7 Strandkörbe

Annoncen:
Wer wagt mit mir einen Neubeginn? Bin Mitte fünfzig...
Möchtest du auch nicht mehr allein sein und die 2. Hälfte des Lebens mit mir teilen?
Bin 53, ...
2. Hälfte? viel vorgenommen
... Schmusemaus sucht Schmusekater für Neubeginn...
echt krass!
Junger Mann, 56, möchte mit dir durch dick und dünn gehen und die schönen Seiten des Lebens kennen lernen...
na, denn man los, Zeit wird’s ja. Wo geht dein Dünn los?
...Noch einmal lieben, tanzen lachen, die zweite Hälfte des Lebens genießen...
ach, zweite Lebenshälfte, da sind wir wieder!

So weit bin ich also schon, Annoncenteil. Na, toll!
Man kann nicht neu beginnen. Nicht mit Anfang 50. Das ist Quatsch. Man hat seine Engramme, sich im Leben eingerichtet, aus seinen Fehlern gelernt und würde doch so manchen genauso wieder machen, weil man eben ist wie man ist.
Fehler habe ich gemacht. Und was für welche! Aber nur einen gravierenden, das weiß ich jetzt erst. Wenn’s dem Esel zu gut geht... Und gut ging es mir. Über 23Jahre verheiratet, gab eigentlich außer dem üblichen Kram nichts zu meckern. Na ja, von den Streitigkeiten abgesehen, die überall vorkommen. Und bei zwei Kindern gibt es schon ein paar Meinungsverschiedenheiten. Doch die Mädchen waren aus dem Haus, jetzt ging es uns richtig gut. Ich war in meinem Job zufrieden, ja, viel Arbeit, zu viel, als dass es groß zu Klatsch und Tratsch unter den Kolleginnen kommen konnte. Nachmittags kam ich todmüde nach Hause, dann war aber alles fertig, Peter war im Vorruhestand. Kaffee kochte er, Kuchen wurde regelmäßig von ihm selbst gebacken. Ich glaube nicht, dass ich diese Vorteile noch groß schätzte. Vielleicht hätte er öfter betonen sollen, dass ich ihm fehle. Aber so war es gar nicht! Er genügte sich selbst, hatte immer was zu tun. War handwerklich ein absolutes Genie. Egal, welche extravaganten Vorstellungen ich in unserer exquisiten Behausung ausheckte, er bewerkstelligte alles mit unglaublicher Präzision und Geschick. Er rauchte auch nicht, trank nicht, Fußball ließ ihn kalt, und wenn ich abends nicht wollte, weil er eben immer nur abends wollte, brachte er Verständnis auf. Peter war immer zufrieden. Mit allem.
Ich hatte aber vom Leben noch ein bisschen mehr erwartet, seine Zufriedenheit ging mir auf den Wecker. Immer nur zu Hause, zu den wenigen Einladungen, die wir bekamen, musste ich ihn fast hinprügeln. Und dann saß er da und sagte weder muh noch maff. Wenn ich ihn später zur Rede stellte, kam lakonisch, was sollte ich denn wann erzählen, du hast doch die ganze Zeit. Ja, musste ich ja, wenn er nicht, ach hör auf, es war die Luft raus. Dann trennte sich Ines von ihrem Mann, Barbara kurze Zeit darauf auch. Die zwei machten vieles gemeinsam, Kino, Disco, Urlaub, wirkten entspannt und lebensfroh. Jedenfalls kam mir das so vor. Und plötzlich hatte ich auch den ganzen Alltagskram satt, wollte raus. Einen Neuanfang...siehe oben. Wie unreif das war, weiß ich inzwischen, hinterher ist man ja immer klüger. Ich wollte mir eine eigene neue Welt aufbauen. Allein! Jawohl. Midlifecrisis? Peter reagierte geschockt, konnte es nicht verstehen. Aber ich blieb bei meinen Vorstellungen von einem freien Leben.
Als dann alles halbwegs meinen Vorstellungen entsprach, ich brauchte viel Hilfe, denn Peters Fähigkeiten konnte ich nun schlecht noch in Anspruch nehmen, war ich stolz auf mich. Ja, auch das noch! Allerdings nur kurze Zeit, denn der geträumte Traum vom „NURFÜRMICHDASEIN“ wurde schnell zum Alptraum, ich fühlte mich einsam. Als ich ein knappes halbes Jahr später erfuhr, dass Peter eine Neue hat, fiel ich aus allen Wolken. Peter und eine Andere? Wie ging das denn? Ich habe ihn gehörig unterschätzt, meinen Mann. Exmann! Die Vorstellung, die Andere würde das langweilige Leben an seiner Seite auch recht bald satt haben, konnte mich nicht erheitern. Nicht wirklich. Sie haben sogar sehr schnell geheiratet. Dass warf mich aus dem Gleis. Schwer zu begreifen, aber mein größter Fehler ist nicht korrigierbar. Und ich wäre doch so gerne... ach, Peter!

Passiert ist passiert und für mich musste sich etwas ändern, so ging es nicht weiter. Diese entsetzliche Einsamkeit. Fotoclub, Nordic walking, Kulturbund, Tanzstunde für Erwachsene, Englischkurs, alles schön und gut, aber kein Ersatz für einen Partner. Die Annahme, bei solchen Gelegenheiten auf Gleichgesinnte zu treffen und auf diese Weise wieder eine Zweisamkeit aufzubauen, bei mir jedenfalls hat das nicht geklappt. Eine Weile habe ich auf den Zufall vertraut, dabei kann man alt und grau werden, besser wird nichts. Na ja, kurz um, ich hatte mich entschlossen, selbst aktiv zu werden. Ich weiß nicht, wie viel zerknüllte Papierbällchen allein bei dem Entwurf für eine Anzeige auf meinem Tisch und darunter lagen, irgendwie sollte mit möglichst wenigen Buchstaben viel aussagekräftiges Potential rübergebracht und jegliche Konkurrenz von vorn herein ausgeschaltet werden.
Fünfzig Euro habe ich schließlich für folgende Worte berappen müssen:
„Es ist nicht wichtig zu wissen, dass ich blond, 1,60 groß und Krankenschwester bin. Aber vielleicht, dass ich gerne tanze, Musik liebe, Wert auf gute Unterhaltung und einen gepflegten Lebensstil lege...“
Tja.
Als ich die Anzeige aufgegeben hatte, das war mir anfangs peinlich, ging es mir besser. Ich war beschwingt wie lange schon nicht mehr, hatte jetzt schon Schmetterlinge im Bauch. Endlich raus aus der Lethargie! 14 Tage sollte ich einplanen. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich bereits durch Postberge wühlen.
Vier Zuschriften bekam ich. Bisschen mager für fünfzig Euro.
Die erste Verabredung in einem kleinen Cafe fand an einem Mittwoch Nachmittag, um
16:00 Uhr statt. Um vier war ich morgens wach, nichts hielt mich mehr im Bett, und so ging ich gleich in die Maske. Welche Verschönerungsmaßnahmen mir einfielen, wie viel bedacht, verworfen, bezweifelt wurde, das würde jetzt hier den Rahmen sprengen. Jedenfalls reichten die 12 Stunden knapp, ich musste mich beeilen, pünktlich zu sein. Auf mein mulmiges Gefühl möchte ich nicht näher eingehen, ich glaube, in diese Situation kann man sich gut hineinversetzen.
Der einzelne Herr in der Ecke am Fenster stand gleich auf, kam mir entgegen, nahm mir den Mantel ab, rückte meinen Stuhl in nötige Position und setzte sich erst, nach dem ich Platz genommen hatte. Bingo! Das war mir schon lange nicht mehr passiert, hatte ich schon ganz vergessen. Er bestellte ohne Frage ein Glas Sekt für mich, für sich das zweite, wie ich aus dem leeren Glas vor ihm schloss, lehnte sich behaglich zurück und wir begannen eine seichte Konversation, die ein gegenseitiges Abtasten erlaubte.
Er war ganz Mann. Und ich Frau, ich merkte es seit langem wieder. Da war sie noch, die Lust am Flirten, oh ja, ich hatte es nicht verlernt. Der Sekt kam, wir stießen an. „Auf uns“ kam ihm ganz selbstverständlich von den Lippen. „Auf uns“, auch ich hatte keine Schwierigkeiten mit diesen Worten zu meinem eben noch wildfremden Gegenüber. Wir lagen von Anfang an auf einer Welle, ich konnte es kaum fassen. Mit leisem Bedauern schaute ich auf meine Uhr, in einer Stunde hatte ich bereits Verabredung Nummer zwei. Ich verspürte keinerlei Lust und dachte gerade darüber nach, sie nicht einzuhalten, als mein Gegenüber die Schultern hob und mir zu verstehen gab, bedauerlicher Weise nicht länger bleiben zu können. Er bat jedoch um ein Wiedersehen. „Nächsten Mittwoch, gleiche Zeit, bei dir?“ Die Direktheit überraschte mich, natürlich stimmte ich zu und hatte gleich eine Menge Pläne, welche Annehmlichkeiten diese Zweisamkeit bereichern könnten. Kulinarischen Köstlichkeiten, richtige Beleuchtung, geeignete Musik, und, und, und...
