Das Geheimnis der Thermosflasche


Es war ein kalter Wintertag. Der Schnee lag schon seit Wochen kniehoch. Die Schulen im Städtchen waren schon mehrere Tage geschlossen. Es fehlte den Schulen das nötige Heizmaterial. Kohle und Holz waren eine Rarität.
Den Kindern war es recht, denn sie hatten viel Zeit, den Winter auszuleben.
Sie mussten allerdings jeden Tag zur Schule, um sich die Schulaufgaben abzuholen.
In der Pestalozzi-Schule stand eine große, schwarze Schiefertafel mitten im Flur.
Auf dieser Tafel standen mit Kreide geschrieben die Hausaufgaben für den darauf folgenden Tag. Die Hausarbeitshefte wurden durch den Klassenlehrer alle vierzehn Tage eingezogen.
Die Eltern und Schüler hatten sich schon lange an diesen Zustand gewöhnt.
Es war ein kalter Freitagnachmittag, die Kinder der Mühlgrabenstraße spielten Eishockey. Als Puck diente ein kreisrundes Holzscheit. Die Schläger der Kinder waren die Geh- und Wanderstöcke ihrer Väter. Die Väter waren entweder in Kriegsgefangenschaft oder sie galten als „vermisst.“
Es war immer die gleiche Kinderschar, die zusammen spielte.
Zu ihr gehörten Klaus, Georg, Heinz, Gerd, Willi und Hans-Peter, sowie die Mädchen Susi, Ingrid und Elfriede. Der Anführer dieser Gruppe war Gerd Klauer.
Der dicke Willi hatte eine Joppe von seinem Großvater an, die ihm aber zu groß war.
Er war klein von Gestalt und mit der Joppe glich er einem „Kugelblitz.“ Georg und Gerd hatten sich einen Schal über ihren Mund gebunden. Die drei Mädchen saßen zusammen gekauert in der überdachten Toreinfahrt vom Holzhandel Becker.
Susi und Ingrid hatten ihre Hände in einen schwarzen Muff gesteckt. Sie sahen dem Treiben der Jungs zu. Die Jungs spielten schon eine Weile, und ihr Atem stieg in kleinen Dampfwolken nach oben.
Plötzlich und ganz unerwartet tauchte Herr Schmidt, der Vater von Klaus, auf. Er rief seinen Sohn, und die Kinder folgten Klaus. Unbeholfen und zitterig knotete Vater Schmidt seinen Rucksack auf. Aus dem Rucksack holte er eine „Husarenthermosflasche“ heraus.
Diese Husarenthermosflasche unterschied sich zu normalen Thermosflaschen gewaltig. Sie hatte eine olivgrüne Metallummantelung und besaß oben an der Öffnung einen Blechüberwurf. Mit diesem Überwurf konnte man sie am Koppel oder am Feldranzen befestigen. Sie fasste einen Liter und wurde für die „ Roten Husaren“ produziert. Sie gehörte zur Frontausrüstung der Husaren.
Ihre Produktion begann noch vor dem ersten Weltkrieg.
Vater Schmidt öffnete die Thermosflasche und alle schauten in dieselbige, doch außer Wasser war nichts zu erkennen. Da die Kinder nichts sagten schloss Schmidt wortlos die Thermoskanne, und ging von dannen. Der dicke Willi sagte: „ Klaus,
dein Vater wollte uns nur verscheißern,“ und die Anderen nickten gleichzeitig.
Die Kinder setzten ihr Eishockeyspiel danach fort.
Es war schon draußen dunkel als Klaus die elterliche Wohnung betrat. Nachdem
Klaus die Schuhe ausgezogen hatte stürmte er in die Wohnküche. Auf dem Küchentisch stand Vaters Thermoskanne. Der Deckel lag neben ihr und in ihr war kein Inhalt. Ehe Klaus etwas sagen konnte, sagte Mutter Schmidt verärgert: „ Wenn dein Vater dir mal etwas mitbringt schaust dir es richtig an oder du kommst nach oben.“ Die Wohnung von Schmidts lag nämlich im 2. Stock.

Klaus fragte seine Mutter, was in der Thermosflasche gewesen sei, jedoch sie
Antwortete ihm nicht. Er stürmte ins Wohnzimmer, dabei stolperte Klaus über Prinz,
den Mittelschnauzer. Prinz verkroch sich ohne zu Jaulen unter die Flurgarderobe.
Im Wohnzimmer war nur die Katze Minka, die wie immer vor dem Aquarium saß.
Der Junge konnte nichts in der elterlichen Wohnung entdecken. Klaus sprang im Hausflur die Treppenstufen herunter und eilte in den Hof. Dort war sein Vater dabei alte Holzstiegen zu zerschlagen. Schmidt machte eine Pause und sagte zu seinem Sohn: „ Ich habe dir für dein Aquarium noch einige Fische mitgebracht.“ Nun war das Geheimnis der Thermosflasche gelüftet, denn wenn man von oben in die Thermosflasche sah, konnte man aufgrund der schmalen Rücken der Fische nichts erkennen.
Klaus umarmte seinen Vater in Dankbarkeit. Einige Freudentränen kullerten über seine Wangen.
Vater Schmidt hatte seinem Sohn zwei Pärchen Guppys, sowie ein Pärchen Berliner Schwertträger mit gebracht. Fische also, die ihre Jungen lebend gebärend zur Welt bringen. Das war auch der Grund, dass die Katze Minka ausdauernd und spähend vor dem Aquarium im Wohnzimmer saß.
In der Nacht hatte Klaus einen gruseligen, seltsamen Traum. Aus der Thermosflasche seines Vaters krochen viele schwarze Molche. Sie krallten sich an der Bettdecke fest und bevölkerten das Schlafzimmer. Es wurden immer mehr und Klaus war nicht imstande aufzustehen. Überall, wo die Molche entlang krochen, waren klebrige Spuren zu sehen.
Auf einmal ein heftiger Schlag und Klaus sprang in seinem Bett in die Höhe. Er war schlagartig wach. Nirgendwo im Schlafzimmer waren Molche zu sehen. Es stellte sich heraus, dass die Katze Minka der Übeltäter war. Sie war aufs Bett gesprungen und wollte mit Klaus gemeinsam schlafen.
Am nächsten Tag wollte Klaus seiner Mutter seinen Traum erzählen, doch er wich von diesem Vorsatz ab. Er dachte, es ist doch vielleicht besser, wenn ich es ihr nicht erzähle, ich weis ja nicht ,wie sie reagiert.
Nach einigen Wochen hatte Klaus junge Guppys und junge Schwertträger. Er nahm die kleinen Fische in einem Marmeladenglas zur Schule mit. Klaus tauschte sie gegen Pausenbrötchen ein. Schüler, die mehr als drei Geschwister hatten, bekamen in der großen Schulpause ein Roggenbrötchen vom Land Thüringen.
Klaus als Einzelkind kam nie in diesen Genuss…


© Jürgen


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