Regenzeit
Es regnet immer noch, der Regen ist sogar noch stärker geworden. Die Straße ist kaum noch zu erkennen, wenn man hier überhaupt von Straße sprechen kann. Der Schlamm spritzt hoch bis zur Windschutzscheibe. Unser PickUp rumpelt über die Strecke. Ich bin froh, dass Christoph zu Hause bei Conzuela geblieben ist.
„Was hast du eigentlich alles gekauft?“, will Ryan wissen, er wirft mir einen flüchtigen Blick zu.
„Nichts Besonderes. Ein Paket Windeln, Tampons, ein bisschen Breipulver, ich hoffe das ist durch die Feuchtigkeit nicht schon zu Brei geworden! Möchtest du was trinken? Ich habe eine Flasche Wasser.“ Ich halte die Wasserflasche hoch und schwenke sie hin und her.
„Ja, gibst du mir die Flasche?“ Ich reiche ihm die geöffnete Flasche, er nimmt einen kräftigen Schluck. „Was hast du da, Dan?“
„Nüsse. Möchtest du auch welche?“ „Ja, du hättest mir aber auch direkt welche anbieten können!“, meint er. „Wirst du jetzt pingelig, Ryan?“ Ich werde hart gegen das Seitenfenster gedrückt, gleich-zeitig rutsche ich nach vorn.
„Nein, du bist nur einfach unhöflich. Außerdem nervt mich die Stra…“ Irgendwie war ein seltsames Geräusch zu hören, ich kann nicht orten was es ist. „Was ist los!“, frage ich erschreckt nach. „Scheiße! Wir stecken in einem dieser verdammten Schlaglöcher!“
„Was willst du damit sagen?“ „Wenn jetzt nicht auf der Ladefläche ein verstecktes Brett liegt, von dem ich nichts weiß, sitzen wir hier fest!“
„Das ist ein Witz, oder?“, vermute ich. Ryan sieht mich an, nun weiß ich, dass es kein Witz ist. Er steigt tatsächlich aus, um auf der Ladefläche nach zu sehen. Dann geht er einmal um den Wagen und steigt wieder ein. Das Wasser läuft, ihm aus den Haaren. Ich reiche ihm eine Babywindel, mehr zum Aufsaugen als zum Abtrocknen. „Und wie sieht es aus?“, wage ich zu fragen.
„Schlecht! Wir sind etwas von der Straße abgekommen. Die Schlaglöcher neben der Spur sind tie-fer. So kommen wir da nicht raus. Wir brauchen Hilfe.“ Er fuchtelt mit seinen Händen herum.
„Du meinst wir sind nicht in einer halben Stunde zu Hause?“ Ich sehe ihn an.
„Nein, wohl kaum“, sagt er ganz leger. „Was sollen wir jetzt tun, Ryan?“ Er starrt nach draußen.
„Keine Ahnung! Da die Wahrscheinlichkeit, dass hier jemand vorbei kommt, nicht sehr groß ist, können wir hier sitzen bleiben, bis von uns nur noch Skelette über sind.“
„Conzuela wird uns vermissen. Sie wird bei der Polizei anrufen und die suchen uns“, versuche ich ihm klar zu machen. „Daniela, bei diesem Wetter geht niemand raus und schon lange nicht die Poli-zei. Vor allem sind wir keine vermissten Kinder und wir sind nicht in Europa.“ Er sieht mich an und
hält seinen Zeigefinger in meine Richtung
Das Ganze macht mich etwas nervös. Er denkt, das sieht man immer sehr deutlich. Sein Blick wird starr, seine Kiefer verhärten sich und fast könnte man meinen sehen zu können wie sein Gehirn ar-beitet.
„Ryan, wir müssen nach Hause!“
„Sicher müssen wir das. Ich hatte nicht vor hier zu überwintern.“
„Du verstehst nicht!“
„Da gibt es nichts zu verstehen. Es ist klar, dass wir nicht bleiben können.“ Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her. „Nein! Ja! Natürlich du hast recht, aber das meine ich nicht!“ Er sieht mich scharf an. „Ich weiß nicht, was es da zu meinen gibt?! Wir sollten versuchen zu Fuß in dieses Dorf zu kommen. Du weißt schon, wo wir Weihnachten und Neujahr waren“, erklärt er mir.