Ich greife mal vor, um die Sache abzukürzen, er kam eine knappe Stunde zu spät, der Grund, eine Zusammenkunft seines Fußballvereins. Diese Stunde hat mich wieder auf den Boden der Tatsachen geholt. Als es dann endlich klingelte, stieg die dumme Gans, zu der ich mich inzwischen klein geschimpft hatte, wie Phönix aus der Asche. Es wurden wunderschöne Stunden, die Leiden des ungewissen Wartens schnell vergessen. Seine klar formulierten Vorstellungen vom Dessert irritierten mich anfangs. Sicher deckten sie sich auch mit meinen, Erotik war in letzter Zeit in meinem Leben zum Fremdwort geworden, aber so in aller Deutlichkeit, das ließ schon ein wenig Romantik vermissen. Na gut, wir waren keine Teenis mehr.
Es wurde heiß! Wir harmonierten prächtig, um so schockierender war es dann, dass er nicht blieb. Nicht diese Nacht und auch keine andere. Am Wochenende stellte er mir seine Harley vor. Ich wusste schon, dass sie seine große Liebe war, hätte damit aber gut leben können. Die Vorstellung einer Motorradbraut erheiterte mich, ich stellte mich gedanklich darauf ein, mich mit ihm in die Kurven zu legen.
Meine Erwartung, er würde mich nun zu einer Spritztour bitten, erfüllte sich nicht. Mir fiel auf, dass der Sozius durch eine Tasche blockiert war, das sah nicht gerade nach einer Einladung aus. Was noch viel enttäuschender war, er kam nicht mit in die Wohnung.
Bei dem herrlichen Wetter wollte er lieber die Natur genießen, und zwar allein.
Ich habe das Wochenende auf Balkonien verbracht, mit einem guten Buch, von dem ich keine einzige Seite verinnerlichen konnte. Ein paar mal haben wir noch zusammen geschlafen, es hat eine Weile gebraucht, bis ich begriff, was er unter einer schönen zweiten Lebenshälfte verstand. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf, das war schon vorauszusehen und schmerzte trotzdem.
Von den anderen Bewerbern gibt es nur folgendes zu erzählen, die Verabredung, die ich an dem bewussten ersten Abend noch hatte, erübrigte sich sofort. Ein Blick durch das Fenster genügte.
Die dritte Begegnung war sehr amüsant, das einsame Herz schied aber gleich aufgrund seines Alters aus. Er war 75, ein Käptn im Ruhestand. Zum Verlieben sympathisch. Und so charmant! Er lebte schon lange allein. Seine Lebensgefährtin starb in jungen Jahren, ein Sohn ging aus der unehelichen Beziehung hervor, er hat sich nicht wieder gebunden. Die Großmutter zog den Jungen auf.
Er, mein Käptn, hatte genug von der Welt gesehen, war sehr gut situiert, wie er betonte, und wollte nun seinen Lebensabend nicht alleine verbringen. Er lebte auf der nahe gelegenen Insel Poel und bewohnte dort ein kleines Häuschen ganz nah am Meer. Die Zeit mit ihm verging schnell, selten habe ich mich so wohl gefühlt. Es fiel mir schwer ihm sagen zu müssen, dass aufgrund des Altersunterschiedes eine engere Bindung nicht in Frage käme.
„Ein Versuch war’s wert, meine Kleine“, sagte er, „schade. Aber wenn die anderen Kerle nichts taugen, komm wieder, ich warte auf dich. Und ich bin treu wie Gold“.
An diese Begegnung dachte ich gerne. Ich besuchte ihn im Sommer oft, kochte manchmal für uns, und es entwickelte sich eine Bindung, die uns beide beseelte. Von seinem unerwarteten Tod erfuhr ich aus der Zeitung. Er hat mich tief erschüttert.
Die Geschichte mit meinem vierten Herzblatt begann vielversprechend. In erster Linie suchte er eine Partnerin für sein Hobby, den Gesellschaftstanz. Nur allzu gerne war ich dazu bereit. Auf diese Weise hatte man neben dem Vergnügen des Tanzens Gelegenheit, sich genauer kennen zu lernen. Wir besuchten einen Kurs, kamen uns näher, allerdings nicht so nahe, wie ich gehofft hatte. Er tanzte fantastisch. Ich konnte die Zeit bis zum nächsten Wiedersehen kaum abwarten, aber er meldete sich nicht ein einziges Mal zwischendurch. Irgendwann erschien auch er überhaupt nicht mehr. Man kann sich kaum vorstellen, wie ich auf einen Anruf gewartet habe. Ich nahm das Handy sogar mit in die Badewanne, um keinen Anruf, keine Nachricht zu verpassen. Aber es gab nichts zu verpassen. Es blieb stumm. Meine SMS wurde genauso wenig beantwortet. Er verschwand lautlos aus meinem Leben. Das trug nicht gerade zu meinem Selbstbewusstsein bei.


Tja, Anzeigen. Manchmal habe ich noch Anzeigenseiten gelesen und mich mit den einsamen Herzen irgendwo da draußen verbunden gefühlt, aber ich musste hinnehmen, dass man mit über fünfzig keine großen Aussichten mehr auf eine neue harmonische Bindung hat. Solche Erkenntnis ist niederschmetternd. Die einsamen Sonntage...Und Weihnachten! Die Vorstellung, ein Weihnachtsfest einsam zu verbringen, oder noch schlimmer, notgedrungen einer gut gemeinten Einladung folgen zu müssen, ist eine Horrorvision. Und alle Jahre wieder folgt der Vorstellung die Realität. Alle Jahre wieder, unentrinnbar...

Mein Leben lief also nun wieder im alten Trott. Es gab kaum Höhepunkte. Im Gegenteil. Finanziell nagte ich zwar nicht am Hungertuch, bescheidene Anschaffungen konnte ich mir schon erlauben, sie mussten natürlich gut kalkuliert werden. Meine eiserne Reserve, das kleine Erbe meiner Mutter, blieb in Hinterhand. Sorgen machte mir mein altes Auto. Ein Auffahrunfall, ich war in Gedanken versunken als es knallte, hat ein ganz schönes Loch in meine Sicherheiten gerissen. Der Kerl in der alten Schrottkiste vor mir war unverschämt in seinen Forderungen, machte eine gütige Einigung unmöglich. Folglich erhöhten sich meine Versicherungsbeiträge. Außerdem Mehrwertsteuer, Benzinpreise, na, ich brauche nichts zu sagen, von Krösus konnte keine Rede sein. Es blieben viele Wünsche offen.
Und dann dieser Dienstag. Von Anfang an ging alles schief. Ich kam völlig entnervt vom Dienst. Im Postkasten lag eine Nachricht, dass eine Postsendung auf mich wartete. Ich konnte mir gar keinen Reim daraus machen und war beunruhigt. “Sie können die Sendung dann und dann abholen“, Zeit und Ortsangabe, “heute jedoch nicht“. Das machte mich verrückt. Es konnte nur etwas Unangenehmes sein. Ging es noch um den Unfall? Wurde ich geblitzt? Ich schlief schlecht in dieser Nacht, musste am nächsten Tag noch länger arbeiten und reihte mich später in eine lange Schlange Wartender am Postschalter ein. Nach längerem Suchen bekam ich endlich meinen Brief. Nun wurde ich erst recht unruhig. Notariat Dr. Gunnar Nitz, so der Absender. Kannte keinen Nitz. Ganz gegen meine Gewohnheit riss ich den Umschlag gleich im Auto auf.
Ich will es kurz machen. Ich wurde aufgefordert, mich wegen einer Erbschaftsangelegenheit bei besagtem Dr. Nitz zu melden. Es ging um den Nachlass meines Käptns. Er hatte mich tatsächlich bedacht. Sollte das auch für mich mal nach warmem Regen aussehen? Ich wollte mich nicht freuen, um mir Enttäuschung zu ersparen, Zweckpessimismus, aber die prickelnde Erregung ließ sich nicht unterdrücken. Gleich am nächsten Tag bekam ich einen Termin.
Donnerstag, 16:00 Uhr. Selten ist die Zeit so zähflüssig verstrichen.
10 vor 4 betrat ich das Büro. Die Sekretärin, ungefähr mein Jahrgang, sehr gepflegt und zuvorkommend, war schon im Begriff zu gehen. Sie bat mich noch einen Moment um Geduld. „Dr. Nitz telefoniert noch, mich entschuldigen Sie bitte“, rief sie mir im Gehen zu.
