Onkel Otto

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Onkel Otto

So richtig kann ich mich eigentlich nicht mehr an ihn erinnern, ich war auch noch zu jung.
Manchmal wenn meine Geschwister und ich draußen im Garten vor dem Haus spielten, was heißt spielten, meine Schwester versuchte mit mir zu spielen, während unser Bruder bestimmte was wir zu spielen hatten. Mein Bruder ist acht Jahre älter als ich und sechs Jahre älter als meine Schwester.
Wie gesagt, wenn wir also so vor dem Haus spielten, dann trafen wir ihn manchmal. Seine Haare waren schon grau, das Gesicht faltig wie bei einem Seemann. Sein brauner Wollmantel wirkte zerschlissen, die Schuhe stets sauber aber auch die hatten schon bessere Tage gesehen. Er war freundlich, er überreichte uns einen Bonbon mit den Worten: „Für euch! Den könnt ihr euch teilen!“
Er meinte es ernst, wir sollten uns wirklich diesen einen Bonbon teilen. Konnte er denn nicht zählen? Wir waren zu dritt, das wusste selbst ich und ich war nicht viel älter als drei Jahre! Mein Bruder war der Älteste, folglich auch der der am schnellsten begriff. Er griff also zügig nach diesem Bonbon und steckte ihn in seinen Mund. Irgendwann wurde das Objekt der Begierde dann an meine Schwester weitergegeben. Ich selber erinnere mich nur an die Worte meiner Schwester: „Huch, jetzt habe ich ihn verschluckt!“
Ich denke ich hatte niemals das zweifelhafte Vergnügen einen solchen Bonbon zu lutschen. Das waren die wenigen Momente in denen wir ihn persönlich erlebten, Onkel Otto.

Ansonsten waren es nur Erzählungen, aus denen er uns bekannt war oder wir sahen ihn aus der Ferne. Meine Mutter erzählte oft von der Zeit, als sie meinen Vater geheiratet hatte. Damals zog sie in unser Haus. Es ist groß, ursprünglich war es für drei Familien geplant. Erbaut ist es im klassizistischen Stil, mit zwei dicken Säulen vor der Tür und einer breiten weißen Treppe davor. Zu der Zeit wohnte unsere Urgroßmutter noch im Haus, ganz oben in der Mansarde. Dann kurz nach Kriegsende kam er, Onkel Otto, und zog dort ein. Unsere Urgroßmutter hatte den Krieg nicht überlebt. Mein Großvater und meine Großmutter, beide bestanden auf diese Anrede, sind in die erste Etage gezogen, somit war Platz für meine Eltern im Erdgeschoß. Später änderte sich das und meine Familie bevölkerte sowohl das Erdgeschoß als auch die erste Etage.

Onkel Otto, war der jüngere Bruder meines Großvaters. Meine Mutter sagte: „Onkel Otto, war im Krieg und hat jetzt Probleme sich zurecht zu finden. Seine Frau und seine Kinder kommen mit ihm nicht klar, deshalb wohnt er hier und wir sorgen für ihn.“

Otto war allerdings bemüht selbst für seinen Unterhalt zu sorgen. Nicht das er das musste, nein er war bestrebt nicht zu arbeiten, sich aber dennoch in einem gewissen Wohlstand zu befinden. Geld machte ihn glücklich, nicht das er es ausgab, nein nur das Notwendigste wurde angeschafft. Er hortete es. Kurz um er war geizig. Offiziell hatte er nur eine kleine Kriegsrente, die bekam seine Familie.

Otto zahlte keine Miete, es war schließlich auch sein Elternhaus in dem er wohnte. Essen wurde grundsätzlich für ihn mit gekocht, es wurde dann auf einem Tablett nach oben getragen und vor der Mansardentür abgestellt. Betreten durfte die Wohnung niemand.
Er war freundlich und zurückhaltend aber in gewisser Weise hemmungslos.

Es war für ihn selbstverständlich, zum Roten Kreutz zu gehen und wegen Kleidung zu fragen. Schließlich waren die Sachen die er trug mehr als schäbig, zum Teil durchsichtig. Folglich erzählte Otto seinen Leidensweg. Vom Krieg und der zerrissenen Familie, die nach seinen Angaben nicht mehr aufzufinden war. Er tupfte mit einem Taschentuch seine Augen, er schnäuzte sich und wischte sich die Wangen.
Die Damen waren so gerührt, dass sie ihm bereitwillig mit Altkleidern behilflich waren. Niemals fiel ihnen auf, dass unser Onkel Kleidung mitnahm die ihm überhaupt nicht passte, niemals hätte passen können. Zum einen mal war sie zu klein, dann zu groß oder zu weit.