„Das schaffe ich nicht!“ „Weshalb solltest du das nicht schaffen? Ich steige jetzt aus, hole die kleine Abdeckplane von der Ladefläche und unter deren Schutz marschieren wir los!“, fordert er doch tat-sächlich. Noch bevor er die Wagentür wieder öffnet, sage ich: „ Ryan ich kann nicht! Ich muss aufs Klo!“
„Tu dir keinen Zwang an, Dan!“
„Haben wir hier vielleicht eine Bordtoilette?“ Ich schwenke meine rechte Hand in seine Richtung.
„Daniela, da draußen ist Platz satt! Großes oder kleines Geschäft?“ Er beschreibt einen großen Kreis mit seiner Linken.
„Klein“, gebe ich ihm kleinlaut zu verstehen, „da draußen kann mich aber jeder sehen!“
„Daniela, da draußen ist kein Mensch! Wenn jemand da wäre, hätten wir kein Problem! Du wirst nicht einmal Spuren hinterlassen!“ Ein wenig überlege ich noch, ich bin unschlüssig.
„Pass auf, Daniela! Ich steige jetzt aus und hole die Plane. Du kannst in der Zwischenzeit dein Re-genhütchen aufsetzen und nach draußen zum Pinkeln gehen! Wenn du fertig bist, marschieren wir los!“, macht er unmissverständlich klar und öffnet die Tür. „Los!“, schreit er noch mal in den Wa-gen. Gut, ich tue wie mir geheißen. Ryan kommt mit seiner Plane um den PickUp herum und lacht, ich finde es nicht witzig. „Was ist daran so lustig?“, blaffe ich ihn an.
„Deine Anstellerei, Dan! Das ist lustig.“
„Ich bin eben gut erzogen!“, gebe ich zurück.
„Was hat das mit Erziehung zu tun? Wen man muss, dann muss man eben! Wenn ich müsste, würde ich auch in die Botanik pinkeln!“
„Ja, das kann ich mir vorstellen! Du hast ja wohl überhaupt keine Hemmungen, oder?“
„Das hat doch nichts mit Hemmungen zu tun. Das sind Grundbedürfnisse! Wenn ich weinen muss, dann weine ich auch. Bin ich wütend, dann lasse ich es auch raus, auch wenn ich wo gegentrete. Na und! Im Gegensatz zu dir werde ich jedenfalls keine Magengeschwüre bekommen“, erklärt er mir. Ich stehe da mit offenem Mund.
„Ja ich weiß schon, dass du ein richtiges Arschloch sein kannst!“, schreie ich ihn an.
„Richtig, so ist es Dan!“, gibt er mir zurück und küsst mich auf den Mund.
„Sollten wir nicht noch ein paar von den Nüssen mitnehmen? Falls wir Hunger kriegen?“, frage ich, mehr um in die Normalität zurückzukommen. „Ja, auch das Wasser. Wenn du noch was Essbares hast, außer den Brei, dann gib es auch her. Es passt bestimmt alles irgendwie in unsere Mantelta-schen.“
Schon stapfen und schliddern wir durch die Gegend. Wir haben die Plane über unsere Köpfe gezo-gen und jeder von uns hält ein Ende fest. Ansonsten gehen wir Hand in Hand. „Weißt du überhaupt, in welche Richtung dieses Dorf liegt?“, will ich wissen.
