„Heute, heute wird alles anders“, dachte Lea als sie auf dem Weg ins Bad einen Blick in den großen Spiegel im Flur warf. „Heute wird alles besser, heute schreiben wir Mathe. Die anderen werden in Pause zu mir kommen: Lea erklär mir noch schnell, Lea hilf mir doch bitte. Ja, heute!“ Noch einmal wiederholte sie ihre Beschwörungsformel: „Heute wird alles anders, ab heute wird alles besser!“
Sie duschte und ging zurück in ihr Zimmer, um sich etwas zum Anziehen aus dem Schrank zu suchen. Das rote Top und der Jeansrock wären genau das richtige für heute. Dazu vielleicht noch die Kette mit den Glasperlen, einwenig Lippenstift, fertig. Sie betrachtete sich im Spiegel: Eigentlich konnte sie ganz zufrieden sein: Sie war ziemlich groß und schlank, hatte dunkle Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen und sich ein ganz klein wenig kräuselten, wenn sie nass wurden. Ihre Augen waren groß und dunkel und sie hatte eine Stupsnase, die sie immer etwas vorwitzig erscheinen ließ.
„Oh, Mist schon so spät!“ In der Küche trank sie schnell einen Schluck Kakao, schnappte sich ihre Tasche und rannte aus dem Haus. Ihre Mutter konnte ihr gerade noch ein Brötchen in die Hand drücken.
„Kind, Kind, Kind, steh doch einfach früher auf, immer diese Hektik am Morgen!“ schimpfte die Mutter, aber Lea war schon aus dem Haus.

Im Schulbus traf sie ihre Freundin Silke.
„Hast du…“ für Mathe gelernt – wollte sie fragen, aber soweit kam sie nicht.
„Ja hab ich, war einfach toll nicht wahr. Ich fand die Babsi ja am besten. Die war so süß und diese Klamotten…“ Silke plapperte einfach darauf los. Zuerst wusste Lea überhaupt nicht wovon ihre Freundin sprach, doch dann fiel ihr ein, dass es gestern im Fernsehn wieder diese Sendung gegeben hatte: „ SSG – Superstar gesucht“ oder so ähnlich, war ja auch egal. Für so einen Quatsch hatte sie sich noch nie interessiert.
Silke hatte sich zu Tina und Marie gesetzt und unterhielt sich mit den beiden über die Sendung.
„Typisch Silke“, dachte Lea als sie aus dem Bus stiegen. Missmutig trottete sie hinter den anderen her.
In der Klasse setzte sie sich auf ihren Platz ganz hinten am Fenster und starrte hinaus.
Sie hatten jetzt 2 Stunden Deutsch bei Frau Niemann.
„Niemand“ nannten sie die anderen, weil die Lehrerin immer einen grauen Rock (im Winter aus Flanell und im Sommer war es ein Jeansrock, aber immer grau) und weite Pullover trug.
Lea lachte nicht mit, wenn die anderen ihre Späße darüber machten.
„Wenn es ihr doch gefällt“, sagte sie dann, aber wie immer hörte keiner auf sie.
Lea überlegte: 2 Stunden Deutsch, dann Pause und dann die Mathearbeit. In der Pause kamen die anderen ganz sicher zu ihr, die hatten bestimmt nicht richtig gelernt und brauchten jetzt noch ihre Hilfe!
Leas Laune besserte sich ein wenig. Sie konnte es kaum erwarten, bis es zur großen Pause läutet. Betont langsam verließ sie als letzte die Klasse. Auf dem Schulhof standen ihre Klassenkameraden in Gruppen zusammen.
Lea schlenderte scheinbar gelangweilt herum. Komisch, es war kein Wort über Mathe zu hören. Die Jungen unterhielten sich über ein Fußballländerspiel vom gestrigen Abend und die Mädchen natürlich über SSG.
Nur Paul stand allein in einer Ecke und spielte mit seinem Handy. Paul war fast so gut in Mathe wie sie selbst, der brauchte keine Hilfe und außerdem war er total langweilig. Er hatte dauernd sein Kopfhörer auf und spielte irgendwelche Monsterspiele auf dem Handy oder auf seinem Laptop. Wenn man ihn ansprach, sah es immer so aus als käme er gerade selbst aus dem Spiel. Mit dem konnte man nichts anfangen.
Lea ging zum Ende des Schulhofs. Sie setzte sich auf eine Bank, die etwas versteckt hinter einem Haselnussbusch stand. Hierher kam sie immer wenn sie traurig war.
Sie legte sich auf die Bank und sah in den strahlendblauen Himmel über ihr.
Eine kleine weiße Wolke zog langsam dahin. Lea wünschte sich dort oben zu sein.
Sie fühlte sich wie diese Wolke, ganz allein in all dem strahlenden Blau, ganz allein zwischen all den fröhlich lachenden Kindern auf dem Schulhof.
Sie träumte davon eine Wolke zu sein, die fort zog, weit, weit fort, andere Wolken traf und glücklich mit ihnen weiter zog.
So lag sie auf ihrer Bank und bemerkte nicht wie die Zeit verging.
Gerade läutete es zum Pausenende.
Seufzend stand sie auf und ging auf die Schule zu. Merkwürdig, warum roch es denn hier schon nach Mittagessen? Sie schüttelte den Kopf und ging in ihre Klasse.
„Wo warst du denn!“ fragte Silke. „Wieso hast du die Mathearbeit nicht mitgeschrieben, die war ganz schön schwer. Ich wollte dich in der Pause… Was ist denn mit dir los, du bist ja ganz blass, warst du bei den Sanis? Na dann, Mathe ist ja auch dein Ding, kannst sicher morgen nachschreiben!“
Silke setzte sich und ließ die verwirrte Lea einfach stehen.
Wieso nachschreiben, sie hatten doch jetzt Mathe.
Da betrat Herr Dierks, ihr Geschichtslehrer, den Klassenraum.
„Geschichte haben wir doch erst in der fünften“, dachte Lea. „War ich etwa 2 Stunden auf dem Schulhof ohne dass mich jemand vermisst hat, ohne dass mich jemand gesucht hat?“ Lea war entsetzt. Von den letzten beiden Schulstunden bekam sie nicht viel mit. Sie war wie in Trance.
„Abhauen!“ war ihr einziger Gedanke. „Einfach abhauen! Keiner mag mich, keiner vermisst mich, was soll ich noch hier?“
Wütend und traurig lief sie nach Hause. Sie nahm heute nicht den Bus, denn sie wollte niemanden sehen. Heute Morgen sah alles noch so toll aus und jetzt.
Als sie nach Hause kam war ihre Mutter schon zur Arbeit gefahren.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel:

