Spez. Sek 2011/2012
Da war ich. Mit 13 Jahren kam ich in eine neue Klasse. Ich hatte mich den ganzen Sommer darauf gefreut, endlich von der langweiligen Gesamtschule wegzukommen. Empfohlen wurde ich, nicht nur für die Sekundarschule, sogar in die Spez. Sek hatte ich es geschafft. Ich war Stolz auf mich und so stand ich da, umgeben von jungen Menschen die ich nicht kannte. Aber es war nicht so wie ich es mir ausgemalt hatte. Ich war alleine.
In den nächsten Wochen machte ich mir Freunde in meiner neuen Klasse. Jedoch fielen meine Noten in dieser Zeit in den Keller und ich kam mir das erste mal in meinem Leben richtig dumm vor. Nicht durchschnittlich, oder vielleicht ein bisschen langsam, nein, richtig dumm! In dieser Zeit begann ich auch meine langjährigen Freunde aus dem Dorf aus den Augen zu verlieren. Meine damalige beste Freundin fand neue Freunde und ich war traurig und eifersüchtig, was ich ihr aber niemals sagte. Innerhalb eines Jahres hatte ich einen kleinen Freundeskreis aus drei Mädchen und zwei Jungs, die ich sehr mochte. Ich hatte damals das Gefühl, sie wären meine besten Freunde, was sie vielleicht auch waren. Ein Jahr verging und meine Selbstzweifel begannen zu wachsen und erstickten meine Selbstsicherheit. Ich begann meinen Körper zu kritisieren, so wie es eine meiner Freundinnen tat. Sie war gross und schlank und kritisierte sich selbst. Ich konnte das nicht verstehen, denn in meinen Augen war sie perfekt. Ich veränderte mich und blickte anders auf mein Spiegelbild. Ich sah nicht mehr den kindlichen, athletischen Körper vor mir. Ich hatte aufgehört Sport zu treiben und war noch nicht wirklich gewachsen. Ich weiss noch genau wie ich auf dem Klassenfoto aussah und wie ich mich verabscheute. 1.60 gross und 63 kg schwer. Manchmal frage ich mich: Hätte ich damals nichts gegen meinen Körper getan, was wäre passiert? Wäre ich normal? Wäre ich gesund? Aber meine Geschichte verlief anders. Ich entschied mich, dass ich dünner werden wolle. Also ass ich nicht mehr zwischen den Hauptmahlzeiten und trank nur noch Wasser. Das funktionierte unglaublich gut und die Euphorie setzte ein, als die Zahl auf der Waage zu sinken begann. Unbewusst begann ich mich mehr und mehr abzukapseln.
Aber dann veränderte sich etwas. Irgendeinmal an einem Morgen, wägte ich aus Neugier mein Müsli ab. Ich war geschockt, als ich die Kalorien dafür ausrechnete und begann immer mehr mein Essen abzuwägen. Es gab mir Sicherheit, meine Mahlzeiten zu wägen, denn jetzt wusste ich genau, was ich zu mir nahm. Ich weiss nicht mehr wann genau meine Periode aussetzte, aber es muss um die Zeit herum gewesen sein. Mein Gewicht sank immer weiter und war schliesslich bei 50 kg angelangt. Es war ein tolles Gefühl, einfach alles anziehen zu können. Immer die Grösse S oder XS zu tragen. Viele Leute sprachen mich darauf an und jedes Mal wenn ich den Satz: „Hast du abgenommen?“ hörte, war ich glücklich. Es war mein Triumpf. Einmal an einem Sommerabend sprach mich meine Mutter auf mein Essverhalten an. Sie fragte mich, wieso ich plötzlich so anders ass und sagte mir, sie hätte das Gefühl, ich habe eine Essstörung. Sie machte sich schon damals Sorgen, ohne zu wissen, wie schlimm es einmal werden würde. Wir trafen eine Abmachung, dass ich nicht unter 50 kg Grenze gehen dürfe, welche ich aber schon in Kürze brach.
Diesen Sommer verbrachten wir eine Woche in Irland. Es war mein Geschenk zur Gymnasiums-Empfehlung, welche ich Ende achtes Schuljahr gerade so erhielt. Nach unserer Reise schickte mich meine Mutter erstmals zu einer Ernährungsberaterin. Den Rest der Sommerferien ging ich dorthin, mit dem Gedanken, sie würde mich aus meiner Essstörung herausholen. Heute weiss ich, dass das niemand für mich kann. Ich wollte damals gar nicht gesund werden. Ich blieb einfach bei meinem gezwungenen Essverhallten.