Ja, Otto betrieb einen schwunghaften Handel mit gebrauchter Kleidung, sozusagen auf Bestellung. Sein einziger Einsatz waren ein paar falsche Tränen.
Der Winter war für ihn lukrativer, da konnte er mehr aus den Kleiderkammern der jeweiligen Organisationen mitnehmen, und das nicht nur wegen der Kälte. Nein, Otto weinte erbärmlich und zitterte wie Espenlaub. Er war schließlich Profi!
Jedes Mal waren die verteilenden Personen so ergriffen, dass man ihm gerne auch mit Lebensmitteln half, die standen nämlich wirklich nur bedürftigen Personen zu. Für Otto eine willkommene Nebeneinnahme.

Meine Eltern und auch Großeltern waren froh, dass er seine Geschäfte nicht in unserem Heimatort, wir leben in einer Kleinstadt, tätigte. Er trieb sein Unwesen in der nächst gelegenen Großstadt. In einer Großstadt ist man anonym.

Onkel Otto war ungeheuer einfallsreich. Zur Weihnachtszeit sah er es als seine Aufgabe an, bei den Pfarrern der großen Konfessionen vorstellig zu werden. Seine Geschichte war dann etwas anders. Und zwar, behielt er den Krieg, Krieg kommt immer gut, aber seine Familie mit den sechs Kindern, tatsächlich waren es nur zwei, hatte weder zu essen noch gab es irgendwelche Geschenke. Wie immer wurde getupft, geschnäuzt, gewischt. So kam Otto an ein ansehnliches Weihnachtsgeld.

Später, viel später erfuhren wir weshalb Otto wirklich bei uns wohnte. Es nicht so, dass er kein Haus hatte, er hatte tatsächlich ein eigenes Haus. Die Betonung liegt allerdings auf hatte. Gut es war Krieg gewesen. Otto erzählte immer gerne, dass sein Haus an den Folgen des Krieges kaputt gegangen sei. Was in gewisser Weise stimmte.

Es war auch nicht so das wir Kinder die Wahrheit erfuhren, wir haben nur gelauscht. Mit großen Ohren und Augen haben wir damals auf der Treppe zur ersten Etage gesessen, mucksmäuschenstill.

Tante Lydia kam zu Besuch, die Frau von Otto, oder ehemalige Frau, egal wie, die wusste Bescheid. Sie saßen im Wohnzimmer meiner Eltern. „Otto, leidet sehr. Ich denke er verkraftet die Trennung von dir nicht“, hörten wir unsere Mutter sagen.
„Nein, Nein das glaube ich nicht!“, erwiderte Tante Lydia. Die Kaffeetasse klapperte auf dem Unterteller.
„Er war doch im Krieg! Vielleicht muss man ein wenig mehr Geduld mit ihm haben“, räumte unsere Mutter wieder ein.
„Nein! Ja er war im Krieg, aber nur in einem Büro in Berlin!“, gab Tante Lydia an. Wieder hörten wir das Geschirr klirren.
„Ich dachte er wäre an der Front in Russland gewesen?“, vernahmen wir unseren Vater.
„Wo denkst du hin, Friedrich! Otto war nur im Büro in Berlin. Nebenbei machte er gute Geschäfte. Wir hatten eine Villa in Potsdam! Jetzt wohnen die Kinder und ich in einer Sozialwohnung in Kiel!“, erklärte Lydia.
„Ihr wurdet also vertrieben, oder ausgebombt?“, fragte unser Vater.
„Ja, von Otto! Ich sagte doch er machte gute Geschäfte und ich bin eigentlich gekommen, weil ich etwas Geld brauche. Ich weiß, dass er genug davon hat! Er ist nicht arm!“, äußerte sich die Tante. Es klickte, vermutlich zündete sie sich eine Zigarette an.
„Was heißt ihr wurdet von Otto vertrieben?“, wollte unser Vater wissen.
„Nicht vertrieben, ausgebombt! Er hat in Altmetall gemacht“, erklärte Lydia.
„Na und! Das haben viele“, gab er ihr zu verstehen.
„Schon Friedrich, es war ja auch alles in Ordnung aber was zu viel ist, ist zu viel. Er hat altes Kriegsmaterial gefunden. Er wollte es verkaufen, das Metall. Nur er hatte keine Ahnung! Da hat er sich gedacht er könnte die Granaten einfach in unserem Kachelofen ausbrennen. Das hat einen ordentlichen Rums gegeben! Olga unsere Älteste saß mit samt der Badewanne auf der Straße! Die Fassade der Villa war weg! Da habe ich mir gedacht, Otto muss weg! Schluss aus!“, erzählte Tante Lydia.
„Ich dachte eure Villa hätte einen Kriegsschaden?“, schaltete sich unsere Mutter ein.
„Wenn du so willst, ohne Krieg keine Granaten!“, sagte sie.
„Aber Otto hat kein Geld. Du solltest mal sehen wie er rum läuft“, versuchte unser Vater ihr beizubringen.
„Friedrich, hast du mal überlegt wo er abends hin geht?“
„Nein, Tante Lydia habe ich nicht. So oft geht er auch nicht weg“, tat unser Vater kund.
Das Stimmte. Ich selbst hatte ihn oft beobachtet, abends wenn ich auf der Fensterbank saß und auf Mutti wartete, zum guten Nacht sagen.