< Musste schon los, kann spät werden, Toni hat angerufen, sie hat heute keine Zeit, du sollst zurückrufen wegen einem neuen Termin
Tschüs bis heute Abend
hab dich lieb Mama >

Toni, also auch kein Klavierunterricht. War auch gut so. Warum sollte sie Klavier lernen.
War doch sowieso alles für die Katz!
Lea ging in ihr Zimmer und zog sich eine Jeans und einen alten Pullover an.
„Fräulein Niemand!“ dachte sie und schaute in den Spiegel. „Heute wird alles besser, pah von wegen!“ Wütend streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und ging in die Küche.
Ihr Magen knurrte. Wenn ihre Mutter heute später kam, gab es wieder nichts Vernünftiges zu Essen. Heute ging aber auch alles schief.
Sie öffnete den Kühlschrank und nahm sich einen Jogurt heraus.
„Abgelaufen, so ein Mist! Mist, Mist, Mist!“ schrie sie wütend und knallte die Kühlschranktür zu. „Bleiben wieder nur Chips, nicht mal richtig einkaufen kann sie!“
Lea holte eine Chipstüte aus dem Schrank und warf sie auf den Tisch.
„Nicht mal richtig!“ sie überlegte:“ Einkaufen.. Essen machen.. aufräumen.. putzen.. waschen und bügeln.. und Arbeiten gehen, ziemlich viel für eine Person!“
Zum ersten Mal hatte sie ein wenig Mitleid mit ihrer Mutter.
„Vielleicht kann ich ja heute mal etwas kochen!“ Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
„Ja, das mach ich, mal sehn was noch im Kühlschrank ist!“
Sie fand Salat und alles was man für ein leckeres Nudelgericht braucht.
„Los geht’s!“ sagte sie und begann mit den Vorbereitungen für`s Essen.
Sie war gerade fertig, als die Haustür aufging.
„ Hallo Lea, es tut mir leid, dass es so spät geworden ist, das war wieder mal ein Tag!
Ich mach uns sofort etwas zu Essen, lass mich nur schnell… Lea, hier riecht es ja so gut!Hast du etwas vom Pizzadienst…?“
Leas Mutter kam in die Küche. Staunend blickte sie auf den liebevoll gedeckten Tisch und auf ihre Tochter, die geschäftig am Herd stand. „Jacke aus, Hände waschen und hinsetzen, ich gieß nur noch die Nudeln ab“, rief Lea und stellte den Salat auf den Tisch. „Den Abwasch machen wir nachher zusammen!“
Grinsend schob sie ihre Mutter aus der Tür.

