Die ganze Wahrheit - oder doch nur eine Geschichte?

Heftige Schmerzen ließen Lars früher aufwachen als normal. Irgendwo im Unterbauch saß ein Schmerz glühend, stechend. Bei jedem Atemzug schien er anzuschwellen und ließ ein fast taubes Gefühl zurück. Er lag auf dem Rücken und versuchte sich kaum zu bewegen. Was war das? Gestern Abend war doch noch alles wie immer gewesen. Lars versuchte, sich mit Mühe und unter gedrücktem Stöhnen auf die linke Seite zu drehen. Den rechten Oberschenkel zog er vorsichtig nach oben und nahm dabei seine Hand in der Kniekehle fassend zu Hilfe. So ging es besser. Er sortierte seine Gedanken und empfand, dass in dieser Körperstellung der Schmerz nicht mehr so heftig war. Seine Blase war voll, doch das ging jetzt wohl noch nicht.

Ist das vielleicht eine Nierenkolik? Vielleicht auch Gallensteine? Eine Lebensmittelvergiftung? Für nichts schien es eine logische Erklärung zu geben. Auch die alte Darmgeschichte konnte es nicht sein. Diese Schmerzen kannte er. Sie waren nicht so heftig; erschreckend war ja damals nur das viele Blut in der Toilette gewesen. Fühlte sich so eine Blasenentzündung an? Lars wühlte sich vorsichtig mit unterdrücktem Stöhnen an die Bettkante. Den Weg zur Toilette schlich er wie ein halboffenes Taschenmesser. Jetzt erwartete er heftiges Brennen beim Wasser lassen. Doch alles blieb relativ normal. Es war sogar eine Spur Erleichterung. Doch die Schmerzen blieben. Jetzt aber doch mehr in der Leiste, meinte er sich selbst vorsichtig abtastend. Der Weg zurück ins Bett war schon wieder leichter. Auch konnte er wieder atmen, ohne dass es im Bauch stechende Schmerzen hervorrief.

Iris, die inzwischen auch aufgewacht war, entschied, dass sie ihn sofort in die Hausarztpraxis bringen werde, nachdem Lars es nachdrücklich abgelehnt hatte, den Hausarzt zu rufen.
*

„Machen Sie sich bitte frei und legen Sie sich hier auf den Rücken“, erklärte die Ärztin, die Lars als Vertretung seines auf Urlaubsreise befindlichen Hausarztes in der Praxis angetroffen hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er hatte all seinen Mut zusammen genommen und ihr erzählt, wie sein Morgen verlaufen war und fügte gleich hinzu, dass es doch mit einem Schmerzmittel wieder gehen werde. Morgen sei sicher alles wieder in Ordnung. Vielleicht wäre es ja doch nur eine Kolik oder so etwas. Sie hörte ihm aufmerksam zu, unterbrach ihn nicht, und so gewann Lars doch das Vertrauen, das es ihm jetzt erlaubte, sich der Hose zu entledigen.

„Alles bitte“, sagte Frau Doktor. Sie stand neben der Liege, auf der Lars ausgestreckt auf den Rücken lag. Seine ausgestreckten Arme kamen gerade noch an seine Unterhose, die er mit unterdrücktem Stöhnen nach unten schob. Den Rest übernahm die Ärztin. Lars war mit den wieder einsetzenden Schmerzen vom Mann zum Patienten geworden. Er spürte die untersuchenden Hände in seiner Leiste.
„Sie können sich wieder anziehen“, forderte sie Lars auf, der jetzt ihre leicht grau durchsetzten aber vollen Haare wahrnahm. „Wahrscheinlich ist es nur eine Nebenhodenentzündung“, sprach Frau Doktor am Schreibtisch sitzend und ein Formular ausfüllend zu Lars, der sich vorsichtig in seine Hosen bemühte. „Wir sollten aber sicher gehen. Deshalb überweise ich sie an einen Urologen. Haben sie einen bestimmten?“
„Nein, aber ich werde mich erkundigen.“
„Gut. Versuchen sie aber noch heute einen Termin zu bekommen. Ich schreibe ihnen noch etwas gegen die Schmerzen auf.“
„Danke, Frau Doktor“. Lars ist froh es überstanden zu haben. Er meinte auch, dass die Schmerzen schon nicht mehr so schlimm seien.

