ihre Geste als Angebot zur Unterhaltung und begann: „Wissen Sie, ich muss so oft zum Doktor, weil er mir jedes Mal eine Spritze gibt. Tut höllisch weh, muss aber sein, sonst könnte ich keinen Schritt mehr tun. Mein Mann muss mir sowieso schon immer helfen, und die Kinder tun ja auch ihr Bestes. Kinder sind ja gar nicht so schlimm wie viele immer sagen. Also, meine Kinder, die helfen jedenfalls ganz tüchtig. Morgens sind sie in der Schule, und nach den Schulaufgaben haben sie Zeit genug. Die sind nicht wie andere, die mit ihren Walkmännern ...“ Erna Meier stöhnte. Das hatte sie jetzt davon. Angestrengt überlegte sie, wie sie der Quasselstrippe entkommen konnte.
„Finden Sie nicht auch, dass es hier zieht?“ fragte sie plötzlich mitten in den Redefluss ihrer dicken Nachbarin hinein und erhob sich, um sich einen anderen Platz zu suchen. Die Dicke schaute ihr pikiert hinterher. Erna Meier setzte sich neben Egon, der noch immer darüber nachdachte, wie wohl die Geschichte mit Kurt Straußbach zu Ende gegangen war.
„Wollen Sie’s hören?“ fragte Erna ihn leise.
Egon schien ein wenig begriffstutzig zu sein. „Wie, was hören?“
„Na, die Geschichte mit dem Straußbach!“
„Wieso, wissen Sie da was darüber?“
„Aber klar, war doch damals Stadtgespräch“, antwortete Erna.
Egon war sichtlich erschrocken. Dass jetzt schon zwei von der Geschichte wussten und er keinen blassen Schimmer hatte, machte ihn ein wenig unruhig. Wo er doch sonst alles mitkriegte, was erzählt wurde. Er bedeutete Erna Meier, ihm das Ende zu erzählen.
„Also“, fing sie wichtigtuerisch an, denn sie hatte nun eine ganz bedeutende Rolle. „Der Straußbach hat damals alles abgestritten, und in der Rundschau standen jeden Tag neue Schlagzeilen. War ja ganz schrecklich damals. Heute kräht doch nach solchen Sachen kein Hahn mehr! Schließlich kam heraus, dass alles stimmte, was die junge Frau erzählt hatte, und ein paar Tage später fand man den Straußbach draußen im Wald. Tot. Man weiß bis heute nicht, ob er sich selbst ... oder wer anders, Sie wissen schon.“ Erna Meier nickte ihrem Nachbarn zu.
Egon musste die Geschichte erstmal verdauen. „Und was ist mit der jungen Frau geworden?“ fragte er nach einer Weile.
Erna antworte ohne zu überlegen: „Ist doch die Grete Stegmann gewesen, die nachher den Balg gekriegt hat und weggezogen ist! Hat doch hier kein Bein mehr an die Erde bekommen.“
Egons Gesicht wurde immer blasser. In diesem Moment ertönte wieder die Blechstimme aus dem Lautsprecher über der Tür: „Egon Stegmann bitte, Herr Egon Stegmann“, und Erna Meier wusste mit einem Mal, dass sie heute lieber nicht zum Arzt gegangen wäre.


© Ulrich Kusenberg


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