Quarta 2013
Und da war ich wieder. Neue Klasse, neue Schule. Meine alten Freunde hatte ich beiseite geschoben. Mit meinem früheren Vorbild hatte ich mich zerstritten, denn ich gab ihr die Schuld an meiner Krankheit. Beinahe Niemand wusste über mich bescheid. Nur meine Familie und meine früheren Freunde. Meine beste Freundin hatte geweint, als ich es ihr erzählte.
Im Gymnasium war ich plötzlich gut in der Schule. Das gab mir mehr Kontrolle, was mir mehr Macht über mich selbest verlieh. Zurückdenkend war das auch eines der Gefühle die mir so gut taten. Niemand konnte über meinen Körper bestimmen ausser ich. Ich alleine. Endlich kahm ich mir auch nicht mehr dumm vor. Jedoch hatte ich Angst davor, dass mich niemand mögen würde. In meinem ersten Semester war ich so ruhig und scheu wie nie zuvor. Auch die Magersucht umklammerte mich immer mehr. Langsam begann ich Freunde zu gewinnen, jedoch liess ich sie nicht an mich heran. Ich wurde immer leichter und meine Mutter machte sich immer mehr Sorgen. Ich weinte oft und wollte endlich dass es vorbei ging. Ich glaube ich war zu dieser Zeit depressiv. Ich sah nichts gutes mehr im Leben und manchmal wäre ich am liebsten nicht mehr da gewesen. Ein paarmal erwischte ich meine Mutter, wie sie spät in der Nacht in der Küche weinte. Ich wusste, dass ich unterbewusst durch meine Magersucht nach Aufmerksamkeit suchte aber das hatte ich nie gewollt. Im Herbst ging ich dann zur Überwachung, oder vielleicht auch zur Therapie, zu einer Kinderärztin. Ich hasste es und ich hasste sie, auch wenn ich wusste, dass sie mir helfen wollte. In der Schule hatte ich Angst vor allem. Schulsport war der Horror für mich und ich hatte hysterische Anfälle, bevor ich auf eine Tagesreise mit meiner Schulklasse musste. Ich schaffte es nicht meine Nahrungsmenge zu erhöhen und als wir nach Spanien in die Ferien flogen, erreichte mein Zustand seinen Tiefpunkt. Im Hotel gab es ein Buffet und es machte mich verrückt, dass ich mein Essen nicht mehr abwägen konnte. Ich trainierte jeden Tag exzessiv und ass extrem wenig. So ging das zwei Wochen und als ich wieder Zuhause war, wog ich noch 41.6 kg. Meine Mutter begann zu weinen und auch ich war geschockt. Doch ganz hinten in meinem Kopf war da eine Stimme, die zu mir sagte ich hätte es geschafft und ein Teil von mir war Stolz. Nach Spanien begann ich meine Tagesanzahl an Kalorien kontrolliert zu erhöhen. Ich rechnete mir jeden Tag 2400 Kalorien aus, welche ich aber wahrscheinlich trotzdem nicht erreichte, denn mein Gewicht ging ein wenig hoch und blieb dann so. Ich weiss noch genau wie ich eine Art Flaum im Gesicht hatte und wie mein Bein einschlief, wenn ich zu lange auf der Seite lag. Ausserdem fielen mir die Haare aus. Ich probierte mit der Zeit nicht mehr kontrolliert zu essen, doch es gelang mir nicht. Gegen Weihnachten begann etwas neues überhand von mir zu nehmen. Plötzlich begann ich zu essen. Anfangs waren es kleine Mengen, sowie ein Schokolandekäfer und zwei Scheiben Zopf. Doch es war zu viel für mich, es ging mir zu schnell. An solchen Tagen verkroch ich mich in meinem Bett und weinte. Ich schrieb panische Sms an meine Mutter, wie viel ich gegessen hatte, auch wenn das überhaupt nichts war. Ich hasste das Gefühl meines schweren Magens und wollte mich gar nicht bewegen. Mit der Zeit wurden meine Essanfälle immer grösser und ich konnte mich immer weniger kontrollieren. Ich wusste nicht woher der Impuls kam zu essen. Ich hatte zu dieser Zeit eine Freundin, welche auch an Magersucht leidete und ich war beinahe wütend auf mich, dass ich nicht wusste, wie ich es geschafft hatte. Doch die Essanfälle waren meine falschen Freunde. Es fühlte sich erst wahnsinnig gut an und dann kam das schlechte Gewissen. So nahm ich schnell zu und ich war extrem unglücklich darüber. Ich begann mehrere Diäten auszuprobieren und so schwankte mein Gewicht immer zwischen 65 und 57 Kilo. Doch nichts davon half mir. Ich kam nicht weiter auf meinem Weg.