„So ungefähr“, gibt er mir zu verstehen. „Wenn wir es nicht finden, finden wir dann wenigstens un-ser Auto wieder?“
„Ich hoffe es“, sagt er in aller Seelenruhe. Meine Hose ist unterhalb des Regenmantels total nass. Gut, das wir beide hohe Wanderschuhe anhaben. Der Schlamm bleibt zum Teil richtig daran haften, was das Gehen erschwert. Auch könnte ich mir vorstellen, dass wir Schlüpfschuhe vielleicht schon verloren hätten. Der ganze Marsch ist unglaublich anstrengend. Trotz der Kälte kommen wir ganz ordentlich ins Schwitzen. Zwischendurch genehmigen wir uns ein paar von diesen Nüssen und trin-ken einen Schluck. Über alles andere versuche ich nicht nachzudenken. Ich laufe einfach mit. In-zwischen ist es schon dunkel geworden. Jetzt sieht alles noch trostloser aus. Ich will nach Hause. Mich betrübt das Ganze. Ryan bleibt stehen.
„Was ist?“, will ich missgelaunt wissen.
„Psst!“, macht er, lässt meine Hand los und hält seinen Zeigefinger vor seine Lippen. Panik steigt in mir auf. Wer weiß, vielleicht gibt es hier gefährliche Tiere, Schlangen, Pumas und der gleichen..
„Hör mal! Das ist doch eine Kirchenglocke!“, macht Ryan mir klar. Ich versuche, ganz genau hin-zuhören.
„Ja, du hast recht. Es ist eine Glocke.“ Unsere Richtung ist also richtig. Wir strengen uns an, unsere Schritte werden schneller. Nach ungefähr zehn Minuten, weiteren rutschen und Rennens, sehen wir von Ferne den Glockenturm der kleinen Kirche. Völlig durchweicht klopfen wir an die Pforte des Pfarrers. Vermutlich war noch nie einer von uns beiden so froh, so schnell, in ein Pfarrhaus einge-lassen zu werden. Ryan, dessen Spanisch noch immer besser ist als meines erklärt die Lage. Die Haushälterin des Pfarrers bringt uns heißen Tee und wir dürfen uns vor einen Kamin setzen. Dar-über sind wir sehr dankbar. Es dauert eine Zeit, dann steht der Pfarrer vor uns in Gummistiefeln und Regenmantel mit passendem Hut. Er winkt uns zu sich her. Wir folgen dem Aufruf. Vor dem Pfarr-haus steht ein Trecker. Wir sind schon ein wenig irritiert. Dennoch steigen wir ein, es ist zwar ein bisschen eng aber es geht.
„Der Traktor gehört der Gemeinde. Eine Familie allein könnte sich das nicht leisten. Also haben wir uns zusammengetan. Damit es keine Streitereien gibt, ist das Fahrzeug bei mir untergestellt. Ich führe auch einen Benutzungsplan. Es muss alles seine Ordnung haben“, erklärt uns der Pfarrer, während er mit uns unterwegs zu unserem PickUp ist. Ryan wechselt noch einige Sätze mit dem Geistlichen, worüber verstehe ich nicht, der Trecker ist einfach zu laut. Unser Auto ist ziemlich schnell aus dem Loch gezogen, der Pfarrer gibt noch einige Tipps für das Fahren auf dieser aufge-weichten Strecke. Und schon sind wir unterwegs nach Hause.
Zu Hause gehen wir erst einmal unter die Dusche, damit wir wieder richtig warm werden. Conzuela stellt uns heiße Suppe hin und Tee. Den Rest des Abends gestalten wir ruhig und kuschelig. Bevor wir zu Bett gehen, sehen wir noch nach unserem Kind, wie wir es immer tun. Es stimmt mich ein wenig traurig, dass ich den Kleinen heute fast nicht gesehen habe. „Ryan“, sage ich, als wir schon im Bett liegen, „ich muss ja noch diesen Mr. Landsley anrufen. Zeitlich ist es jetzt gerade günstig. Ich gehe eben nach unten und sage ihm bescheid. Bis gleich.“ Noch schnell einen Kuss und schon springe ich aus dem Bett.


© IDee


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Beschreibung des Autors zu "Regenzeit"

Leseprobe, aus meinem Roman "Zeitweise, oder die Reise nach Exilien"
Es ist der zweite Band, aus dem Leben zweier Menschen, die mühselig zusammenkamen und ihr gemeinsames Leben zwangsweise vollkommen ändern mussten um zusammen bleiben zu können.

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