Nun hatte ich etwas Zeit, mich in dem geschmackvoll eingerichteten hellen Raum umzusehen. Schwarze Ledersessel, Acryltisch, große Fenster, exotische Pflanzen. Im Zeitungsständer aktuelle Zeitschriften für gehobene Ansprüche, sprich: Spiegel, Focus, Die Zeit. Ich griff wahllos zu einer Zeitschrift. Die Tür zum Nebenraum war geöffnet. Ich konnte es nicht verhindern, das Gespräch mit anzuhören. Die Stimme des Sprechers war angenehm.
Er sorgte sich um Biene. Zweifelsfrei lag sie ihm sehr am Herzen. „ Pass gut auf meine Dame auf“ bat er, bevor er das Gespräch beendete. Ich verspürte einen kleinen Stich in der Herzgegend. Um mich hatte sich schon so lange keiner mehr gesorgt. Dann öffnete sich die Tür weiter und ein kleiner rundlicher Endfünfziger, nicht wesentlich größer als ich, bat mich herein. Entschuldigend wies er auf das Telefon, wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus, dann kam er zur Sache. Er wirkte sympathisch, vielleicht durch seine angenehme Stimme, vielleicht durch die Ruhe, die er ausstrahlte, vielleicht nur, weil er ein männliches Wesen war und ich langsam dafür anfällig wurde.
Mein Käptn hatte mich also bedacht. Ich wusste, dass er vermögend war, hatte aber mit keiner Silbe für möglich gehalten, jemals damit konfrontiert zu werden.
Aber es ging nicht um Geld, wie sich schnell herausstellte. Auch nicht um ein Auto, ein Haus, ein Grundstück, ich erbte, man glaubt es nicht, sieben Strandkörbe!!!
Ich war sprachlos. Auch enttäuscht. Zunehmend mehr. Mein Käptn hatte nebenbei ein paar Strandkörbe vermietet, das wusste ich, er sagte immer, dass das ein recht amüsanter Zeitvertreib wäre, ja, schön und gut, für ihn, er hatte Zeit. Aber ich? Und dann noch auf der Insel Poel, 17 Kilometer von meinem Aktionsradius entfernt.
Mein Gegenüber sah mir die Enttäuschung an. Er grinste, jedenfalls schien es mir so, und nachdem ich mich etwas besonnen hatte, wollte er wissen, ob ich die Erbschaft annähme. Da war ich mir nun gar nicht so sicher. Was sollte ich damit anfangen? Im Winter brauchte ich eine Unterstellmöglichkeit und im Sommer? Da müsste ich wahrscheinlich Pacht bezahlen, schließlich würden sie auf Gemeindeeigentum stehen. Weiter hieß das, Steuern zahlen. Das Finanzamt steht doch immer als erstes auf dem Plan. Wer sollte sich überhaupt darum kümmern, die Körbe täglich, zumindest in den Sommermonaten, an den Mann, sprich Urlauber, zu bringen?
Ich musste mein Geld noch ein paar Jahre auf herkömmliche Weise erarbeiten. Also, nur Probleme. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte die Tür geknallt.
„Nein“ sagte ich fast tonlos. „ Ich will... ich kann.. und überhaupt, ich...“ so ähnlich muss ich blöde Gans reagiert haben. Und der grinste. Na, ich will nicht ungerecht sein, er sah mich mit sehr verständnisvollem warmen Lächeln an.
„Frau Gerlach, ich kann mir gut vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Sie brauchen ein wenig Bedenkzeit. Schlafen Sie darüber, ich rate Ihnen dringend, schlagen Sie die ungewöhnliche Erbschaft nicht gleich aus. Machen wir doch einen erneuten Termin fest, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.“
Sein Telefon klingelte. Während ich immer noch benommen und enttäuscht auf meinem Stuhl klebte, rief er in den Hörer. „Komme!! Ist ein bisschen später geworden. Vertröste Biene noch einen Moment. Was gibt es zum Abendbrot?“ Lächelnd sah er dabei auf das vor ihm stehende Bild.
Der hatte Sorgen. Auf mich wartete nix und niemand und schon gar kein Abendbrot. Dem kleinen Dicken hier schien das aber ungeheuer wichtig zu sein. Er war sehr sympathisch, das musste der Neid ihm lassen. Ich würde gern mal wieder für zwei kochen. So richtig schön, 5 Gänge Menü, zu jedem den passenden Wein, Klassik dezent im Hintergrund, ach, ich durfte gar nicht weiter denken. Ich stand auf. Jetzt hatte ich es eilig. Ich wollte nichts lieber, als schnell nach Hause um mal so richtig herzhaft loszuheulen. Wir verabredeten einen neuen Termin, ich rannte zum Auto und ließ endlich meinen Tränen freien Lauf.
Ich heulte die halbe Nacht lang. Am nächsten Morgen musste ich tief in die Trickkiste greifen, um die Spuren der Nacht zu verwischen. Aber mein Entschluss stand fest, keine Erbschaft, keine Strandkörbe. Nach dem Dienst rief ich gleich in seinem Büro an, um den Termin abzublasen. Dr. Nitz war persönlich am Apparat. Aber so leicht ließ er sich nicht von der Richtigkeit meiner Entscheidung überzeugen.
„Frau Gerlach, ich kenne Ihren Gönner, lassen Sie uns noch einmal beraten“.
Nachtigall, ick hör dir trapsen... Natürlich, Geschäftsmann, ging es mir durch den Kopf. Ich lehnte mit der Begründung, kein Geld für Honorarbeträge übrig zu haben, ab. Er blieb hartnäckig. „Natürlich, so ist das auch nicht gemeint. Ich möchte Sie als Privatmann beraten.
Passt es morgen?“
„Ja“, antwortete ich. Gegen 17:00 Uhr habe ich Feierabend.“
„Das ist etwas zu früh, erst muss ich mit Biene joggen, eine Stunde später?“
Wir verabredeten uns nicht in seinem Büro, sondern im Cafe am Fürstenhof.
Es war sein Vorschlag. Ich ging gerne auf ihn ein, die Atmosphäre in dem Cafe ist sehr angenehm.
Ich freute mich auf das Treffen, es war zu lange her, dass ich eingeladen wurde.
Er wartete schon auf mich. Ich war aufgeregt, völlig unpassend, denn schließlich war nicht ich die Dame seines Herzens, sondern seine Biene. Aber ich wäre es gerne gewesen.
So privat wirkte er noch sympathischer und jugendlicher. Er entschied sich für ein Kännchen Kaffee und ein überdimensional großes Stück Apfeltorte mit Sahne. Musste gut sein, sich ohne schlechtes Gewissen so viele Kalorien reinzudrehen. Ich nahm einen Cappuccino.
Aber das befriedigte ihn nicht. „Sie sind mein Gast, bitte vergessen Sie heute einmal Ihre guten Vorsätze.“
Ich ließ mich aber nicht überzeugen, ich war ja nicht zum Schlemmen gekommen, es ging um meinen Standpunkt, den ich anscheinend vor ihm vertreten musste.
Doch zunächst plauderten wir über dies und jenes, er war ein brillanter Unterhalter, ich ertappte mich des Öfteren dabei, in ihm jemanden zu sehen, in den ich mich gerne verliebt hätte. Ich hieß leider nicht Biene. Sicher war das eine Koseform von Sabine.
Nachdem er, mit großem Appetit, das war spürbar, die Torte verzehrt hatte, kamen wir nun zu dem eigentlichen Grund unserer Zusammenkunft.
Ich fasse die lang erörterten Für von ihm gegen die Wider meinerseits in aller Kürze zusammen. Im Endeffekt nahm ich die Erbschaft an, er hatte es geschafft.
Der Besitz von 7 Strandkörben schien weniger problematisch zu sein, als befürchtet.
Dr. Nitz hatte meinen Gönner gekannt. Auch dessen Haushälterin Herta, zu der er bis heute, so betonte er, Kontakt pflegt. Diese Frau hatte sich um die Vermietung der Strandkörbe über Jahre gekümmert, vier davon waren für die Stammgäste ihrer gut ausgelasteten Pension reserviert, pro Tag von Ende März bis Anfang Oktober täglich sieben Euro. Gut, ging eine Menge von ab, aber ein kleiner Zuverdienst ließe sich sicher errechnen. Blieben noch drei Körbe. Aber ich wurde eines Besseren belehrt, einer war dauerhaft gemietet, und zwar die Nummer sieben.
„ Ein seltsamer Kauz, ganz im Vertrauen,“ erzählte mir mein Gegenüber schmunzelnd, „lässt sich kaum blicken, meist ist der Korb leer. An besonders schönen Abenden kommt er allerdings mal für ein Stündchen, selten an den Wochenenden. Aber er besteht darauf, der alleinige Nutzer der Nr. sieben zu bleiben. Das lässt er sich am Ende der Saison jedoch immer etwas kosten, Geld scheint für ihn kein Thema zu sein.
