Schweigend und mit nachdenklichen Gesichtern schauen sie sich gegenseitig an … die beiden Frauen … Mutter und Tochter.

Es ist viele Jahre her, seitdem sie sich das letzte Mal gegenübergesessen hatten. Schon gar nicht waren ihre letzten Begegnungen friedlich verlaufen. Im Gegenteil, ein schlimmer Streit, scheinbar unüberwindbar, hatte sie seit Jahren gefangen gehalten, gefangen in der eigenen Welt, gefangen im Groll auf die andere.

Hin und wieder hatten sie beide darüber nachgedacht, den Hörer in die Hand zu nehmen, die andere anzurufen, zu hören, wie es ihr geht, die Stimmung der anderen einzufangen, entschuldigende Worte zu finden und vielleicht war sogar ein Neuanfang möglich.

Doch immer wieder waren da die Zweifel: „Wenn sie gar keinen Neuanfang will? Wenn sie es gut findet, so wie es ist?“ Dann wieder: „Einer müsste ja mal den Anfang wagen, so kann es doch nicht weitergehen! Der Klügere gibt nach, heißt es doch immer!“ Immer wieder wählten sie die Nummer der anderen. „Tuuuuuuut, tuuuuuut …“ machte es, bedrohlich klang es in ihren Ohren und noch bevor jemand annehmen konnte, drückten sie erschrocken ab. Der Weg zur anderen schien zu weit, die Mauer zu hoch – unüberwindbar!
Bis zu diesem Tag, diesem schrecklichen Ereignis, dass die Mutter zwang, das Telefon diesmal so lange klingeln zu lassen, bis sich am anderen Ende die Stimmer ihrer Tochter meldete: „Ja? Hallo?“ Schmerzhaft fuhr es der Mutter durch Mark und Bein. Zögernd, fast ängstlich klang es an ihr Ohr: „Mama? Du?“ - Ja, ich bin es.“ – „Ist etwas passiert?“

„Warum sollte ihre Mutter ausgerechnet heute anrufen? Da muss etwas passiert sein!“ schoss es der Tochter blitzartig durch den Kopf.

„Wir müssen uns sehen mein Kind – heute, gleich! Kannst Du?“ hörte sie die fast leblose Stimme ihrer Mutter sagen.

„Was ist passiert Mama? Nun sag‘ schon!“

„Nicht jetzt, nicht am Telefon! Komm in unser Lieblingscafé! In einer Stunde? Ich warte dort auf Dich!“ Tut, tut, tut … - aufgelegt!

Mit zitternden Knien und völlig aufgelöst, nicht nur wegen des überraschenden Anrufs, ließ die Tochter sich in ihren Sessel fallen. „Da MUSS etwas passiert sein …“ schoss es ihr erneut durch den Kopf „… etwas Schreckliches!“ Eine ganze Weile konnte sie einfach nur reglos da sitzen – wie gelähmt! Die Gedanken in ihrem Kopf kreisten, alles um sie herum drehte sich, Achterbahn fahren konnte nicht schlimmer sein! „Ich muss mich anziehen! Muss ins Café! Unser Lieblingscafé! Sie wartet dort auf mich! Nach so langer Zeit! Was kann passiert sein? Was will sie von mir? Was soll ich ihr sagen? Soll ich überhaupt hingehen? Ich muss hingehen …“

Sie wusste nicht, wie lange sie einfach nur da gesessen hatte bis endlich die Achterbahnfahrt in ihrem Kopf nachließ und sie es schaffte aufzustehen! Mit immer noch zitternden Knien zog sie sich eine Jacke über, griff nach den Autoschlüsseln, knallte die Wohnungstür hinter sich zu, stürmte die Treppe hinunter auf die Straße. „Frische Luft! Erst mal tief durchatmen!“

Erst als sie schon fast im Auto saß, bemerkte sie, dass sie noch immer ihren Jogginganzug anhatte. So konnte sie ihrer Mutter aber nicht unter die Augen treten, nicht ihr, die immer wie aus dem Ei gepellt war, nicht nach so vielen Jahren, nicht jetzt! Doch ein flüchtiger Blick auf die Uhr bestätigte ihre Ahnung: „Keine Zeit mehr! Sie wartet auf mich! Ich muss los, egal wie! – Soll sie doch denken, was sie will! Schließlich hat sie mich so plötzlich in unser Café zitiert – UNSER Café?!“ Seufzend ließ sie den Motor an und fuhr in Richtung Innenstadt.

