Die alte Dame

Es war Herbst geworden, am Morgen lag der erste Nebel über den Dächern der Häuser und die Schornsteine gaben vereinzelnd ihren weißen Dampf dazu. Heute war es im Auto schon kühl, die Scheiben von innen leicht beschlagen. Als meine Frau eingestiegen war, fuhr ich los, denn sie musste zu der alten Dame, die sie privat den ganzen Tag betreute. Ich ging wie an jedem Tag mit in das Haus und begrüßte Frau L., die schon aufgestanden war und in ihrem Schaukelstuhl saß, mit Blick auf den Wintergarten. Sie war schon 88 Jahre alt, grüßte immer freundlich beim Erscheinen. Sie war eine von den Frauen, denen man im Alter noch die Schönheit ihrer Jugend ansah. Ihre Intelligenz , die sie bis heute nicht verlassen hatte, verbarg sich hinter den gradlinigen Stirnfalten, im Ausdruck von stets noch Fragen zu stellen, mit einer gewissen Neugier zog sie die Augenbrauen dabei leicht an.
Von der Haustür an zogen sich die Bücherregale bis an die Decke, den ganzen Flur entlang. Wir unterhielten uns seit dem ersten Tag , über die Bücher, manche waren aus dem 18. Jahrhundert. Sie sprach über ihr Leben, ihren verstorbenen Mann, ohne das ich den Eindruck hatte hier fremd zu sein. Ihr Mann war Ingenieur und viel im Ausland beschäftigt gewesen, nachdem die Kinder groß waren reiste sie mit. Ägypten(Kairo) war ihr längster Aufenthalt, ihr Mann baute dort die Kanalisation mit auf. Sie war gern dort, sie bewohnten ein großes Haus mit einem Innenhof, der die Hitze des Tages kühlte. Wir unterhielten uns an diesem Tag anregend und es war für mich schön, soviel aus ihrem interessanten Leben zu erfahren. Sie war eine sehr nette, und liebenswürdige alte Dame.
Als ich am Abend meine Frau abholen wollte, wunderte ich mich, denn sie stand vor der Haustür und winkte mir schon von weitem zu, ich soll mich beeilen. Als ich die Wagentür zuschlug, rief meine Frau: "Komm schnell, Frau L. liegt im Sterben!" Mit ein paar Schritten war ich am Haus, durch den Flur hindurch und betrat das Wohnzimmer. Die alte Dame saß wie immer im Schaukelstuhl, nur diesmal hatte ihr Gesicht eine andere Farbe, sie wirkte sehr blass und abwesend.
Ich sagte: "Frau L. was machen sie denn? ", es kam so einfach aus mir heraus. Ich zog einen Stuhl nahe an sie heran und setzte mich. Ich merke es, das sie gehen wollte, denn im Raum war ein Gefühl, welche sich in eine Atmosphäre aus wohl heimischer Stille und in Geborgenheit ausbreitete. Ich sah sie an und nahm ihre Hand und sagte: "Liebe Frau L. alles ist gut, alles ist friedvoll und es ist wunderschön dort wo sie hingehen." Es dauerte nicht lange und mir war als ob sie lächelte beim Hinübergehen. Der Raum war voller Frieden und Ruhe, nichts war beängstigend im Übergang vom Leben zum Tod. Nach einer Stunde kamen die Bestatter, meine Frau telefonierte mit den Verwandten und wir fuhren nach Hause.
Seit diesem Tag habe ich mir vorgenommen auch mit einem Lächeln fort zu gehen, um anzukommen.

© Karlo


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