Bleiben noch zwei Strandkörbe. Um diese brauchen Sie sich keine Sorge zu machen, Herta vermietet sie manchmal mehrmals am Tag, sie sind sehr begehrt. Was noch zu sagen wäre, die Körbe sind gut versichert und es steht ein Konto für alle anfallenden Nebenkosten zur Verfügung.
Der Käptn hat Sie sehr gemocht, ich glaube, Sie sollten unter den Bedingungen bestimmt nicht nein sagen. Außerdem, die Möglichkeit, im eigenen Strandkorb zu entspannen, birgt auch seine Reize.“
Wir verabschiedeten uns wie alte Freunde, ich fühlte mich gut. Es hatte sich etwas bewegt, mein Zukunftsbild gestaltete sich heller.
Eine Woche später saß ich wieder im Büro von Dr. Nitz. Es wiederholte sich alles fast so wie bei meinem ersten Besuch, die Sekretärin war schon im Aufbruch, die Tür stand einen Spalt breit auf, Dr. Nitz telefonierte. Diesmal ließ ich mir keine Silbe von dem Gespräch entgehen. Es ging wieder um Biene. Er hatte Sorgen, sie war ernsthaft krank, das ging aus dem Telefonat hervor. Als er mich herein bat, war ihm die Sorge deutlich anzusehen. Es schmerzte mich, ihn so bekümmert zu sehen. Das Bild auf dem Schreibtisch, das er immer wieder mit einem sorgenvollen Blick streifte, stand ein wenig schräger, ich konnte einen kleinen Teil einer goldblonden Mähne erkennen, die sich da in Üppigkeit ergoss. Automatisch zupfte ich an meinen kurzen Stoppeln.
Goldblond! Typisch Mann, immer nur Äußerlichkeiten. Wieder mal spürte ich einen leichten Stich in der Brustgegend.
Wir erledigten die Formalitäten, es blieb nichts mehr zu sagen, ich ging in der Gewissheit materiellen Zugewinns, und doch deprimiert. Wir hatten uns wie alte Freunde verabschiedet, trotzdem war Dr. Nitz nicht ganz bei der Sache, ich war zu feinfühlig, um das nicht zu bemerken.
Ich stieg in meinen alten Corsa und fuhr los. Wenige Minuten später überholte mich rasant ein schwarzer Volvo, der Fahrer winkte. Es war Dr. Nitz. Sicher fuhr er ins Krankenhaus. Ich würde es nicht mehr erfahren.

Mein Alltag wurde wieder zu dem, was er immer war, kaum Höhen, ab und zu Tiefen, aber an denen trug ich selbst die Schuld.
Mitte Februar, es war ein wunderschöner sonniger Sonntag, suchte ich die Haushälterin meines Käptn auf. Ich schätzte die sehr nette, warmherzige kleine Person auf Anfang siebzig. Sie hatte im hellen sonnigen Wintergarten für uns liebevoll gedeckt, mein Blick konnte sich von dem feinen weißen Porzellan gar nicht lösen. Ich habe von je her eine Schwäche für Porzellan, es war schon immer ein Traum von mir, Ähnliches zu besitzen.
Die Unterhaltung kam sofort in Schwung, wir fanden gemeinsame Berührungspunkte. Es war mir fast peinlich, als ich auf die Uhr sah. Ich glaubte, ihre Zeit über Gebühr beansprucht zu haben, aber sie beruhigte mich. Das Vergnügen war ganz meinerseits, ließ sie mich wissen. Eine Gegeneinladung nahm sie erfreut an.
Wir freundeten uns schnell an, Herta war in Ostpreußen aufgewachsen, hatte Flucht, Verlust von Familie und Freunden, Vergewaltigung und den frühen Tod ihres Mannes ertragen müssen und sich trotzdem Wärme, Geduld, Verständnis und Humor bewahrt. Ich vermutete, ein so großes Herz wird einem nur in der Weite Ostpreußens mit in die Wiege gelegt. Regelmäßig trafen wir uns, bald schon wöchentlich. Bis heute übrigens.
Natürlich kam das Gespräch auch recht bald auf meinen Käptn. Sie lachte herzhaft, als ich ihr von unserer ersten Begegnung erzählte.
„Er hatte es faustdick hinter den Ohren, Marita, kannst du mir glauben. Aber er war herzensgut. Er hat mir von dir erzählt, ich kenne dich länger, als du glaubst.
Er wusste gut über dich Bescheid, besser, als du vermutet hast. Sie ist zu einsam, Herta, sagte er oft.“
Mir wurde bald klar, dass Albert, besagter Käptn, beim Verfassen seines Testamentes etwas anderes im Sinn hatte, als mir materiell unter die Arme zu greifen. Er gab mir sehr viel mehr. Ich habe durch ihn Freundschaft und Herzensgüte erleben dürfen.
Einmal brachte ich die Sprache auf Dr. Nitz. Ich wollte wissen, wie es seiner Frau ginge, der Biene, erzählte ihr, dass ich das Gespräch mit angehört hatte.
„Oh,“ lachte Herta laut auf, „Biene geht es prächtig. Gunnar verbringt seine Freizeit ausschließlich mit ihr. Neben der Dame hat keine Andere eine Chance!“
Klar, das war auch mein Eindruck. Ich hätte zu gerne gewusst, ob es ein zweites Glück war, denn in einer alten Beziehung ist man ja nun doch etwas abgeklärter. Und eine so herrliche Haarpracht trägt vermutlich außer Chansonnette Milva kaum jemand in fortgeschritteneren Jahren. Aber das zu erfragen habe ich nicht gewagt, es war mir peinlich.

Inzwischen zog der Frühling ins Land und die ersten Sonnenstrahlen erwärmten Herz und Seele.
Die Insel wurde zu meiner zweiten Heimat, ich fühlte mich oft wohler als zu Hause.
Ich war immer willkommen in Hertas gemütlichem Häuschen. Staunend sahen wir den Zugvögeln entgegen, die in langen Ketten aus dem Süden kamen. Dieses Naturschauspiel hat mich schon immer fasziniert, hier aber, auf der Insel, hatte man das Gefühl, am Geschehen teil zu haben. Man war näher dran.
Im März tranken wir das erste Mal im Garten Kaffee. Herta hatte Strandkorb sechs und sieben in einer Ecke des Gartens gegenüber aufgestellt und den Tisch für drei Personen gedeckt. Das irritierte mich ein wenig, ich hatte an einem so schönen Tag keine Lust auf Konversation mit Fremden.
„Wer kommt noch?“ fragte ich. Herta schmunzelte. „Rate!“ befahl sie. Ich hatte keinen blassen Schimmer. Herta ließ mich etwas zappeln, bevor sie mich aufklärte.
„Ich denke, Gunnar hat sich ein Stück Kuchen in unserer Gesellschaft verdient,“ sagte sie verschmitzt, „ohne seine Hilfe würdest du doch jetzt zu Hause sitzen und Trübsal blasen. Und unsere Verbindung wäre nicht zustande gekommen.“
Mein Herz schlug bis zum Hals. Einerseits freute ich mich sehr, auf unerwartete Weise noch einmal Kontakt zu diesem Mann zu bekommen, der mich unsinniger Weise manchmal gedanklich beschäftigte. Andererseits hatte ich keine Lust, unbedingt Zeuge fremder Leidenschaften zu werden. So stabil war mein Seelenleben nun auch wieder nicht. Ich versuchte, eine gute Miene zu machen, was anderes blieb mir ja nicht übrig.
Lange konnte ich mich sowieso nicht auf die unerwartete Begegnung einstellen, die Gartentür quietschte, und ein strahlender Gunnar kam uns entgegen. In der einen Hand einen Strauß roter Tulpen, in der anderen Osterglocken. Die Tulpen überreichte er mir mit einer kleinen Verbeugung. Er wusste also von meinem Besuch.
Die Natürlichkeit meiner beiden Gesprächspartner half mir bald über die Verlegenheit hinweg. Dafür gab es ja überhaupt keinen Grund.
„Hast du Biene nicht mitgebracht?“ fragte Herta, eine Frage, die mich auch brennend interessierte. „ Nein, ich konnte sie heute nicht überzeugen“ erwiderte Dr. Nitz.
Der Nachmittag wurde außergewöhnlich, wir verstanden uns prächtig. Ich vergaß Zeit und Stunde, aber schöne Stunden vergehen ja bekanntlich immer schneller.
„Wir sehen uns bestimmt bald mal wieder bei Herta“, war er sich sicher, ich konnte nur hoffen. Wieso eigentlich? Klein, dick, überschaubare Haarpracht, und fixiert auf Biene. Tja, mach was, Marita. Kannste machen nix.