Es wurde ein sehr schöner Abend.
Lea und ihre Mutter hatten schon lange nicht mehr so viel Zeit miteinander verbracht und soviel gelacht wie an diesem Tag.
Als Lea am nächsten Morgen aufwachte, war ihr erster Gedanke: Es ist alles anders!
Sie wusste nicht genau warum, aber irgendetwas hatte sich am gestrigen Tag verändert,
irgendetwas hatte SIE verändert!
Es war noch dunkel draußen, als sie aufstand und ins Bad ging.
„T-Shirt, Top, Pulli, egal!“ dachte sie und zog den Pulli und die Jeans von Vortag an. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie gestern keine Hausaufgaben gemacht hatte. Zum Glück hatten sie nicht viel auf und so war sie schnell fertig. Schule war also o.k., Mathearbeit, kein Problem. Frühstück, eigentlich könnte sie jetzt Frühstück machen. Es war ja noch sehr früh und ihre Mutter schlief noch.
Leise schlich sie in die Küche. Im Flur blieb sie vor dem Spiegel stehen.
„Heute wird alles….!“Mitten in ihrer morgendlichen Beschwörungsformel hielt sie inne. „Heute IST alles besser!“ rief sie lachend, ja sie lachte ihrem Spiegelbild zu!
Zum ersten Mal stand sie nicht grimmig und angestrengt vor dem Spiegel. Zum ersten Mal lachte sie ihr Spiegelbild an und ihr Spiegelbild lachte zurück!
Egal, was die anderen denken, egal ob sie mich beachten. Es ist mir nicht mehr wichtig.
Ich habe gestern etwas Neues ausprobiert und es ist mir ganz gut gelungen, na ja, zumindest war das Essen genießbar. Aber vor allem hat es Spaß gemacht! Heute Nachmittag werde ich mein Zimmer aufräumen und einkaufen gehen. Vielleicht ist Mama dann wieder so gut drauf wie gestern Abend. Ich werde ihr jetzt immer helfen. Und dann suche ich mir ein Hobby, vielleicht gehe ich mal zum Handball, ich glaube, das wäre nicht schlecht!

Silke saß schon im Bus als Lea einstieg.
„Wie siehst du denn aus!“ rief die Freundin entsetzt. „Wo hast du denn den alten Pullover her, der sieht ja schrecklich aus, ach übrigens…“
„Ist doch egal!“ fiel Lea ihr ins Wort. „Das ist mein Lieblingspullover, den ziehe ich jetzt auch in die Schule an!“
„ Das ist doch nicht dein Ernst! Was sollen denn die anderen von dir denken!“ So fassungslos hatte Lea Silke noch nie erlebt, nicht mal als sie im Biounterricht einen Frosch sezieren mussten.
„Was sollen sie schon denken!“ Lea sah ihre Freundin an. „Wer nicht mal merkt, das ich 2 Stunden fehle, der merkt auch nicht was ich anhabe. Und wenn sie`s doch bemerken und sich die Mäuler über mich zerreißen, ist mir das auch egal. Sollen sie mich doch „Fräulein Niemand“ nennen!“
Lea war erstaunt über ihren Mut. Sie hatte sich noch nie getraut ihrer Freundin ins Wort zu fallen. Immer war es Silke gewesen, die Lea unterbrochen hatte und Lea hatte sich nie gewehrt. Sie war immer froh gewesen Silkes Freundin zu sein.
Die Freundin der tollen Silke, die überall beliebt war, die immer und zu allem etwas zu sagen hatte und immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, überall Stimmung machen konnte und sich nie unterkriegen ließ.
Silke, die das hatte, was Lea nie gehabt hat: Selbstvertrauen!


© Sigrid Hartmann


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Kommentare zu "Heute wird alles anders"

Re: Heute wird alles anders

Autor: Siegfried Makeba   Datum: 29.12.2012 7:49 Uhr

Kommentar: Hallo sissy,

eine schöne Geschichte über das Selbstvertrauen.

Liebe Grüße. Siegfried.

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