wichtig in unserem Leben. Das ist eine Erkenntnis, die ich unbewusst und zuweilen auch bewusst mein ganzes langes Leben mit mir herumgetragen habe. Oft verdrängt durch die Alltäglichkeiten haben sie sich eingenistet, wo auch immer in meinem Kopf. Jetzt aber im unruhigen Ruhestand ist die mitunter zwanghafte Jacke des Alltags davon geflogen, und da stehen sie dann, die Damen mit Duden und Körnerscher Literaturgeschichte unter dem Arm. Sie lächeln mich an und doch spüre ich ihre strenge Ermahnung zur Ernsthaftigkeit. Erst jetzt stelle ich mir die Frage, warum es in meinem Leben keine Deutschlehrer gab. Nun ja, Heidi hatte ja auch Frau Rottenmeier.

Während ich so über diese längst verblichenen Wesen sinniere, springt unvermittelt hinter einem Bücherregal schon wieder eine solche Gestalt hervor; virtuell natürlich und ohne Duden oder Körner sondern computerbewaffnet. Das macht sie nicht ungefährlicher. Im Gegenteil!

Doch anders als zu meiner Schulzeit habe ich inzwischen gelernt, mit Begegnungen umzugehen: ich schreibe über sie. So sind zwei kleine Geschichten entstanden.

Die erste trägt den Titel „Das Fräulein“. Das Fräulein war in meiner Schulzeit die letzte reale Begegnung. Mit ihr verbinde ich noch so viele gute Erinnerungen, dass ich sie irgendwann einmal in sentimentalen Stunden aufschreiben werde.

Die zweite erhielt den Titel „Lisa und die Nachtfalter“. In ihr habe ich die Computerbewaffnete verpackt. Nur kurz allerdings, denn sie spielt auch nur eine Rolle am Rande. Anders als wir früher, ist „Lisa“ heute auch noch ins Web eingeflochten und hat da ihre liebe Not. Wir verstehen das – oder?

Viel Vergnügen beim Lesen und vielleicht auch kommentieren, wenn lustig dazu. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder welchen Institutionen auch immer sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Das Fräulein

von

Gerhard Falk

Auf das Fräulein legte sie großen Wert. Sie stellte sich als unverheiratete Frau und unsere neue Klassenmutter vor. Wir seien vor ihrer Pensionierung die letzte Klasse, die sie als unsere Klassenmutter zum Abschluss führen wolle. Beides beeindruckte uns sehr, am meisten aber die Klassenmutter. Sie nahm in den folgenden Jahren nicht nur an unserer schulischen Entwicklung regen Anteil sondern auch an den pubertierenden Abenteuern. Tugend sei da vorhanden, wo der Kampf zwischen Pflicht und Neigung zugunsten der Pflicht entschieden werde, pflegte sie der Klasse zu allen sich bietenden Gelegenheiten zu vermitteln.

Nicht nur ihr strenger Blick traf mich, als sie meine beginnenden ersten erotischen Kontakte zu zwei Mädchen aus der Klasse ansprach, die ich zur gleichen Zeit unterhielt. Dennoch glaube ich nicht, dass es diese Ermahnung war, die mich Jahre später veranlasste, eine der beiden Umworbenen zu heiraten. Möglicherweise wurde ich geheiratet und hatte da keine wirkliche Wahl. Mit einer Klassenkameradin verheiratet zu sein ist mehr als eine Ehe. Es ist die Verbindung von Wurzeln, eine wahre Symbiose.