Herta lud uns ein paar mal zusammen ein, die Begegnungen gestalteten sich immer interessant, bewegend und sehr lustig. Aber das war’s dann auch. Biene brachte er nie mit. Sie litt unter einer Wespenphobie, war einmal in Hertas Garten gestochen worden und seit der Zeit nicht mehr zu bewegen, das Grundstück zu betreten. Ich registrierte das als ziemlich exaltiertes Gehabe, äußerte mich natürlich nicht dazu.

Inzwischen schossen die Strandkörbe wie Pilze aus der Erde. An den kommenden Wochenenden sah man die Besitzer ihre Körbe ausbessern und ausrichten, um für die Sonnenhungrigen bereit zu sein. Es war das erstemal, dass ich interessiert diesem Treiben mit dem behaglichem Gefühl folgte, nichts tun zu müssen und doch dazu zu gehören. Als die Meinen dann eines Tages wie von Geisterhand auf ihrem zugewiesenen Platz standen, innen mit nagelneuem blau-weiß-gestreiften Bezug, außen weißes Korbgeflecht, breitete sich Besitzerstolz und Freude wie eine warme Welle in mir aus. Mein Besitz. Jetzt erst wurde mir so richtig bewusst, mit welch feinfühliger Weise mich mein Käptn bedacht hatte. Es gab wieder Freude. Und Freunde!
Ich lernte einfache, ehrliche und hilfsbereite Leute kennen, die ihr Brot durch Zimmer-Fahrrad- und Strandkorbvermietung verdienten. Ich knüpfte manche Bande und meine sieben Strandkörbe nahmen einen enormen Stellenwert in meinem Leben ein. Ich kam mit Leuten aus nah und fern ins Gespräch und manches hat mich sehr bewegt.
Nach dem mysteriösen Mieter von Nr. sieben guckte ich mir allerdings vergeblich die Augen aus. Ich teilte Herta meine Vermutung, er könnte in diesem Jahr gar nicht angereist sein, mit. Das bestätigte Herta mit einem „Nein, angereist ist er nicht“.
Die viele frische Seeluft sah man mir bald an, ich fühlte mich nach den Wochenende wie nach einem Urlaub.
Am 31. Mai, ich vergesse das Datum nicht, genoss ich Sonne und Windschutz in Nummer eins, dem Strandkorb, der an den Wochenenden möglichst nicht vermietet wurde. Wie gesagt es war sonnig, aber sehr stürmisch. Die Möwen versuchten vergeblich, gegen den Wind anzukämpfen, sie flogen auf der Stelle. Mich überkam eine wohlige Müdigkeit, ich legte mein Buch zur Seite und schaute auf das aufgewühlte Meer. Und glaubte, nicht richtig zu sehen. Die Sieben! Die Sieben war besetzt! Ich konnte es nur an ein paar rotblonden Locken erkennen, die sich von dem weißen Korbgeflecht abhoben. Und dann hörte ich eine mir bekannte Stimme.
„ Biene! Biene, na komm, altes Haus, nun trau dich. Ist nicht kalt.“ Und tatsächlich, sie kam. Langsam, zögernd, immer mehr goldblonde Locken, nein, keine Locken, Fell! Es war Fell! Die Dame seines Herzens- eine Hundedame! Ein „Golden Retriever“!
Ohne nachzudenken rannte ich hinterher. Erst als ich mit den Füßen im Wasser stand, wurde mir klar, dass mein Verhalten schwer zu erklären war. Irgend etwas stammelte ich, aber er war zu taktvoll, meine Verlegenheit zu bemerken.
„Gehen wir in deinen oder meinen Strandkorb?“ fragte er stattdessen lachend.
Oder erst einmal etwas essen? Ich habe Bärenhunger nach dem kalten Bad. Ich drücke mich übrigens auch schon eine ganze Weile vor einer Frage, die ich dir stellen möchte. Ich glaube, außen Sturm, innen Sturm, der Tag ist dafür geeignet. Könntest du dir vorstellen, mit Biene... ich meine, du und Biene, na ja, also, ihr beide zusammen...irgendwo dazwischen auch ich...also, ja, wie soll ich jetzt sagen...?“
Er legte seine Hand um meine Schultern und drückte mich an sich.

Wer mir bis hier her gefolgt ist, kann sich gut vorstellen, was ich in diesem Moment fühlte:
einen eiskalten, nassen, durchgefrorenen Männerkörper! Und ich hatte mich doch so sehr nach Wärme gesehnt! Aber ich kann versichern, es war noch viel, viel schöner. Unvergesslich schön!
Der Strandkorb Nr. eins steht nicht mehr neben Nr. zwei, wie es sich gehört, sondern zwischen sechs und sieben. Na, wegen Biene natürlich!


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Brigitte
Wie dicht Liebe und Leid, Glück und Unglück oft beieinander liegen, oder besser, wie eng es zusammengehört, bekommt man gerade in einem Krankenhaus besonders nah zu spüren.
Doch zunächst möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Torsten Stein, arbeite als Rettungssanitäter, bin 42 Jahre, seit fast einem Jahr unglücklich geschieden.
Es sollte mein letzter Einsatz in diesem Jahr sein. Die Unglücksstelle befand sich fast genau dort, wo es damals Stefan erwischte. Und nicht nur ihn, sondern noch vier seiner Freunde. Fünf Kreuze erinnern an den schlimmsten aller Einsätze, zu denen wir bisher gerufen wurden und nichts mehr tun konnten. Keiner von uns hat diese schreckensvolle Nacht vergessen können. Jede Einzelheit fiel mir wieder ein, als wäre es gestern gewesen. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Den Ausklang des alten Jahres hätte ich mir schon ein wenig sanfter vorstellen können.
Am 31. Dezember gegen 13:00 Uhr wurden wir vor die Tore der kleinen Stadt am Fuße des Harzes gerufen. Wir brauchten keine fünf Minuten bis zur Unfallstelle. Der schwere Mercedes stand entgegengesetzt zur Fahrtrichtung. Keine Bremsspuren, Kotflügel und Tür der rechten Seite beschädigt, der Fahrer bewusstlos in seinem Sitz angeschnallt.
Eine Platzwunde an seiner Stirn, sonst keine äußerlichen Verletzungen. Wir machten unsere Arbeit, erste routinierte Hilfe, stabile Seitenlage, venöser Zugang. Wir vermuteten, er wäre am Steuer eingeschlafen, doch das EKG ließ einen Herzinfarkt erkennen. Er musste einen tüchtigen Schutzengel gehabt haben. Es handelte sich bei dem Verunfallten um Bernhard Wilhelms aus Stuttgart, 71 Jahre.
Er hatte also vermutlich eine anstrengende Fahrt hinter sich. Sicher war er mehr als 500 Kilometer gefahren. Die Straßen mussten immer wieder geräumt werden, dichte Flocken sorgten vielerorts für Verkehrschaos. Niemand setzte sich bei den Witterungsverhältnissen ohne einen triftigen Grund hinter das Steuer.
Bereits in der Notaufnahme kam der Patient wieder zu Bewusstsein. Hier herrschte Hochbetrieb. Wir hatten unsere Arbeit getan, den Mann in fachgerechte Hände gegeben und in 10 Minuten war mein Dienst zu Ende. Fünf freie Tage lagen vor mir. Ich sah noch einmal zu dem Patienten, wünschte ihm eine schnelle Genesung und wollte los, da kam plötzlich Leben in ihn. „Bitte“, rief er beschwörend, „bitte , Sie müssen etwas für mich tun, Sie müssen…“
Aus seinem Blick sprach Angst. Er hielt meine Hand mit einer Kraft, die mich überraschte.
„Sie, sie wartet…“ stammelte er. Das Überwachungsgerät sandte alarmierende Töne. Anette eilte herbei.
„Na, Steine, noch hier?“ fragte sie beiläufig und machte sich an den Geräten zu schaffen.
„Sie wartet am alten Denkmal“ stammelte der Patient erneut. „Gehen Sie, sagen Sie ihr, ich komme. Ich komme doch. Nur ein wenig später“.
„Ruhig, ganz ruhig, Herr Wilhelms. Haben Sie Schmerzen?“ ,fragte Anette. „Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen. Sie brauchen dringend Ruhe. Versuchen Sie zu schlafen. Es kommt schon alles wieder in Ordnung, wichtig sind nur Sie im Moment.“
Der Druck seiner Hand wurde schwächer, er fiel in einen kurzen Schlaf, erwachte aber nach ein paar Minuten wieder. Erneut suchte er nach meiner Hand. Eigentlich wollte ich jetzt endlich gehen, aber ich brachte es nicht über mich. Vielleicht war es sein Blick, der mich nicht losließ.
Ich half noch, ihn auf die Intensivstation zu bringen. Man war heute dankbar für jeden Handgriff.
Meine Nähe schien ihm gut zu tun, vielleicht war es auch die Wirkung der einsetzenden Medikamente, jedenfalls setzte ich mich noch ein wenig an sein Bett und überließ dem Fremden meine Hand. Es gab nichts, was mich nach Hause trieb. Im Gegenteil…
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, vielleicht war ich selbst ein bisschen eingeschlafen, draußen wurde es dunkel. Einzelne Raketen stiegen am Himmel auf, ich hörte entfernt die ersten Böller, die die Silvesternacht einleiteten.