Auch ihre Mutter hatte sich inzwischen ein wenig beruhigen können und war ebenfalls auf dem Weg in die Innenstadt, nicht mit dem Auto, dazu war sie zu aufgeregt, fühlte sich außerstande, hatte sich für die S-Bahn entschieden. Auch in ihrem Kopf kreisten die Gedanken, auch sie fühlte sich wie gelähmt, unendlich hilflos, ohne Kraft! „Wie soll ich es ihr nur beibringen? Wie wird sie reagieren? Was wird sie sagen? Wie sie wohl aussieht? Ob sie noch immer so strahlend blaue Augen hat? Wir haben uns so lange nicht gesehen! So viele Jahre! Wie konnte ich das zulassen? Sie ist doch mein Kind … - MEIN Kind …!“

Als sie das Café betrat, war sie schon da, saß alleine an ihrem Lieblingstisch, sie wusste es also noch: „Meine Tochter, mein Kind!“ Noch unentdeckt blieb sie eine Weile in der Tür stehen, schaute sie einfach nur an! „Wie sie da sitzt! Wie immer! Mein Kind! Als wenn Nichts gewesen wäre! Sie ist so ein fröhlicher Mensch und ich habe sie verletzt, sie solange nicht gesehen, nicht gehört … und jetzt muss ich ihr noch mehr weh tun!“

Langsam ging sie auf ihre Tochter zu, ihr Herz schlug bis zum Hals! „Hallo!“ kam es vorsichtig über ihre Lippen, klang gepresst, fast ängstlich und so leise, dass es kaum zu hören war.

Die Tochter hob den Kopf. „Mutter!“ Da stand sie! Vor ihr! Irgendwie anders heute! Sie wirkte zerbrechlich und viel kleiner als sonst. Auch nicht wie aus dem Ei gepellt! Was war geschehen?

„Hallo!“ erwiderte die Tochter und stand auf, auch ihr schlug das Herz bis zum Hals!

Schweigend standen sie voreinander, heute, nach so vielen Jahren! Und keine wusste, was sie der anderen sagen sollte! Tränen liefen ihnen die Wangen hinunter. Beiden kam es vor wie eine Ewigkeit, bis sie sich endlich in die Arme fielen! Eng umschlungen, ohne ein Wort, leise schluchzend, mitten in ihrem einstigen Lieblingscafé!

„Komm Kind, wir setzen uns! Die Leute schauen schon!“ brach die Mutter das Schweigen. „Ja Mama, wir setzen uns!“

Und wieder dieses Schweigen! Immer noch Tränen in den Augen schauten sie sich an! Versuchten den anderen in sich aufzunehmen, so als wäre ihr Wiedersehen nur ein kleiner Zwischenfall, unbeabsichtigt und schnell vorbei. Diesmal war es die Tochter, die das Schweigen brach: „Mama, was ist passiert? Warum hast Du mich angerufen? Ich war erschrocken! Deine Stimme klang so leer, so ganz anders als sonst! Nun sag schon! Was ist?“

Vorsichtig ergriff die Mutter die Hand ihrer Tochter, hielt sie fest umschlungen und versuchte zu erklären, was passiert ist. Es ging nur stockend, die Worte schienen ihr im Hals stecken zu bleiben, wollten einfach nicht über ihre Lippen kommen.
Es war schon unerträglich gewesen, diese schreckliche Nachricht anhören zu müssen, aber jetzt, wo sie sie auch noch aussprechen musste … „Kind, Dein Bruder! … Er, er …“ Verzweifelt rang sie nach den richtigen Worten.

„Was ist mit meinem Bruder? Es geht ihm doch gut, ich habe gestern noch mit ihm telefoniert, es ging ihm gut! Mama, was ist mit ihm? So rede doch endlich!“

„Er, er … ist verunglückt! Letzte Nacht! Ein Autounfall! Und, er …!“ versuchte die Mutter mit Tränen erstickter Stimme zu erklären.

„Mama, was denn? Ist er verletzt? Liegt er im Krankenhaus? In welchem? Warum fahren wir nicht hin? Komm, wir müssen doch schau’n, wie es ihm geht! Warum treffen wir uns hier?“ Die Tochter sprang auf, riss ihre Jacke von der Stuhllehne und wollte zur Tür! Raus! Ins Krankenhaus! Zu ihrem Bruder!