Auch in der Zeit nach der Schulentlassung hatten wir noch einen fruchtbaren Kontakt. Meine Klassenmutter a. D. schenkte mir kurz vor ihrem Tode zwei Bücher aus ihrem Bestand, die ich bis heute in Ehren halte. Eines ist Steins Kulturfahrplan, denn ihr war sehr daran gelegen, dass wir kulturelle Zusammenhänge über die Zeiten erkennen. Sie führte ihren eigenen Lebenslauf als tragisch Verführte im Nazi-Deutschland immer wieder als Beispiel an. Sie habe sich allzu leicht blenden lassen vom Zeitgeist und verführerischen Versprechungen. Das fand ich außerordentlich mutig. Im Nachkriegsdeutschland war man damals eher bemüht, die eigene Rolle im dritten Reich schön zu reden. Sie aber gestand ihren großen Lebensfehler unumwunden ein. Das zweite Buch ist eine Anthologie deutscher Erzähler der Gegenwart, herausgegeben 1959 von Willi Fehse im Reclam-Verlag. Die darin enthaltenen Erzählungen habe ich über die Jahre immer wieder gelesen, und jedes Mal erschien da im Hintergrund das Fräulein und beteiligte sich an der Interpretationsarbeit. Das Spannende daran ist bis heute, dass ich in den Erzählungen immer neue Gedanken entdecke, die sich mit eigenen Erfahrungen und Einsichten verbinden. Heute hätten wir uns deutlich mehr zu sagen. Wir würden ganz sicher heftig diskutieren und in vielem auch gleicher Meinung sein. Sie wäre meine Wunschlektorin und ist es wohl auch im Hintergrund, wenn ich selbst mit mir ins Gericht gehe. Ihr gegenüber verantworte ich mich beim Schreiben. Sie wollte Substanz im Inhalt und Selbstbewusstsein im Ausdruck. Beides umschrieb sie gerne mit Wahrhaftigkeit.

Auch das Vorwort der Anthologie lese ich gerne. Willi Fehse setzt sich dort mit literarischen Richtungen im damaligen Deutschland auseinander und stellt dann fest, dass das wahre Talent aber immer über alle Programme und Parolen hinauswachsen und sein eigenes Gepräge finden werde.

*

Lisa und die Nachtfalter

von

Gerhard Falk



Eigentlich wollte sie sich nicht mehr an Anthologien beteiligen und schon gar nicht zum Thema „Nachtfalter“. Eigentlich wollte sie sich nicht mehr sagen lassen, dass „eigentlich“ ein unwillkommenes Füllwort sei, und dass man zwei Sätze hintereinander nicht mit demselben Wort beginne. Doch jetzt saß sie trotzdem wieder an ihrem „Läppi“ und tippte ein Wort nach dem anderen. Das war wie in der Schule, wenn wieder einmal ein Aufsatz geschrieben werden sollte. Sie mussten dann zu einem Begriff, einem Thema oder irgend so einer schwachsinnigen Idee ihrer Deutschlehrerin Geistreiches aufs Papier bringen. Anschließend zerpflückte sie die Texte öffentlich vor der Klasse und bescheinigte die meist absolute Unfähigkeit. Natürlich waren auch die meisten Regeln der deutschen Rechtschreibung nicht beachtet worden, wie sie auch hier im Forum eingefordert wurden. Zu ihren doofen Themen konnte man aber nur Doofes schreiben. Lisa atmete tief durch. Deswegen war sie ja in ein Forum geflüchtet und hatte dort mitgeteilt, dass sie demnächst ihren ersten Roman schreiben werde. Sie hatte da ganz tolle Ideen. Nachts schwirrten sie in ihrem Kopf herum. Wie Nachtfalter?

Lisa stellte das Tippen ein, sank in ihren Sessel zurück und glaubte, nun doch zum Thema gefunden zu haben. Aber Nachtfalter, das waren doch so farblose, kleine, fette Dinger, die von Fledermäusen gefressen wurden. Im Sommer sausten die Fledermäuse immer in der Dämmerung über der Wiese hinter dem Haus. Sicher jagten sie auch nach Nachtfaltern. Jetzt war es Winter, und die Fledermäuse hingen irgendwo unter einem Dach oder in einer Höhle von der Decke. Sie war einmal in so einer Höhle gewesen. Der Gestank des Fledermauskotes stach ihr bei dem Gedanken noch immer in der Nase. Diese Biologieexkursion war ihr richtig zuwider gewesen. Klar sahen die kleinen Biester ganz niedlich aus. Doch bei diesem Gestank war ihre schwache Liebe gleich erloschen. Sie konnte die anderen Mädchen in der Klasse nicht verstehen, die meinten, dass sie ja so süß seien.

Lisa stand auf, um sich den Brockhaus aus dem Schrank zu holen. In der Glastüre sah sie kurz ihr Spiegelbild. Du siehst auch aus wie ein Nachtfalter: farblos, fetter Rumpf, Scheiße eben. „Nacht“, stand da, sei der Zeitraum vom Untergang bis zum Aufgang der Sonne. Dahinter gleich „Nachtblindheit“, eingeschränkte Sehfähigkeit. Und nach „Nachtgleiche“ las Lisa „Nachtigal“. Das sei ein Arzt und Afrikareisender gewesen, stellte sie überrascht fest, und hatte eigentlich einen Vogel erwartet, der aber gleich danach in ihren Blick flatterte. Natürlich schreibt man ihn mit zwei „l“.