Ich war froh, dass ich das Jahr endlich hinter mich gebracht hatte. Es war kein gutes. Ich hoffte auf bessere Tage.
Fünf Jahre waren Silvia und ich zusammen, lange Zeit davon sogar sehr glücklich. Vorbei. Lohnte nicht mehr, darüber nachzudenken. Wir quälten uns zuletzt nur noch, der Schnitt war trotzdem keine Erlösung, ein Warum jagte das nächste, und ich konnte oft keinen klaren Gedanken fassen. Ob sie mir noch immer fehlte oder ob es nur die schreckliche Einsamkeit war, die meine Gefühlswelt beherrschte, keine Ahnung. Eigentlich war ich ganz froh, hier sitzen zu können.
Die Stimme des Mannes riss mich aus meinen trüben Gedanken.
„Ich flehe Sie an, helfen Sie mir!“ Er sprach jetzt klar und deutlich, seine Augen sahen mich beschwörend an.
„Sie wartet auf mich, dort am alten GutsMuthsdenkmal. Vierzig Jahre haben wir uns nicht gesehen und waren doch unzertrennlich. Es gab keinen Tag, an dem wir nicht voller Sehnsüchte aneinander gedacht hätten. Nein, junger Mann, ich weiß, das können Sie nicht nachempfinden. Sie sind noch zu jung. Wahre Liebe zeigt sich erst in ihrer Beständigkeit, in ihrer Reife.“
Seinen Blick richtete er jetzt starr an die Zimmerdecke. Er versuchte durchzuatmen, sein Gesicht bekam einen schmerzhaften Ausdruck. Husten begann ihn zu schütteln, ich half ihm beim Aufrichten und reichte ihm die Schnabeltasse. Nach einer kleinen Weile ließ er sich erschöpft in die Kissen zurücksinken und fuhr fort.
„Es war die Liebe. Glück und Schmerz, Freude und Tränen im Übermaß und das so schwer zu ertragende ungestillte Verlangen nach Nähe. Sie begann wie viele andere. Und doch war sie eine ganz besondere. Brigitte arbeitete als Bibliothekarin hier in dieser kleinen Stadt. Ich war gern und oft in den hohen Räumen, deren Bücherwände mir immer wieder Ehrfurcht einflößten.
Diese Atmosphäre, diese Empfindungen brauchte ich für das Vorankommen meiner Studien, meiner Arbeiten. Ein Teil meines Erfolges ist dem wohl geschuldet.
Irgendwann wurde mir auch ihre wohltuende Nähe bewusst, hilfsbereit, aufgeschlossen, kompetent, unaufdringlich und fast nur gefühlt, wenn ich in meine Skripten vertieft war. Ja, und irgendwann waren es nicht mehr die ehrwürdigen Hallen, sondern eine kleine Bar, die erste Flasche Wein, ein erstes Du, ein nächtlicher Spaziergang durch die romantische Stadt, der erste Kuss unter den Blicken der beiden Herren Johann GutsMuths und seines Schülers Carl Ritter, die von ihrem Sockel auf uns hinabblickten und unsere einzigen Zeugen blieben.
Und hier war es, wo wir uns unser Versprechen gaben. Egal, wohin der Strom des Lebens uns treiben würde, sollten wir uns irgendwann einmal aus den Augen verlieren, hier, in der Silvesternacht, wollten wir uns finden.
Die gemeinsame Zeit war wie ein Traum, keine Zeit später auch nur annähernd vergleichbar.
Doch meine politischen Ansichten unterschieden sich immer mehr von denen des neuen Staates, ich machte kein Hehl daraus, wusste auch nicht um die Gefahr, die da schon wieder lauerte. Es kam zum Eklat, und erst in letzter Minute konnte ich mich dem Zugriff durch die Flucht in den anderen Teil Deutschlands entziehen. Wirklich nur mit Mühe entkam ich einer Verhaftung.
Ich bat sie inständig, mir zu folgen. Sie brachte es nicht über das Herz, ihre Mutter zurückzulassen und hätte es auch als Verrat betrachtet, „ihre“ Bücher im Stich zu lassen, genau wie die vielen Leser, die ihr vertrauten. Das Gewissen, verstehen Sie? Nein, sie hat es sich nicht leicht gemacht. Es sind viele Tränen geflossen, wir haben uns gestritten, ich warf ihr vor, mich nicht genug zu lieben. Ich war zu egoistisch, das habe ich aber erst viel später begriffen. Letztendlich wurde ein Traum zerstört. Die Hoffnung allerdings nie.
Ich baute mir eine neue Existenz auf, ohne sie, habe viel bewegt und die Welt gesehen. Ihre kleine allerdings blieb mir verschlossen. Ich konnte sie nicht bewegen, mir zu folgen, nach ’61 ja sowieso nicht mehr, Sie wissen ja, die Mauer, nicht wahr? ’60 trafen wir uns ein letztes Mal, wir lebten eine wunderbare Nacht, die keine Sehnsüchte stillte, sondern nur neue weckte. Es geschah in aller Heimlichkeit und war sehr gefährlich. Viele, viele Briefe sind zwischen ihr und mir hin und her gereist. Immer prall gefüllt mit Sehnsüchten.“
Der Mann fiel erschöpft in einen leichten Schlaf. Nach wenigen Minuten aber sprach er weiter, die kurze Ruhe hatte ihn gestärkt. Seine Stimme war kräftig, die heiße Hand lag wieder beschwörend auf meinem Arm.
„ Ich habe geheiratet“, fuhr er fort. „Eine gute Frau. Sie gab mir viel Kraft und hatte großen Anteil an meinem beruflichen Erfolg. Sie erkrankte an MS. Sie wissen, was man unter MS, Multipler Sklerose, versteht. Was es bedeutet, damit zu leben, ganz sicher nicht. Die Schübe verschlimmerten das Leiden regelmäßig, dazwischen immer wieder Hoffnungen durch falsche Medienberichte, doch sie gab niemals auf. Zum Schluss beherrschte die Krankheit den ganzen Körper. In Ihren letzten Stunden war sie es, die mir Trost spendete. Es war eine gute, stabile Partnerschaft, die allerdings zu unserer beider Leidwesen kinderlos blieb.
Und trotzdem, sie, meine große Liebe aus der kleinen Stadt, sie habe ich keinen Tag meines Lebens aus den Gedanken verbannen können. Oft habe ich mich bis zum Wahnsinn nach ihr verzehrt.
Für meine Heirat brachte sie Verständnis auf. Das tat mir fast weh. Aber ich weiß, ihre Enttäuschung sprach ungeschrieben aus den Zeilen.
Es brachte mich fast um den Verstand, als ihre Briefe plötzlich ausblieben. Ohne Vorwarnung, einfach so. Sie war Teil meines Lebens. Wie konnte sie mir so etwas antun? Ihr Schweigen ließ sich nur mit einer neuen Liebe erklären , und ich war außer mir. Immer wieder versuchte ich, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Vergeblich.
Doch dann, an einem Silvestermorgen erreichte mich ihr Brief. Ich erkannte ihn gar nicht, so wie früher, wenn ich ihre Worte mit verbundenen Augen aus der Flut meiner Geschäftspost herausfinden konnte. Das lag wohl daran, dass er mit Maschine geschrieben war, wie übrigens auch alle folgenden. Aber ihr Duft, er strömte noch immer aus den Worten. Und die Sehnsucht, die die Macht über mich bekam, war wohl das Schlimmste, was eine Seele aushalten kann.
Nein, meine Befürchtungen waren unbegründet. Keine neue Liebe hatte mich aus ihrem Herzen verdrängt. Sie hatte schwer an dem Verlust der Mutter zu tragen, die kleine Bibliothek kämpfte ums Überleben, somit geriet auch ihre Existenz in Bedrängnis. Ihre Ideale wurden zerstört. Sie brauchte, wie sie mich wissen ließ, einfach ein wenig Zeit, um sich neu einzurichten in ihrer Welt.
Unser Briefwechsel wurde intensiver denn je. Zwischen uns hatte sich nichts verändert. Doch, vielleicht doch, aber das bemerkte ich erst mit der Zeit. Sie hatte sich verändert. Die Briefe hatten einen anderen Grundtenor, frischer, leichter, sie hatte ihren Humor nicht verloren, im Gegenteil. Sie verstand es, mich heiter zu stimmen, das Bedrückende einer Liebe, die nicht gelebt werden durfte, stand nicht mehr zwischen den Worten. Es tat so gut, um ihre Liebe zu wissen und in schweren Stunden dran Halt zu finden.
Meine Frau starb Anfang des Jahres. Es war eine Erlösung, glauben Sie mir.