Tertia 2014
Und hier bin ich jetzt. In der Tertia des Gymnasiums, mit einer Binge-eating Störung und ich hasse mich dafür. Im letzten Jahr habe ich endlich Freunde gefunden, die ich als meine besten Freunde bezeichnen darf. Ich bin nicht mehr alleine und auch meine Kindheitsfreunde, die wie Schwestern für mich sind, habe ich nicht verloren. Eigentlich wäre alles perfekt. Doch das ist nicht die Realität.
Ungefähr seit einem halben Jahr gehe ich jetzt zu einer Psychologin. Manchmal frage ich mich ob es mich weiter bringt. Aber ich weiss genau, dass ich jemanden brauche um zu reden, denn meine Mutter kann es sich nicht mehr anhören. Um mein Essverhalten geht es jetzt seit fast zwei Jahren. Als ich wieder angefangen habe zu essen, war das wie ein Geschenk für meine Mutter. Sie hat nicht gesehen, dass es mir genau so schlecht geht wie während meiner Magersucht. Sie war einfach nur froh, dass ich wieder zunahm. Ich glaube heute kann sie mich bis zu einem gewissen Grad verstehen, auch wenn ich manchmal nicht sicher bin, ob sie wirklich weiss, dass das für mich schlimmer ist, als die Magersucht es war. Ich verliere die Kontrolle und fühle mich schwach, dass ich dem Essen nachgegeben habe. Ich weiss, dass das nicht gute oder gesunde Gedanken sind, aber es sind nun einmal meine.
So schwer wie ich jetzt bin war ich nie zuvor. Jeden Tag bin ich wütend über meine Schwäche und hoffe wieder schlank zu sein. Ich will wieder in einen Laden gehen und Kleider anprobieren, die mir gefallen. Ich will dass sie mir stehen und ich mich endlich wieder schön fühlen kann. Ich will einen Freund haben, der mich attraktiv findet und ich will essen könne, ohne daran denken zu müssen. Ich stehe mir selber im Weg. Überall lese und höre ich: Du musst dich selber lieben. Und denke mir dabei wie lächerlich das klingt. Für mich ist das nämlich lächerlich. Ich kann es nicht, ich kann es einfach nicht. Es ist nicht so einfach wie es immer geschrieben wird. Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich nur Fett. Ich bin niemand besonderes, ich bin nicht besonders hübsch oder talentiert oder intelligent. Ich bin einfach nur ich und das ist nicht genug. Vielleicht helfen mir diese Zeilen, vielleicht auch nicht. Aber das ist meine Geschichte und irgendwann werde ich sie hinter mir lassen.

