Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

Wie lange er das schon machte, wusste keiner mehr. Seit sie ihn vom Dienst suspendiert hatten, war er jede Nacht auf diesem Bahnsteig aufgetaucht, um dem letzten Nachtzug hinterherzusehen. Es war sein Ritual, so wie bei fremden Völkern Tiere oder Menschen geopfert wurden, um die Götter milde zu stimmen. Ob das in diesen Tagen auch noch so war, interessierte ihn nicht. Sein Leben, seine Liebe, galt der Eisenbahn, ihr hatte er einst sein ganzes Dasein gewidmet, ohne Wenn und Aber. Damals, vor 23 Jahren vier Monaten und fünf Tagen, war er zum allersten Mal auf seine Lokomotive geklettert, seine Lok, seine große Liebe. Unsicher und schüchtern, wie ein junger Galan, war er im Führerhaus mit den vielen Hebeln und Schaltern gestanden und fragte sich: „Werde ich es schaffen? Werde ich immer alles richtig machen?“ Die Verantwortung wog schwer auf seinen jungen Schultern. Es war aber keine Angst dabei, mehr Respekt, der ihn achtsam und zärtlich hantieren ließ. Mona Lisa, taufte er seine rot weiße E-Lok, der Baureihe 1046, weil sie, so schien es ihm jedenfalls, immer geheimnisvoll lächelte, wenn er zur Arbeit erschien. Die Ausbildung zum Lokführer war nicht einfach gewesen und oft wurden ihnen Bilder von schweren Zugsunglücken gezeigt, um ihre Aufmerksamkeit bei der Arbeit zu schärfen. Je nach Bauart der Lok und Anzahl der Waggons, konnte rasch ein Gesamtgewicht von über 100 Tonnen erreicht werden, hatten die Ausbilder damals mehr als einmal vermittelt. Und dass ein voll beladener Zug einen extrem langen Bremsweg hat, wurde ihnen regelrecht eingetrichtert, als ob sie das nicht selbst gewusst hätten. Ein kühler Wind strich über ein müdes, zerfurchtes Gesicht und trieb den Rauch einer Zigarette in zwei leere Augen.

„Bist du das, Kurt?“ Der Fahrdienstleiter schlenderte auf den Mann im grauen Trenchcoat zu, der mit tief ins Gesicht gezogenem Hut am Bahnsteig stand und rauchte.

„Wer sonst, glaubst du, steht um diese Uhrzeit auf diesem Bahnsteig.“ Es hörte sich wie ein Knurren an.

„Wirst du es nicht leid, jeden Tag, bei jedem Wetter, am Bahnsteig zu stehen und der 1046 nachzusehen, dieser alten Mühle. Das bringt doch nichts, Kurt.“

„Sprich nicht in diesem Ton von ihr!“ Jetzt klang es wie ein Fauchen.

„Ist ja gut, entschuldige. Komm mit, ich spendiere dir ein Bier.“

„Danke, ich trinke nicht ... schon lange nicht mehr“, drang es gebrochen durch eine Rauchwolke.

„Oh, tut mir leid, ich vergaß“ sagte der Fahrdienstleiter verlegen und nestelte an seiner Mütze herum. „Ich muss die Zwölfer Weiche jetzt stellen, wenn du Lust hast, kannst du ja später noch im Dienstzimmer vorbeischauen. Wir trinken einen Tee und quatschen ein wenig.“

„Vielleicht.“

„Ist gut.“

Der Mann in Uniform entfernte sich mit raschem Schritt, verfolgt von einem wehmütigen Blick. Der Fahrdienstleiter hatte ja Recht, mit dem was er meinte. Die Wunden würden nicht heilen, auch wenn er bis ans Ende seiner Tage hierherkommt, um sich zu entschuldigen. Wie viel war eigentlich noch übrig von seiner Mona Lisa? Wie viele Teile waren ersetzt worden? Eine Träne kullerte über Kurt Försters Wange. Unzählige dieser feuchten Dinger, die einen 48-jährigen zu einem traurigen Kind verkommen lassen, waren in den letzten drei Jahren geflossen. Begleitet von Fragen und Selbstvorwürfen: Warum habe ich mich betrunken ins Führerhaus gestellt? War es Stolz? Falscher Ehrgeiz? Selbstüberschätzung? Nie würde er die Schreie der Menschen vergessen, die in jener regnerischen Nacht hinten in den Waggons um ihr Leben bangten. Jeden Tag verfolgten ihn die zahllosen blauen Lichter, der Funkenflug der Schneidbrenner, jeden Tag hörte er das Zischen und Fauchen in Mona Lisas Maschinenraum und jeden Tag sah er ihr Blut, das damals schwarz und zähflüssig aus ihrem Herzen quoll. Seine Verletzungen waren nur marginal gewesen. Prellungen, Hautabschürfungen, Schnittwunden. Ein Sprung nach hinten, in Mona Lisas schützenden Schoß, hatte ihm das Leben gerettet, als diese Kurve auf sie zugerast kam. Vierzehn Menschen hatten dieses Glück nicht gehabt. Die Gesichter der Toten raubten ihm seither den Schlaf und trieben ihn jede Nacht auf diesen Bahnsteig, um zu büßen.

Förster warf seine brennende Kippe auf den Bahnsteig, trat sie aus und kickte sie zwischen die Geleise. Er schlug den Mantelkragen hoch und verließ langsamen Schrittes den Bahnhof. Ohne einen Tee zu trinken, ohne genug gebüßt zu haben und ohne Hoffnung auf Vergebung. Morgen würde er wieder am Bahnsteig 3 stehen und seiner Mona Lisa nachsehen, wie sie beinahe geräuschlos aus der Halle gleitet. Und ihre roten Schlusslichter werden wieder in der langgezogenen Kurve vor dem Bahnhof verschwinden. So wie in dieser Nacht, so wie die vielen Nächte zuvor ... Kurt Förster würde sein Ritual weiter zelebrieren, ohne zu erwarten, die Götter, die Toten, oder Mona Lisa damit milde zu stimmen.


© Alfred Stadlmann


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Beschreibung des Autors zu "Der Nachtzug war sein Schicksal"

War eine Aufgabe zu meinem Belletristik-Studium.

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