Und- auch das werden Sie verstehen, jetzt hatte ich nur noch ein Ziel, sie. Aber sie zögerte. Und wieder litt ich Höllenqualen. Mal verhinderte ein Kongress unser Wiedersehen, mal eine Urlaubsreise, lange geplant mit einer Freundin, unaufschiebbare Termine. Es sollte einfach nicht klappen. Die Vermutung, ich hätte einen Nebenbuhler, lag nahe. Ja, so bezichtigte ich den imaginären Unbekannten bereits.
Dann- endlich- vor ein paar Tagen der Brief mit ihrem Ja zu unserem einstigen Versprechen, fast am Ende meines Lebens, in der Silvesternacht dort unter dem alten Denkmal. Verstehen Sie nun, wie wichtig Ihre Hilfe ist?“
Die Stimme des Mannes nahm wieder einen beschwörenden Klang an. Noch einmal klammerte er sich mit ganzer Kraft an meinen Arm. Das Überwachungsgerät begann Alarm zu geben. Eine mir unbekannte Schwester eilte herbei, nickte flüchtig und wandte sich konzentriert und besorgt dem Patienten zu.
„Ihr Vater?“, fragte sie mich. „Sieht nicht gut aus. Bleiben Sie heute Nacht bei ihm.“
„Nein! Gehen Sie ich bitte Sie, gehen Sie, holen Sie Brigitte, sie wartet, ich weiß es…“
Der Mann versuchte, sich aufzurichten. Die Schwester rief nach einem Arzt. Die Injektion verfehlte ihre Wirkung nicht, der Patient fiel sofort in tiefen Schlaf.

Ergriffen von dem Gehörten und auch selbst schon viel zu erregt, schaute ich auf die Uhr. Es war inzwischen 23:38Uhr. Immer mehr Raketen kündeten vom baldigen Jahreswechsel. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Ich eilte zu meinem eingeschneiten Auto. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich das vereiste Schloss öffnen ließ, meine Hände waren steifgefroren. Und dann…nichts! Die Batterie hatte den Geist aufgegeben. Ich geriet in Panik. Eine halbe Stunde zu Fuß, das konnte man unmöglich schaffen.
Ich setzte mich in Trab. Die eisige Kälte stach wie mit tausend Nadelstichen in mein Gesicht, jeder Atemzug schmerzte. Ich hatte vielleicht die Hälfte der Strecke hinter mir, da läuteten die Glocken der Kirchen das neue Jahr ein. Gleichzeitig überboten sich die Raketen und Feuerregen mit ihren bunten Sternen am Himmel.
„Gesundes neues Jahr“ Fröhliche Menschen prosteten mir zu, lachten, lärmten, doch mich schien das alles nichts mehr anzugehen. Ich verfolgte nur ein Ziel, ich musste sie noch erreichen. Ich hatte das seine zu meinem Anliegen gemacht.
Endlich erreichte ich das Ziel. Das neue Jahr war genau siebzehn Minuten alt, der Platz war leer. Die eisige Kälte hatte die Menschen schnell wieder in die Häuser getrieben.
Sie war nicht da. Ich konnte es nicht fassen. War ich auf die Fantasien eines alten Mannes hereingefallen? Nur ein kleiner roter Seat stand einsam unter der Laterne. Ziellos schlenderte ich an ihm vorbei. Immer noch glomm ein Funken Hoffnung in mir, sie könnte irgendwo in der Dunkelheit stehen und auf den Mann warten.
Der Seat war nicht zugeschneit. Vielleicht hatte mich das stutzig gemacht, ich weiß es nicht. Ich kehrte noch einmal um, bückte mich und sah hinein. Und da sah ich etwas, was ich im ersten Moment gar nicht richtig deuten konnte. Es war eine Flut von dunklem langen Haar, die das Lenkrad verdeckte. Die Frau in dem Auto schlief.
Mein leises Klopfen erschreckte sie, ich sah in überraschte große schwarze Augen. Solche Augen vergisst man nie wieder.
Sie war viel jünger, als ich dachte. Was wir sprachen und wie wir vermeintliche Irrtümer aufklärten, ach, das ist mir alles gar nicht richtig bewusst geworden. Die Zeit drängte. Wir fuhren so schnell es ging ins Krankenhaus.
Ihr Auto stellten wir neben meins, eilten im Laufschritt auf die Intensivstation und rannten den endlos scheinenden Korridor entlang. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Meine Begleiterin zögerte kurz, holte noch einmal tief Luft, ihr Körper straffte sich, dann ging sie zu ihm.
Der Mann schlief friedlich. Die bläulichen Lippen umspielte ein Lächeln. Vielleicht schien es mir auch nur so.
Eigentlich schien meine Mission zu Ende. Ich hätte gehen sollen. Aber ich stand wie versteinert an der Tür, konnte nicht.
Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Jetzt lächelte er wirklich. Sie streichelte seine Wange und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie war etwas über dreißig, schätzte ich. Ich fühlte mich überflüssig und wollte gehen, doch in diesem Moment öffnete der Mann seine Augen . Er sah auf die junge Frau, erst ungläubig, dann erhellten sich seine Züge, ich habe niemals soviel Glück, Staunen, Liebe, Wärme gesehen, soviel Rührung wie in diesem Gesicht.
„Brigitte“, brachte er mühsam hervor, „du bist gekommen, ich wusste es. Du hast dich überhaupt nicht verändert, Liebes. Immer noch meine schöne…nur…noch wir beide…“ stammelte er glücklich…
„Ja- Vater, aber ja. Schlaf erst noch ein bisschen, alles ist gut“ flüsterte die junge Frau.
Doch das hörte der Mann nicht mehr. Er war bei seiner Brigitte angekommen.
Das Überwachungsgerät störte diesen bewegenden Moment erschreckend. Die Schwester kam herein, gefolgt von zwei Ärzten, Das alarmierende Signal wurde zu einem langgezogenen Dauerton, der nach einer Weile verstummte. Brigitte hielt den Kopf ihres toten Vaters in den Armen.
Ich ging hinaus und wartete auf dem Korridor. Dabei schaute ich hinaus in die Dunkelheit. Ab und zu erleuchtete noch ein verspäteter Feuerwerkskörper den Himmel für einen kurzen Moment.
Irgendwann kam sie zu mir. Sie wirkte sehr gefasst. Ich bot ihr meinen Arm, und wir verließen schweigend das Haus.
Später erfuhr ich, dass sie, meine Begleiterin, nach dem Tod ihrer Mutter die sehnsuchtsvollen Briefe gefunden hatte. Sie war so ergriffen von der großen Liebe, die da aus den vielen Zeilen sprach, dass sie nicht anders konnte, als den Briefwechsel fortzuführen. Jetzt, nach dem Tod seiner Frau, hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, ihrem Vater, der von der Existenz seiner Tochter nichts gewusst hatte, die Wahrheit zu erzählen.
In dieser Nacht konnte keiner von uns allein sein. Wir gingen durch die verschneite Stadt, in ein neues Jahr und einer neuen Hoffnung entgegen.




























„Feuerrotes Kleid“

Da stand ich nun vor dem Fenster der kleinen Maßschneiderei und starrte auf das Kleid in der Auslage. Mein Glückskleid, mein Lieblingskleid, mein Schicksalskleid, ich traute meinen Augen nicht. Ein Déjà-vu? In krassem Widerspruch zu der Trägerin, der überdrüssig in ein Nichts blickenden Schaufensterpuppe, lebte das Kleid. Sein Rot rief, lockte, entführte die Gedanken, erinnerte…
Ich stand schon einmal so gebannt vor einem Schaufenster, versuchte, der Verlockung zu widerstehen und erlag. Das ist lange her, über 35 Jahre. Damals kaufte ich das rote Kleid nach innerem Ringen, meine finanzielle Lage ließ eine solche Aktion eigentlich nicht zu. Doch es schien, als würde ich in dem Moment, in dem ich es anzog, eine Glückshaut überstreifen. So vollkommen wie damals, als sich mein Leben eine Weile in einen Traum verwandelte, fühlte ich mich später niemals wieder, später, das heißt, nach meiner Zeit mit Phillip. Der Maler Phillip Leja, meine ganz große Liebe.
Es war vielleicht nicht so ungewöhnlich, ein schlichtes rotes Kleid in zeitlosem Etuistil in einer Auslage zu entdecken, das einem früheren Lieblingskleid ähnelte. Das Erstaunliche war viel mehr, dass mir erst am Morgen ein Foto in die Hände gefallen war, auf dem mich eine junge strahlende Frau in eben einem solchen Kleid anlächelte. Ich, im blühenden Alter von 22 Jahren. Eine kleine Ewigkeit schien mir, hatte ich das Album nicht mehr in den Händen gehalten. Beim Betrachten der Fotos kamen Erinnerungen an Goldstaub auf Zukunftsträumen, zerplatzten Seifenblasen, bitteren Tränen, neuen Hoffnungen, ungewohnten Pflichten und irgendwann nach holprigen Zeiten endlich ein Herantasten an einen festen Platz im Dasein.