Zu einer Nachtigall würde ihr viel mehr einfallen können, als zu einem Nachtfalter, den es unter diesem Namen im Brockhaus wohl nicht gab. Unter „Falter“ sah Lisa nun nicht mehr nach sondern tippte den Nachtfalter ins Google-Feld des Laptops. Klar, dass es den Nachtfalter bei Wikipedia sofort gab. Gleich 15 verschiedene waren da aufgeführt. Trotzdem hatte sie aber weiter die Nachtigall im Kopf und auch den Afrikareisenden mit nur einem „l“. Afrika, das wäre auch ihr Ding. Da würde sie später ganz bestimmt einmal hin wollen. Ob es in Afrika auch Nachtigallen gab? „Zugvogel“, las Lisa im Wikipedia, und „Nordafrika“ las sie weiter. Was war doch so eine Nachtigall gegen einen Nachtfalter!

Lisa versank in ihrem Sessel. Sie fühlte sich wie eine Nachtigall, die mit ihrem lieblichen Gesang verzaubert. Sie würde auch gerne leicht hinaufsteigen in die Lüfte und singend die Welt verzaubern. Singen eigentlich nur die Nachtigall-Männchen? Egal! Sie ließ sich mit geschlossenen Augen empor tragen und flog über Frankreich und Spanien davon nach Nordafrika.

Der unvermittelt anspringende Lüfter des Laptops holte Lisa zurück. Sie empfand das so, als falle sie dick und fett vom Himmel in ihren Sessel. Als sie neulich in einem Fastenforum unterwegs war, da schien es ihr, als ob alle übergewichtig wären und sich wie fette Nachtfalter fühlen. Schnell war sie da wieder abgehauen. In ihrem Literaturform fand sie Zuflucht. Da wollte sie sich ausleben und sich ihre kleine bunte Welt zusammenschreiben. Doch an dem Nachtfalter konnte sie nun wirklich nichts Buntes und schon gar nichts Erotisches finden. Urplötzlich sah sie wieder diese Dinger nachts auf die Windschutzscheibe klatschen, als sie im vergangenen Sommer vom Plattensee nach Hause gefahren waren. Abends war es so schlimm, dass sie stehen bleiben mussten, um die Frontscheibe sauber zu machen. Ihr Vater erzählte damals, dass er einmal nachts auf einer Straße entlang der Donau nicht mehr weiterfahren konnte, weil in einem riesigen Schwarm von Insekten die Scheiben total verschmiert waren. Lisa fand diese Erinnerungen einfach nur eklig.

„Nachtschwärmer“ hätte man doch auch sagen können. Oma nannte ihren Vater so, wenn er abends spät nach Hause kam. Jedenfalls sollte sie jetzt ganz sicher irgendetwas über die Nacht schreiben. „Nachts sind alle Katzen grau“, das war auch so ein Kommentar, den Oma immer mal wieder hören ließ. Das kam wohl noch aus der Zeit, als man mit nächtlichen Lasershows, Discos und Parties noch nichts am Hut hatte. Ihre Nacht heute wäre bunt, laut und hell. Und sie sah sich mittendrin als bunten Schmetterling, der die Nacht zum Tag machte, zu einem verzauberten Tag.

Lisa empfand sich plötzlich nicht mehr als einen fetten Nachtfalter. Sie sah an sich herunter. Die knappen Hüftjeans und ihre Rundungen waren doch ziemlich sexy. Jetzt wusste sie auch, dass sie in ihrem Roman mit ihrem Helden in einem alten VW-Bus durch Frankreich und Spanien nach Nordafrika fahren würde. Ganz sicher würden sie dort nachts keine Nachtfalter an die Scheiben klatschen lassen. Sie sah sich am Lagerfeuer sitzen. Und sie würden sich Geschichten erzählen von Nachtigallen und Afrikareisenden.


© Gerhard Falk


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Beschreibung des Autors zu "Deutschlehrerinnen sind ungeheuer..."

Beide Geschichten und noch weitere finden sind in meinen Büchern. Die letzten beiden sind im Mai 2011 erschienen.

Wer möchte, besucht mich hier: http://www.falk-dautphetal.eu

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