Ich war 16 Jahre alt als ich die Abschlussprüfungen für die Realschule schrieb. Jeden Abend ging ich meine Runden. Ganz für mich allein, nur die Musik im Ohr welche ich mir ausgesucht hatte. Ich empfand es immer als sehr beruhigend, allein durch die Nacht zu laufen. Keiner störte mich und ich konnte in aller Ruhe nachdenken. Über die Schule, den Sport, die Familie und natürlich über meinen damaligen Freund. Meine Gedanken sprangen ständig hin und her, wechselten von Freude zu Traurigkeit, von Schmerz über Vergangenes bis hin zu freudig erwarteten Zukunftsplänen. Ein völliges Wechselbad der Gefühle, aber wie sollte es auch anders aussehen, mitten in einer so anstrengenden Zeit. Das die mir bevorstehende Zeit noch viel schlimmer werden sollte, wusste ich bis dato noch nicht.
Als ich am Freitagabend vom Training kam, merkte ich schon, dass die Nacht ganz besonders schön wird.
Nach dem Abendessen saß ich noch gemeinsam mit meiner Mutter und ihrem neuen Mann beim fernsehen. Gegen halb neun beschloss ich dann, noch einmal nach draußen zu gehen. Einfach eine meiner Runden drehen. Ich zog mich also an. Eine enge schwarze Jeans, ein einfaches Shirt und darüber meine Vereinsjacke. Ich trug sie damals immer auf meinen Spaziergängen, da mein tragbarer CD-Player ohne Probleme in die Jackentasche passte.
Ein kurzes „Ich bin weg!“ In den Flur gerufen und meine Mum wusste, dass ich in spätestens zwei Stunden wieder zuhause sein werde. Mein Handy nahm ich nie mit. Für mich war es dazumal Ballast, den ich nicht bei mir tragen wollte. Es verleitete nur dazu, ständig auf die Uhr zu schauen um festzustellen, dass die Zeit nicht schnell genug verging.
Eigentlich wollte ich nur eine kleine Dorfrunde drehen. Links herum den kleinen Berg hinauf, immer unter den orange leuchtenden Straßenlaternen entlang bis zu Hauptstraße. In den Fenstern war das bläuliche flimmern der Fernseher zu erkennen. Keiner wollte den späten Abend genießen, dabei war es recht angenehm draußen. Sternenklar, der Mond in einer schönen Halbsichel und um die 20°C wenn ich es heute schätzen müsste.
Ich lief die Hauptstraße nach unten, am Friedhof vorbei, wo ich meinen Urgroßeltern ein kurzes Nicken zukommen ließ und meinte, sie sollen gut acht geben.
An der kleinen Kreuzung an der ich hätte rechts abbiegen können, beschloss ich meine Dorfrunde zu erweitern. Ich entschloss mich bis in den Nachbarort zu gehen. Etwas mehr als zwei Kilometer war Lucka entfernt und Musik hatte ich ausreichend mitgenommen.
Es war sehr angenehm auf der Straße zu laufen, so völlig ohne Straßenlaterne. Der Mond schien besonders hell und ich konnte die Felder neben gut erkennen. Die Bäume und Büsche bildeten Bilder, die am Tag völlig anders aussehen. Ein wirklich schönes Bild. Es hatte etwas Beruhigendes. Ich genoss die kühle Luft und atmete tief durch. Meine Gedanken schwirrten um alles Mögliche. Hin und wieder hörte ich, dass ein Schuss fiel, es wurde wieder Wild geschossen. Die Saison war schließlich wieder ran und der Abend bot sich dafür an. Hin und wieder kam ein Auto vorbei gefahren und blendete mich, sodass ich kurze Zeit benötigte, mich wieder an das nächtliche Licht zu gewöhnen.
Immer näher kam ich Lucka. Auf meiner linken Seite verabschiedete sich langsam das weite Feld und die Kleingartenanlage begann. Nun war nicht nur die rechte Seite völlig mit Bäumen bedeckt, nein, auf der linken konnte ich nun auch nichts mehr erkennen.
Je näher ich Lucka kam, desto lauter wurde Festmusik. Ich erinnerte mich, dass Walpurgisnacht war. Der 30.04.2004 und auf dem Festplatz hatten sie schon ein großes Maifeuer aufgestellt.
Meine Gedanken begannen sich zu drehen und kamen zu dem Schluss, dass ich vielleicht jemanden finden würde, mit dem ich anbandeln konnte.
