Es gibt Momente im Lauf des Lebens, da kann man kaum glauben, je so gedacht oder gehandelt zu haben. Erst kürzlich kam mir einer dieser Momente. Ich brachte meinen Neffen zu einen dieser Sauf-Schuppen, zu denen man erst geht, wenn die normalen Saufschuppen schon längst geschlossen sind. Da sah ich jemanden oder ich meine denjenigen gesehen zu haben. Vielleicht war er es auch gar nicht, doch das spielt keine Rolle – denn trotzdem erinnerte es mich an die Zeit, als ich um die 15 Jahre alt war und wir jüngere zu Knechten pflegten, wie wir es damals nannten. Jüngere heißt: Alle unter dem Alter des Jüngsten unserer Clique. Also ab elf - alles darunter stand unter Welpenschutz. Das gilt in der Tierwelt und galt sogar bei uns.

Die Formel des Knechten besteht aus Gewalt, den anderen klein zu halten und manchmal sogar eine Prise Erniedrigung oder nennen wir es - ne da fällt mir kein anderes Wort für ein. Geknechtet wurde entweder, wenn die Kleineren frech wurden oder aus Prinzip. Doch versteht mich nicht falsch, wir haben das Knechten nicht erfunden. Auch wir wurden damals von den Älteren geknechtet und selbst unsere damaligen Knechter wurden wahrscheinlich zuvor geknechtet. Da steckt Tradition dahinter, eine Art Aufnahme ins „Jugendlich werden“.

Damals waren wir die Jüngeren und wurden geknechtet. Doch nicht immer. Zeigte man Respekt und ärgerte man die Älteren nicht, hing es davon ab, ob ihnen deine Nase passte oder ob man einen älteren Bruder hatte. Meine Nase war damals schon ziemlich markant und einen älteren Bruder hatte ich nicht, zumindest nicht in Wirkungsnähe. Soviel zu damals.

Jetzt zu der Situation, die ich eigentlich erzählen wollte. Wir waren also am Zug. Die alten beendeten die Schule und gingen in die Lehre. Was hieß, man sah sie nicht mehr am Schulhof oder auf dem Bolzplatz rumlungern. Jetzt wurden wir einst Geknechteten zu den Knechtern. Und das musste gleich bekannt gegeben werden. Denn die Jungen schienen so, als müsse man sie daran erinnern. Ein Exempel musste statuiert werden. Wir, vier Jungs. Drei von uns gingen auf die gleiche Schule, jedoch in andere Klassen. Der andere ging in die Schule im nächsten Ort. Die Aufmüpfigen teilten sich ähnlich auf wie wir. Perfekt also. Jeder sollte sich einen vornehmen und klar machen, wer jetzt der Chef ist. Ähnlich soll es auch in den Favelas in Brasilen zugehen oder in der Bronx in New York. Überall glaube ich, wo es Jugendliche gibt, die in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen. Da kommen wir auch schon zu dem komischen Beigeschmack der Geschichte. Wir kamen nämlich alle aus Bürgerlichen Verhältnissen. Wir mussten keine Reviere verteidigen, um unseren Drogenhandel am Laufen zu halten. Unsere Art des Knechtens hatte keinen tieferen Sinn. Es war eine Art rudimentäres Organ, wie ein Weißheitszahn oder der Blindarm. Ein rudimentäres Knechten also.

Hätte man das den vier Jungen Typen damals gesagt, würden sie anderes behaupten. Wahrscheinlich würde einer sagen, es gehe um Respekt. Die anderen würden vermutlich nicken. Und vielleicht, ganz vielleicht würde einer sagen: Außerdem wurden wir auch geknechtet. Das sind zwei schlagfertige Argumente. Respekt ist Respekt! Ein Totschlag Argument ¬- in positiver Hinsicht. Was will man gegen Respekt einwenden. Nichts! Und wer es tut, macht sich unbeliebt. Genau so, wie wenn man die Schattenseiten von Freiheit vertreten möchte. Keine Chance. Das zweite Argument: Tradition. Auch das Wort ist eines dieser Unanfechtbaren.

So knechteten wir die Aufmüpfigen nun systematisch. An der Bushaltestelle, auf dem Weg zu Schule. Eben da, wo man sich begegnete. Die Waffen bestanden hauptsächlich aus zwei Händen und Beinen und den weiterentwickelten Körper. Da gibt es also das auf die Schulter schlagen. Ein Klassiker. Die Steigerung ist ähnlichen, nur am Schenkel. Da wird dann aber nicht mit der Faust draufgehauen, sondern mit dem Knie. Auch Hirsch genannt. Tut sau weh. Die ersten fünf Minuten denkt man, man könne nie mehr laufen. Doch danach ist alles wieder gut.

Soweit zur Methode, jetzt zurück zum Exempel. Wir setzten unseren Plan durch. Alle wurden behandelt. Erfolgreich. Nun war Ruhe und keiner von Ihnen war jetzt mehr frech. Zumindest die nächsten Wochen. Dann musste all das wiederholt werden oder man teilte sich die Arbeit auf und verpasste Ihnen hin und wieder ohne Grund einen Schlag auf den Oberarm. So war das damals, bis man selber irgendwann fertig mit der Schule war und die einst Geknechteten die ganze Geschichte bei den wiederum Kleineren anwandte. Vermutlich. Sagen kann ich es nicht, denn von nun an hing ich weder auf dem Schulhof noch am Bolzplatz ab.
Und jetzt, gut Zehn Jahre später trifft man hin und wieder einen dieser Typen, die man damals knechtete. Und selbst nach so langer Zeit fordert man ein respektvolles Nicken des Anderen, um danach zurück zu Nicken. Manche kommen sogar und geben einem die Hand. Dann gilt es auch Respekt zurück zu zollen. Schließlich haben sie damals das Ritual, die Aufnahme oder was auch immer das gewesen sein soll, bestanden. Groll scheinen sie jedenfalls keinen zu haben. Und die Erklärung, dass sie einen grüßen oder sogar ehrfürchtig die Hand geben, liegt auf der Hand. Schließlich waren wir damals wie ein Vater zum Kind. Oder wäre es verrückt zu behaupten, dass wir nur das Beste für sie wollten?


© @theDude


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Beschreibung des Autors zu "Knechten und geknechtet werden"

Kinder können grausam sein, Jugendliche noch viel grausamer. Nach zehn Jahren ist es Zeit für ein bisschen Reflexion.

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