Sommer 2015
Ich hätte es nie geglaubt. In diesem Sommer hat sich für mich alles verändert. Man sagte mir immer: „Du musst dich selbst lieben.“, dieser kleine Satz hat mich wütend gemacht und ich bin fast verzweifelt daran. Ich konnte nicht glauben, dass ich mich einmal gern haben würde.
Wie ich es jetzt doch schaffte mich wieder zu lieben? Ich weiss es nicht. Mit Willensstärke dämmte ich meine Essattaken ein und verlor so ein bisschen Gewicht. Aber dass ich mich wieder wohler in meinem Körper fühle hat nicht alleine damit zu tun. Ich weiss jetzt wie unwichtig es ist perfekt zu sein. Denn was wirklich zählt ist nicht die Zahl auf der Waage oder meine Kleidergrösse. Was einen Menschen ausmacht ist seine Art, seine Ausstrahlung.
In diesem Sommer durfte ich eine junge Frau namens Kristina kennenlernen. Ich werde sie nie vergessen, weil sie mich unglaublich beeindruckt hat. Sie war nicht perfekt, aber wer ist das schon. Doch Kristina war unglaublich herzlich, hilfsbereit und für mich strahlte sie Glück aus. Immer wenn ich sie sah, lächelte sie mich an und ich musste auch lächeln, weil ich gar nicht anders konnte. Sie zeigte mir wie unglaublich schön ein Mensch durch seine Ausstrahlung sein kann.
Ich habe das Gefühl, dass ich diese 2 Jahre endlich hinter mir lassen kann. Meine Essattacken sind nicht weg, meine Unsicherheit ist nicht weg, aber es ist ok, weil das alles ein Teil von mir war, ist und immer sein wird.
Ich habe mir Gedanken gemacht, was ich anderen, die ändliches durchmachen sagen könnte. Ganz ehrlich? Jeder muss seinen Weg finden, denn jeder muss auf seine Art herausfinden, was wirklich zählt. Das ist nicht hilfreich, ich weiss. Aber ich kann sagen was meinen Weg erleichtert hat: Als ich meine Essattaken einzudämmen begann, begann ich schon von alleine Gewicht zu verlieren. Ich hatte immer Angst davor, dass ich nie mehr Schlank sein würde, dass ich die ganze Zeit Diäten machen müsse. Aber so ist es nicht. Ich esse ganz normal, gönne mir jeden Tag etwas Süsses und verliere Gewicht. Was auch eine grosse Rolle in meinem Leben spielt ist das Tanzen. Tanzen ist für mich etwas freies, unglaublich schönes. Ich tue es nicht um Sport zu machen oder Kalorien zu verbrennen. Ich tue es für mich. Meiner Meinung nach ist es extrem wichtig etwas zu finden, was einem Spass macht und einem vom Alltag befreit.
Ausserdem möchte ich allen sagen, die noch gegen eine Essstörung kämpfen: Gebt die Hoffnung niemals auf. Es wird vorbei gehen. Hört nicht auf zu kämpfen. Es wird immer Rückstösse geben und ihr werdet umfallen aber erhebt euch wieder, denn dadurch werdet ihr nur stärker und stärker werden.
Somit denke ich, sind wir am Ende dieser Geschichte angelangt. Wie ich diese Zeilen schreibe, kann ich es nicht glauben, was ich alles geschafft habe und ich bin unglaublich Stolz auf mich, meine Familie, meine Freunde, dass wir das durchgestanden haben. Und wenn meine Geschichte vielleicht irgendwann einmal jemandem helfen kann, dann würde mich das sehr glücklich machen.
Ich möchte meinen Eltern und meinen Freunden für ihre unermüdliche Unterstützung danken. Vor allem meiner Mutter, die abertausende Gespräche mit mir führte und mich immer und immer wieder aufmunterte. Meinem besten Freund, der nicht gewusst hat, was ich durchmache und trotzdem immer für mich da war. Auch Kristina, welche mich so sehr beeindruckte, danke ich und hoffe, dass ich sie irgendwann wiedersehen werde.
Ich bin einfach nur ich. Aber das ist gut so, denn ich bin musikalisch, ich bin hilfsbereit, ich bin sportlich, ich bin mitfühlend, ich bin intelligent, ich bin lustig, ich bin stark, ich bin mutig, ich bin abenteuerlustig und ich bin noch vieles mehr.
Denn ich bin ich.


© faella


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Beschreibung des Autors zu "Einfach nur ich"

Die Geschichte meines Weges aus der Magersucht.

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