Freitag. Endlich Wochenende. Fortgehen, entspannen und sonntags ausschlafen.
Jeder normale Mensch würde sich darüber freuen. Nur nicht Hannah, denn für sie sind Wochenenden oft unerträglich. Nicht, dass sie nicht genug zu tun hätte. Ganz im Gegenteil, für die Schule ist viel zu tun. Hannah weiß, dass es wichtig wäre zu lernen, denn ihr Noten werden schlechter. Die Ungewissheit, wie ihre Chefin auf ihren derzeitigen Notenstand reagiert macht ihr Angst.
Doch anstatt sich aufzuraffen, vergräbt sie ihr Gesicht wieder in das Kissen. Hannah ist müde, obwohl sie genug Schlaf hatte. Sie will nicht aufstehen. Sie will generell garnichts und darüber reden schon gar nicht. "Hör auf mit dem Selbstmitleid", denkt Hannah sich. Doch es fühlt sich nicht nach Selbstmitleid an. Sie fühlt sich Leer und schwer wie ein Stein. Ihre Gedanken kreisen, doch sie kann nicht genau sagen worüber.
Hannah ärgert sich, darüber dass sie nichts auf die Reihe bekommt. Weder in der Schule, noch auf der Arbeit. Nicht mal ihr Zimmer kann sie richtig in Ordnung halten. Wie oft hat ihre Mutter sie heute schon erinnert ihr Zimmer aufzuräumen? Einmal? Oder öfter? Sie weiß es nicht mehr.
Hannah beginnt zu weinen. Sie hasst es zu weinen, denn dann fühlt sie sich schwach und angreifbar. Hannah spürt, wie sich der altbekannte Druck wieder aufbaut. Sie nimmt ihr Telefon und wählt die meist gewählte Nummer. Doch bevor sie anruft, schaltet sie es aus. Sie weiß, es würde ihr gut tun mit ihrer Freundin zu sprechen, aber sie möchte sich nicht erklären, warum sie sich verletzen möchte.
Unter Spannung sieht sie sich ihre alten Narben an, wobei einige nur wenige Tage alt sind. Sie sind so häßlich.
Immer wenn jemand gefragt hat, wo Hannah sich verletzt hat sagte sie, dass es nur ihr linker Unterarm ist, an dem sie ihren Schmerz anschaulich gemacht hat. Doch es war gelogen. An den Oberarmen, beiden Unterarmen, manchmal an den Beinen, an den Brüsten, sogar im Intimbereich hat Hannah sich verletzt. Sie empfindet Schuld und Scham wenn sie daran denkt. Doch sie weiß, warum sie angefangen hat sich zu verunstalten. Es war ihre Absicht, dass kein Mann der Welt sie mehr schön oder gar attraktiv findet.
Hannah kann sich erinnern, wie es war, bevor sie diese lästigen Essattacken hatte und die Hoffnung es gleich wieder erbrechen zu können. Aber es hat nie funktioniert.
Hannah würde nie behaupten, dass sie sich hasst, doch mögen tut sie sich auch nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum sie vor kurzem einige ihrer Kinderfotos verbrannt hat. Besonders jene, an denen er mit ihr abgebildet war. Hannah hasst ihn so sehr, dass er ihr leid tut. Er trägt die Schuld an dem dunklen Kapitel in Hannah´s Leben, welches sie nicht beenden kann. Sie würde am liebsten das Buch schließen, es ins Regal stellen und verstauben lassen. Doch die Erinnerung holt sie immer wieder ein.
Manchmal fühlt Hannah noch den Schmerz, als er in sie eindrung, obwohl sie in diesem Moment niemand berührte.
Sie hat nie verstanden, warum er sie so sehr hasste, sie war doch noch ein Kind.
Ein Kind, welches nicht wusste was er da tut. Es tat weh, aber vielleicht musste es weh tun? "Die Erwachsenen machen das gerne", erklärte er immer sein Handeln.
Erst viel zu spät hat sie in einem Buch darüber gelesen und wusste, dass es nicht in Ordnung ist was er mit ihr macht. Doch aus Angst ließ sie es geschehen.

Ihre Gedanken bringen Hannah aus dem Gleichgewicht. Das ist zu viel für sie, sie ist sich selbst zu viel. Hysterisch sucht sie nach einem geeigneten Gegenstand und tut es wieder. Sie wollte es nicht. Hannah sieht zu, wie sich ihr Blut den Weg über ihr Hand, zu den Fingerspitzen bis hin zu ihrer Bettdecke sucht. Das Ziel wurde erreicht. Die Bilder, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten, waren weg. Doch mit den Folgen ihres angeblichen Lösungsweges hat sie zu kämpfen.

~T.


© Copyright by MrsMara


4 Lesern gefällt dieser Text.


Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Hannah´s Erinnerung"

Gedanken sind nicht steuerbar, sie kommen und gehen und bringen Menschen dazu, sich zu verlieren.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Hannah´s Erinnerung"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Hannah´s Erinnerung"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.