Noch für den gleichen Vormittag bekam er telefonisch einen Untersuchungstermin beim Urologen in der Nachbarstadt. Wahrscheinlich weil er sich bei der Sprechstundenhilfe bei der Frage nach seiner Krankenkasse gleich als Privatpatient vorstellte. Jetzt saß er im Wartezimmer. Iris nutzte die Zeit zum Einkaufen. Lars sah sich als 56-jähriger noch viel zu jung, um hier zu sitzen, wo seiner Meinung nach alte Männer hingehörten. Doch zu seiner Verwunderung waren nur wenige erkennbar älter als er. Alles war ihm fremd und irgendwie peinlich. Besonders die jungen Sprechstundenhelferinnen beobachtete er. Ob sie wohl mit in die Untersuchungsräume gingen? Doch sie kamen immer gleich wieder heraus, bis auf den Laborbereich, den er nicht richtig einsehen konnte.

„Herr Jörgenson, darf ich sie bitten“, holte ihn eine freundliche Stimme aus seinen Gedanken. Lars rückte an die vordere Kante des Stuhles, presste die Lippen zusammen, erhob sich langsam und folgte der Sprechstundenhilfe, die ihn bat Platz zu nehmen, der Herr Doktor käme gleich. Sie schloss die Türe leise hinter Lars. Nach eingehender Untersuchung bestätigte der Urologe die Diagnose seiner Kollegin und fragte Lars, ob er schon einmal eine Prostatavorsorgeuntersuchung habe durchführen lassen. Lars verneinte und stimmte der Untersuchung zu, die jetzt doch nur einige Minuten in Anspruch nehmen werde, wo er doch schon auf dem Untersuchungstisch läge und so alles schnell erledigt sei. Die Untersuchung dauerte länger.

Währenddessen sprach der Arzt davon, wie seine Nebenhodenentzündung behandelt werden solle, und dass es wohl mindestens 1 Woche dauern würde. Medikamente solle er einnehmen, im Bett liegen und mit Eis die Leiste kühlen. Er solle das als Diabetiker sehr ernst nehmen und schnell auskurieren. Lars hörte noch etwas von denkbaren Komplikationen und dann:
„Ich fühle da etwas, das ich mir mit dem Ultraschallgerät näher ansehen möchte.“ Lars spürte ein kühles Gel auf seinem Bauch und schaute auf den Bildschirm. „Sehen sie hier, wo es dunkler wird. Das ist eine Geschwulst. Nicht groß, aber sie ist da. Ich drucke es aus, dann kann ich es ihnen nachher besser zeigen.“

Lars blieb auf der Liege zurück. Wischte sich mit einem Tuch die Gelreste vom Bauch, zog sich langsam an, spürte keinen Schmerz mehr, ging zum Stuhl vor dem Schreibtisch, auf dem der Urologe einen Bildausdruck vor sich hingelegt hatte und daneben ein Model der männlichen Genitalien. Lars hörte wie ihm der Arzt mit sachlichen Worten das Foto und dann den Querschnitt der Prostatadrüse erklärte. Es müsse kein Prostatakrebs sein, es könne auch eine gutartige Geschwulst sein, die man aber im Auge behalten müsse, weil sie sich im Laufe der Jahre auch verändern könne. Im Labor solle er eine Urin- und Blutprobe hinterlassen. Man werde seinen PSA-Wert ermitteln, was aber noch nichts aussage. Wenn dieser sich im nächsten halben Jahr deutlich verändern würde, dann müsse man eine Gewebeprobe entnehmen. Lars hörte nur noch einzelne Worte. Am Schluss noch, welche Behandlungsmethoden es beim Prostatakrebs gäbe. In einer Woche solle er sich wieder vorstellen, dann wisse man schon mehr.

Die Heimfahrt mit Iris verlief wortlos. Sie kannte ihn und stellte nur die Frage: „Müssen wir noch in die Apotheke?“ Lars reichte ihr wortlos das Rezept. Sie holte das Medikament. Lars schaute hinaus auf die Straße und sah nichts. In seinem Kopf schwirrte alles umher. Die Schmerzen in seiner Leiste schienen weit weg zu sein. Sie gehörten wohl auch nicht mehr zu ihm. Er fühlte sich von innen her kalt werden. Es war die nackte Angst, die sich jetzt langsam in ihm auszubreiten begann. Das Wort „Krebs“ stand in seinem Kopf und ließ nichts sonst mehr denken. Iris führte ihren Mann ins Wohnzimmer, wo er in einen Sessel sank und vor sich hinstierte.