Als ich im Ort ankam, war jedoch keiner zu sehen und den kleinen Umweg zum Festplatz wollte ich nicht noch gehen. Am Getränkemarkt kam er mir das erste Mal entgegen. Unbewusst nahm ich das Auto wahr und checkte kurz den Fahrer ab. Ein Typ um die Zwanzig vielleicht. Sicher auf dem Weg zur Freundin.
Ich ging weiter die Hauptstraße entlang. Vorbei an der Kirche, wo ich einen kurzen Blick auf die Kirchturmuhr warf. Kurz vor viertel zehn. Ich war erstaunt, dass ich doch recht schnell gewesen bin. Ich ging weiter und kurz nach dem Einskaffee kam er wieder aus einer Seitenstraße. Er hatte sein Handy am Ohr und fuhr an mir vorbei. Sein Blick blieb kurz in meine Richtung fixiert. Als ich dies mitbekam, musste ich sofort anfangen mit lächeln. Ein süßer Typ mit Auto hat mich ins Auge gefasst. Spitze, und weg war er wieder. Meine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht würde er ja wieder vorbei kommen, anhalten und mich nach meiner Nummer fragen oder mich einladen. In mir stieg die Aufregung.
Ich ging weiter und bog dann in eine Seitenstraße ab, um meinen Heimweg anzutreten. Ich war jetzt ungefähr auf der Hälfte der Strecke.
Wieder fuhr der Kaminrote Subaru an mir vorbei und ich freute mich schon, dass der Typ vorne auf dem Netto Parkplatz auf mich warten würde. Aufgeregt ging ich weiter und schaute mich gründlich um, nichts und niemand zu sehen. Nicht einmal die übliche „Parkplatzjugend“, alle auf dem Festplatz.
Ich ging an den großen Wohnblöcken vorbei, über den kleinen Garagenkomplex zu einem Fußweg, der gut beleuchtet wieder zur Hauptstraße führte. Der Weg war nur zu Fuß begehbar, da er zwar gepflastert war aber jeweils am Anfang und am Ende große Findlinge den Weg für Autos versperrten. Ich wechselte meine CD aus und hatte nun eine bunte Mischung aus Rock in den Ohren.
Zuerst ging es ein Stück bergab, wo der Weg als eine Art Minibrücke über einen kleinen Wasserlauf führte. Dort bemerkte ich auch, dass hinter mir ein Auto im Garagenkomplex geparkt wurde. Ich sah wie das Licht ausgeschaltet wurde und hörte die Tür zuschlagen. Es hallte abnormal laut durch die Stille der Nacht. Ich war der Meinung, dass einer der Anwohner nach Hause kam und erst noch seine Garage öffnen musste. Ich ging also weiter und hielt auf dem Feld, rechts neben mir, Ausschau nach Rehen. Hin und wieder hatte man hier auf der Ecke Glück, und da der Weizen noch recht jung war, lud es das Wild förmlich zum Fressen ein.
Mich durchzuckte ein kurzer Schreck, als ganz dicht an mir vorbei ein Mann ging. Er war kaum größer als ich, sehr schlank und hatte ein graues Kapuzenshirt an. Seine Hände waren tief in die Taschen gesteckt und die Kapuze weit ins Gesicht gezogen. Er ging ziemlich zügig und war auch kurz darauf hinter der kleinen Hügelkuppe des Weges verschwunden.
Mein Körper spannte sich automatisch an und ich spürte, wie Hitze in jedes meiner Glieder strömte. Ich drehte meine Musik leiser, um mehr von den Umgebungsgeräuschen hören zu können.
Im gelben Laternenlicht kam er mir dann wieder entgegen. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, ich spürte nur die körperliche Anspannung, als er wieder dicht an mir vorbei ging.
Meine Fäuste verkrampften sich in meiner Jackentasche und ich ging weiter. Ein kleines bisschen schneller als vorher. Auf der Straße angekommen schaute ich mich um und sah nichts. Gut, ich ging die kurvige Straße nach oben. Es war eine Typische kleine Landstraße, kein Mittelstreifen und wenn sich zwei Autos entgegenkamen, hieß es extrem langsam fahren.
Um diese Uhrzeit fuhr hier keiner mehr lang, außer in den nächsten kleinen Ort, kam man hier nur zu den Gartenanlagen.
Langsam beruhigte ich mich wieder und beschloss mein Tempo wieder etwas zu drosseln. Ich ging am Restaurant vorbei und schaute noch einmal über meine Schulter, bevor ich um die Kurve ging. Da war er wieder. Die Kapuze im Gesicht, Hände in den Taschen kam er auf gleichem Wege hinter mir her.