In letzter Sekunde ergriff die Mutter ihren Arm, hielt sie zurück: „Warte, bleib hier!“ sagte sie mit hastiger Stimme.

Abrupt blieb die Tochter stehen, erschrocken über den fast schon barschen Tonfall schaute sie ihre Mutter an. „Ich verstehe nicht …!“

„Setz Dich wieder!“ Energisch zog sie ihre Tochter an den Tisch zurück. „Setz Dich wieder!“ Fast wie ein Befehl klang ihre Stimme jetzt.

„Mama!“ Zögernd setzte die Tochter sich wieder auf ihren Platz. Mit großen Augen schaute sie die Mutter an. Angst kroch ihre Kehle hoch bei dem, was sie sah! Da war sie wieder! Diese Achterbahn! In ihrem Kopf! Rauf und runter, links und rechts, ein Looping nach dem anderen! „Mama!“ brach es erneut aus ihr heraus! „Wo ist er? Was ist mit ihm? Nun sag‘ es doch endlich!“

Es gab kein Zurück, sie musste es ihr sagen, musste es endlich aussprechen: „Dein Bruder, er ist … er ist … tot! Ums Leben gekommen bei dem Unfall! Ein Überholmanöver eines entgegenkommenden Fahrzeugs! Ein Irrer! Er ist frontal mit Deinem Bruder zusammen gestoßen! Sagt die Polizei! Ach Kind, was sollen wir nur machen?“ sprudelte es endlich aus ihr heraus.

„Ich versteh‘ nicht!“ Fassungslos starrte die Tochter ihre Mutter an. „Gestern! Er war gesund! Es ging ihm gut! Wir haben telefoniert …, das ist unmöglich …, das kann nicht sein …“ stammelte sie mit lebloser Stimme.

Dann sprang sie auf: „Mama!!!“ – „Das kann nicht sein! Komm mit, ich beweis‘ es Dir! Er lebt noch, es geht ihm gut! Komm mit, wir fahren hin! Komm jetzt!“ Wieder war sie aufgesprungen, versuchte ihre Mutter vom Stuhl zu reißen und zur Tür zu zerren.

Vorsichtig, aber energisch fasste die Mutter sie erneut am Arm, zog sie zurück – zurück auf ihren Schoß – wie früher, wenn sie Trost brauchte, als sie noch klein war.

Schluchzend ließ sie sich fallen, schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter und weinte. Weinte und weinte! Immer wieder streichelte die Mutter ihr über’s Haar, durch’s Gesicht, redete auf sie ein, versuchte sie zu beruhigen. Ihr eigenes Elend, ihr unendlicher Schmerz, war plötzlich nicht mehr wichtig. Sie, ihre Tochter, war das einzig Wichtige in diesen grausamen Minuten.

Endlich! Es schien wie eine halbe Ewigkeit, hörte sie auf zu schluchzen, hob den Kopf, schaute ihre Mutter an, streichelte ihr die Wange, seufzte tief, stand auf und setzte sich wie von Geisterhand geführt auf ihren Stuhl zurück.

Wieder sahen sich die beiden nur an, wieder strömten Tränen über ihre Wangen. Sie hielten sich an den Händen, so als müssten sie sich aneinander festhalten, es schien als wollten sie sich nie mehr loslassen. Und wieder dauerte es eine halbe Ewigkeit bis eine von beiden das Schweigen brach: „Mama, wenn Du jetzt, jetzt in diesem schrecklichen Moment drei Wünsche frei hättest, was würdest Du Dir wünschen?“

Mit Tränen erstickter Stimme antwortete diese ihrer Tochter: „Mein liebes Kind, ich würde mir nur einen einzigen Wunsch erfüllen lassen!“

„Ja“, erwiderte ihre Tochter weinerlich, „ich weiß schon Mama, aber Du hast doch drei Wünsche frei!“

„Kind, ich hätte nur einen einzigen Wunsch! Ich wünschte mir, an den Tag zurück kehren zu dürfen, an dem ich Dich und Deinen Bruder das erste Mal in meinen Armen hielt, um von da an jede Minute noch einmal mit Euch zu erleben!“

Nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: „Immer und immer wieder!“


© Ulrike Vornweg-Elzner


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