„Willst du gleich eine Tablette nehmen?“ Iris hatte sich vor ihn hingekniet. Eine Eiskompresse befände sich schon im Gefrierschrank. Wenn er im Bett läge würde sie kalt genug sein. Lars wusste nicht mehr, ob er ihr überhaupt erzählt hatte, wie die Entzündung behandelt werden solle. Urplötzlich brach ein Damm in ihm, und mit tränenerstickter Stimme offenbarte er Iris:
„Vielleicht habe ich Prostatakrebs.“
Er hörte seine Worte. Sie klangen weit fort. Er erkannte seine Stimme nicht mehr. Iris, die vor ihm kniete, umfasste seine Beine, legte ihren Kopf auf seine Schenkel und sagte leise in ihn hinein:
„Keine Angst, Lars, wir stehen das gemeinsam durch.“
Dann schwiegen sie, ineinander versunken. Ihre Tränen flossen leise, jeder für sich und doch zusammen. Ja, bis hierher hatten sie vieles gemeinsam durchgestanden. Sie hatten jetzt wohl auch gemeinsam die gleichen Gedanken. Erlebten die gleiche schleichende Angst, sprachen sich in gleicher Weise Mut und Hoffnung zu und wussten doch, dass die Dinge oft einen anderen Verlauf nehmen. Wir stehen das durch. Wir werden nicht umfallen. Wir haben uns. Langsam trockneten die gemeinsamen Tränen. Ihr Atem wurde ruhiger. Der plötzliche Sturm der Angst war vorbeigezogen und ließ sie in einer erschöpften Ruhe zurück.

Lars war nun auch wieder zurück und sagte mit festerer Stimme: „Lass mich hinlegen. Der Eisbeutel ist sicher gut. Gib mir bitte die Schmerztablette, dann will ich versuchen etwas zu schlafen.“ Obwohl ihm das gemeinsame Weinen eine große Erleichterung gewesen war, wollte er doch wieder eine beherrschte Haltung einnehmen und den Vorfall beiseite schieben. Den Anruf im Büro erledigte Iris und übermittelte ihm die guten Genesungswünsche. Lars versuchte zu schlafen.

*
Überraschend schnell war die Entzündung auskuriert. Doch sie war bei seinem nächsten Besuch in der urologischen Praxis für ihn nur noch Nebensache. Noch eine Woche, meinte der Arzt, und alles sei vergessen. Gut, dass er gleich gekommen sei. Manche kämen erst nach ein paar Tagen, dann dauere alles viel länger. Sein PSA-Wert, hört Lars den Urologen von seinem wirklichen Thema reden, sei zwar erhöht, aber das wolle noch gar nichts bedeuten. Man werde die Entwicklung der Werte beobachten und vielleicht nach 3 Monaten mit der Entnahme einer Gewebeprobe Gewissheit schaffen. Lars spielt den Gefassten und medizinisch Interessierten. Doch das war seine Rolle, wie er sie von sich erwartete. Er selbst war ein anderer. Natürlich hatte er bemerkt, dass Iris in den letzten Tagen so auffällig fürsorglich und rücksichtsvoll gewesen war. So als sei die Diagnose endgültig und beide schon auf dem Weg es gemeinsam durchzustehen. Während der Arzt ihm viel erklärte, was man heute alles machen könne, erinnerte sich Lars an einen gewissen Professor Hackedahl. Man könne mit Prostatakrebs alt werden. Die meisten würden sowieso nie erkannt. Männer sollten sich vor den Urologen in Acht nehmen, die würden viel zu schnell operieren wollen. Lars schien für sich schon die Entscheidung getroffen zu haben: Die Geschwulst ist bösartig. Gutartige Geschwülste gäbe es ohnehin keine. Was könne schon gutartig sein, wenn es unkontrolliert in seinem Körper wucherte. Er wusste, dass er irgendwann an der Reihe wäre. Seine Mutter war an Krebs gestorben, so wie später seine Schwester 10 Jahre mit der gleichen Krankheit kämpfte und verlor. Sollte er sich jetzt auch auf einen Kampf einlassen? Ihn gemeinsam mit Iris durchstehen und dann doch verlieren? Nein! In diesem Augenblick war seine Entscheidung gefallen. Er ließ den Arzt noch seine Ausführungen zu Ende bringen, nahm sich seinen weiteren Termin für die Blutuntersuchung mit und fuhr nach Hause.

„Keine Sorge, Iris, alles wird gut.“ Er sah dabei in ihre Augen, die ihn ernst und verständnisvoll, doch irgendwie anders anschauten, so als wüsste sie mehr als Lars sagte. „Ja, das wird es“, erwiderte sie und drückte sich in seine Arme.

Lars verpasste den weiteren Termin. Auch die Jahre danach wollte er keine weitere Untersuchung. Sie hatten das stille Einvernehmen alles so zu nehmen wie es eben kommen würde.
*

(aus „Lesebuch – Nicht nur für Erwachsene“, Gerhard Falk 2008)


© Gerhard Falk


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die ganze Wahrheit"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Die ganze Wahrheit"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.