„Friedrich!“, begann die Tante wieder und fuhr fort, „er reitet auf der Mitleidstour. Er heult wo er nur kann. Das ist seine Masche. Er verdient damit wirklich gutes Geld. Otto gibt aber niemandem etwas ab. Ich musste immer sparen. Unsere Kinder hatten niemals neue Kleidung. Er weckt das Geld in Gläsern ein und dann vergräbt er es! Er sagt niemandem wo. Er will nicht das wir etwas davon abbekommen! Und jetzt bin ich hier und ich werde zu ihm gehen und werde verlangen, dass er mir Geld gibt.“

Plötzlich herrschte Schweigen. Wir Kinder wussten, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war um die Örtlichkeit zu wechseln. Mein Bruder schlich zur Aussentür öffnete sie kurz und knallte diese dann ordentlich ins Schloss und rief nach unserer Mutter, während meine Schwester und ich in der Küche eine Tasse fallen ließen und uns gegenseitig anschrien.
Wir waren gut erzogen, wir lauschten nicht!
Unsere Mutter kam herbei geeilt und Tante Lydia stapfte nach oben in die Mansarde.

Meine Mutter war eine gute Köchin, wir hatten eine Haushaltshilfe die auch dieses Handwerk verstand, beide waren sehr Ernährungsbewusst. Wir wurden vernünftig ernährt, gesund, Übergewicht kannten wir nicht.
Onkel Otto sah das anders. Er fand das Essen meiner Mutter schlecht, was er auch ganz gerade heraus sagte. Überdies war er der Meinung sie würde dafür viel zu viel Geld ausgeben.
„Schlecht Essen kann man billiger“, sagte Otto als er mal wieder sein Tablett nach unten brachte.
„Dann musst du für dich selber sorgen“, antwortete mein Vater, „denn uns schmeckt es so!“
„Kein Problem“, meinte Otto, „ich habe genügend Quellen bei denen ich Lebensmittel zum guten Preis beziehen kann! Alles im Großen natürlich!“
Auf diese Art bekamen wir ihn noch viel weniger zu Gesicht als vorher. Eine zeitlang sah man ihn, wie er etwas ins Haus schleppte. Dann war Ruhe.
In gewisser Hinsicht war es Unheimlich, dann sah man ihn wieder wie er etwas aus dem Haus trug. Dann war wieder Ruhe.
Meine Eltern kümmerten sich nicht mehr um ihn, meine Großeltern erst recht nicht.
Er ist halt sonderbar hieß es immer.

Eines Tages stand die Polizei vor der Tür, Otto war gestorben, man hatte ihn nachts auf der Straße gefunden. Er litt offensichtlich unter Schmerzen. Sie brachten ihn ins Krankenhaus, allerding war es für Otto zu spät. Bei einer Obduktion stellte man fest, dass er an einer Lebensmittelvergiftung gestorben sei.

Wir Kinder mussten, als die Mansarde geräumt wurde und der Kammerjäger kam, in unseren Zimmern bleiben. Er hatte nicht viel Geld hinterlassen, dafür jede Menge fauliger Lebensmittel, Altkleider, für Damen, für Herren und für Kinder, Care Pakete und Windeln. Die Beerdigung wurde von unseren Eltern bezahlt.

Vier Jahre später fand man beim Bau einer Umgehungsstraße, fünfundzwanzig Einweckgläser, nicht mit Obst oder Gemüse, nein mit Geldscheinen. Jedes Glas war ordentlich gefüllt mit fünftausend Deutsche Mark.
Niemand konnte nachweisen wem der Fund gehörte oder wer ihn vergraben hatte.
Mein Vater hatte es eine Zeit lang versucht, nicht für uns sondern für Ottos Kinder. Leider war es nicht möglich einen entsprechenden Nachweis zu erbringen.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass Onkel Otto von oben auf uns alle herunter sah, nur um uns eine lange Nase zu zeigen.


© IDee


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So richtig kann ich mich eigentlich nicht mehr an ihn erinnern, ich war auch noch zu jung....

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