Mein Hirn schien sich abzuschalten. Die Hitze stieg in mir auf und ich nahm automatisch eine Seite meiner Ohrstöpsel heraus. Langsam spannte ich meine einzelnen Muskeln an um eine Art Aufwärmung zu haben. Ich verschwendete keinen Gedanken daran loszurennen. Im Gegenteil, je näher er kam, desto ruhiger wurde ich. Nach kurzer Zeit, hörte ich ihn direkt hinter mir. Er war leicht außer Atem und ich hörte jeden Schritt. Ich wandte mich nicht um, als würde ich ihn völlig ignorieren. Ich weis nicht ob es in verunsichert hat, dass ein junges Mädchen wie ich nicht wegrennt, nicht in Panik gerät. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Mond genau zwischen zwei Bäumen hindurch schien.
In meinem Ohr klang grade „Ich will lieber stehend Sterben, als kniend Leben“, als ich sah, wie ein Strick über meinen Kopf gehoben wurde.
Wie aus Reflex fasste ich mit beiden Händen an meinen Hals um das schneidende Würgen zu unterbrechen. Ich spürte, wie der Strick meine Halsschlagader abdrückte und das Blut in meinem Kopf staute. Zur selben Zeit drehte ich mich ruckartig um, den Ellenbogen gehoben. Dieser traf meinen Angreifer dann auch voll im Gesicht. Ich stand ihm nun direkt gegenüber und spürte, wie der Strick in meinen Hals schnitt. Er riss und ich hielt mich an den Schultern meines Gegenübers fest. Fünf mal rammte ich ihm mein Knie in seine Weichteile. Aus einem Gerangel heraus gelang es mir, ihn auf der anderen Straßenseite zu fall zu bringen. Ich kniete auf ihm und hatte meine Handkante an seinem Hals. Nur ein kurzer Ruck und er könnte nie wieder so etwas tun. In genau diesem Augenblick schossen mir die Worte meines Trainers in den Kopf: „Wenn ihr in eine Schlägerei geratet, bedenkt, dass ihr als ausgebildete Kampfsportler anders reagieren müsst. Ihr müsst die Situation genau abschätzen.“
In diesem Augenblick rollte er sich unter mir hervor und rannte die Straße hinunter.
Mein Adrenalin war scheinbar so hoch, dass ich ihm hinterher rief: „Du Feigling!“, „Renn doch!“, „Feige Sau!“, ich lachte ihn sogar aus. Ich lachte ihm nach. Als ich ihn nicht mehr sah, versuchte ich mich zu beruhigen. Mein ganzer Körper war angespannt und zitterte, erst vor Angst, dann vor Wut.
Ich machte meine Musik wieder an und ging weiter, den Strick noch in meinen Händen. In Hagenest angekommen, zuckte ich bei jedem Geräusch zusammen. An diesem Abend blieb ich bei jedem Hund kurz stehen, der mich ankläffte. Ich ging durch den Ort hindurch und wollte grade auf den Wiesenweg abbiegen, als ich wieder Schritte hinter mir hörte. Vor Schreck fuhr ich herum, Kampfbereit mit jeder Faser meines Körpers. Ein guter Freund hatte mich gesehen und wollte Hallo sagen. Ich schilderte ihm was geschehen ist und ohne zögern holte er sein Auto. Zusammen fuhren wir dann nach Lucka zurück. Wir suchten ihn. Ich wusste, dass es der Typ mit dem kaminroten Subaru war. Nach kurzer Zeit fanden wir ihn auch, wir fuhren ihm hinterher, bis er auf einem kleinen Hof anhielt und im Haus verschwand.
Ich glaube, dass ich damals ziemlich sauer gewesen bin. Wie es meinem Kumpel ging, weis ich nicht genau, mein Gefühl für anderes war irgendwie gestört.
Er brachte mich nach Hause und wartete vor der Haustür.
Relativ gut gelaunt ging ich in die Stube und stellte mich in den Türrahmen. Beide sahen noch fern und ich sagte so beiläufig: „Ich bin grad überfallen worden.“ Beide sahen mich an und glaubten, ich scherze. Ich war dazumal wirklich erschreckend gut gelaunt. Als Dirk mich ansah und bemerkte, dass ein roter Streifen meinen Hals zierte, sprang er sofort auf und rief die Polizei.
Die Nacht wurde noch verdammt lang und die Ermittlungsarbeiten waren eine zusätzliche Katastrophe, aber dazu vielleicht später mehr.

In all den letzten Jahren habe ich es aber glaube ich verpasst, Danke zu sagen.

Stephan, ich Danke dir dafür, dass du sofort für mich da warst, ohne zu zögern! Das werde ich dir nie vergessen!


© Timere Libertati


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