Ich begab mich, angeregt durch das Foto, auf eine Reise in die Vergangenheit.
Ich stand also damals vor dem Kleid, schlicht, wunderschön, begehrenswert, und ich konnte nicht widerstehen. Für den Rest des Monats musste ich mein Geld ganz schön strecken, aber das Gefühl, das Kleid zu besitzen, ließ alles andere unwichtig werden.
Ich arbeitete zu der Zeit in einem kleinen Buchladen. Dieser Tätigkeit ging ich gern nach, es ergaben sich viele interessante Gespräche, und in ruhigen Stunden konnte ich mich in die Bücher vertiefen. Bücher verzauberten schon meine Kindheit. In ihre Welten zu tauchen, damit verbringe ich bis heute den größten Teil meiner Freizeit.
Mit dem Kleid streifte ich jedesmal eine Glückshaut über. Ich wurde zu einer anderen, einer, die sich schön fühlt. Und dieses Gefühl muss sich auf meine Umwelt übertragen haben, so schien es jedenfalls. Es war, als ob die Welt um mich herum in ein Lächeln tauchte. Das schönste Lächeln aber gab mein Spiegelbild wider.
Die Vernissage eines jungen vielversprechenden Künstlers bot Gelegenheit, das Kleid erstmals zu tragen. Der Kontrast meiner dunklen Haare brachte das Rot besonders zum Leuchten, vielleicht war es auch umgekehrt? Als ich den Raum betrat, richteten sich einen Moment alle Blicke auf mich. Zunächst machte mich das eher unsicher, ich war nicht gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen. Das Glas Champagner, das mir zum Empfang gereicht wurde, trank ich ein bisschen hastig, mehr aus Verlegenheit. Aber es tat gut. Von der Laudatio auf den Künstler bekam ich in der hinteren Reihe einer dichtgedrängten Menge nicht viel mit, wohl aber fesselten mich seine Bilder. Ausdrucksstark. Es handelte sich vorwiegend um Porträts. Die Augen der Modelle, deren Lebendigkeit hier auf dem Papier festgehalten wurde, zogen mich in ihren Bann. Ganz in ihre Betrachtung versunken erschrak ich zunächst, als mir ein zweites Glas Champagner angeboten wurde. Diesmal nicht vom Empfangspersonal, sondern von einem älteren Herrn. Zuerst fiel mir die angenehme Stimme auf, die klugen Augen, der dezente Duft. Kurz, er war mir äußerst sympathisch. Er verwickelte mich in ein Gespräch, natürlich ging es um die Malerei im Allgemeinen. Im weiteren Verlauf erfragte er meine Meinung zu den ausgestellten Bildern. Angeregt durch den Champagner fiel es mir leicht, meine Eindrücke widerzugeben. Es war ein sehr angenehmes Gespräch und ich bedauerte fast, dass sich zu uns ein kleines Grüppchen von Kunstfreunden, als solche wurden sie mir vorgestellt, gesellte. Mein Gesprächspartner wurde von ihnen vereinnahmt. Ich wollte mich zurückziehen, wurde aber von ihm am Ellenbogen festgehalten, ein Zeichen, dass auch er die kleine Unterbrechung lediglich als solche ansah.
Irgendwann gesellte sich der gefeierte Held des Tages zu uns. Irgendwann endete die Vernissage, irgendwann waren alle Gäste gegangen, und ich blieb allein mit ihm und meiner neuen Bekanntschaft, bei dem es sich um einen Fachmann aus der Kunstwelt und väterlichen Freund handelte, der den jungen Phillip Leja für sich und später für die Welt entdeckte. Und wir, der junge Maler und ich, entdeckten uns.
Mit seiner Bitte, mich malen zu dürfen, begann eine intensive Beziehung, die sich aus heutiger Sicht zu der Liebe meines Lebens auswuchs. Auf dieses Gemälde wurde später auch eine breite Anhängerschaft aufmerksam, ich trug darauf das rote Kleid. Wir verlebten eine unglaublich glückliche Zeit. Es dauerte auch nicht lange, und sein Name war aus der Malerei nicht mehr wegzudenken. New York, Paris, Rom… Phillip Leja überall.
Ich habe ihn geliebt. Ich habe ihn so sehr geliebt, die Zeit mit ihm kann ich heute nur als einen schwebenden Zustand bezeichnen. Auch er hat mich geliebt. Anders. Egoistischer. Sein Seelenleben war instabil, oft kam er nur, um bei mir Zuflucht zu suchen und von seinem hektischen Alltag Abstand zu bekommen. Er suchte dann einfach nur meine Nähe, sie tat ihm gut. Doch unsere Bindung wurde hart auf die Probe gestellt. Einem Künstler wird es irgendwann zu eng, er braucht Weite. Eine kleine Buchhändlerin, mit einem Tagesablauf in regelmäßigen Bahnen, und ein begnadeter anerkannter Künstler, immer unterwegs, immer mitten im Geschehen, immer auf der Suche nach neuen Entdeckungen? Unvermeidbar, seine Besuche wurden seltener, seine Entschuldigungen durchschaubar, sie schmerzten. Vier Jahre, d i e Jahre meines Lebens, habe ich nur für ihn gelebt. Die Notwendigkeit, diese Beziehung zu beenden, musste ich einsehen. Es geschah unspektakulär: da gingen zwei auseinander, die immer gute Freunde bleiben, die Erinnerung einer großen Liebe immer behutsam bewahren wollten. Versprochen. Ich habe es ihm leicht gemacht. Mir ist dabei das Herz gebrochen, und ich hätte mich aufgegeben, wenn ich gekonnt hätte. Aber dazu war es zu spät, ich bekam Tim. Für ihn musste ich leben.
Tim ähnelt seinem Vater sehr. Er hat die gleichen klugen Augen, das Talent des Vaters, und die Leichtigkeit des Seins zieht auch durch sein Leben. Tim ist jetzt 34 und hat es dank seines Talentes schon zu einem Bekanntheitsgrad gebracht, der über die Grenzen unseres Heimatlandes hinausgeht. Sein Vater und ich haben versucht, ihm vorzuleben, dass es überhaupt nicht wichtig ist, in einer, wie man so sagt, geordneten Familie zu leben. Ein Künstlerleben eben, alles ein bisschen anders. Tim ist da ohne Schwierigkeiten hineingewachsen.
Ich habe den Mann an meiner Seite vermisst, habe gelitten. Oft hat mich die Hoffnung genarrt, Phillip würde bleiben, wenn er seinen Sohn besuchte. Manchmal hatte es sogar den Anschein. Er war charmant zu mir und ein umwerfender Vater mit tausend tollen Ideen, die bei Tim natürlich tiefen Eindruck hinterließen. Bis heute. Phillip blieb aber nie.
Solange Tim und ich zusammenwohnten, gab es keinen neuen Mann in meinem Leben. Kein großartiger Verzicht, ich war nicht bereit für eine neue Bindung. Später, als Tim längst in Berlin lebte und sich seinem künstlerischen Studium widmete, gab es ein paar Affären. Mehr nicht. Ich sehnte mich in den Armen jedes Mannes nach Phillip.
Tim kam seltener nach Hause, unsere Wohnung war für mich allein zu groß und zu teuer. Ich suchte eine ganze Weile nach einer neuen. Schließlich fand ich eine sehr hübsche geeignete am Stadtpark, mit Blick auf einen kleinen See, drei Zimmer, nicht sehr groß, mit schrägen Wänden, dazu eine kleine Küche, ein hübsches Bad. Und, das schönste, ein Balkon. Auf ihm habe ich schon viele Stunden verbracht. Manchmal sitze ich dort schon im Februar, fest in eine Decke gewickelt, und genieße die Sonne und ein Buch.
Ja, und mit der Zeit gab es noch eine Annehmlichkeit. Ich hatte einen sehr umgänglichen Nachbarn. Nein, jetzt folgt keine Liebesgeschichte. Ob es eine geworden wäre, wenn es Phillip in meinem Leben nicht gegeben hätte? Vielleicht. Manchmal ertappte ich mich bei solchen Gedanken. Mit Ronald wird man sofort warm, er ist sympathisch, hilfsbereit, wirkt aber immer etwas distanziert. Ich entnahm unseren Gesprächen, dass er als Gärtner arbeitete, später stellte sich heraus, dass er mit großem Erfolg als Gartenbauingenieur tätig ist und als geschätzter Berater für Gartenbauausstellungen und öffentliche Grünanlagen geachtet wird. Sein Beruf ist auch sein Hobby, die spezielle Zucht von Zierpflanzen. Zwischen uns hat sich Nähe aufgebaut, wir finden immer einen gemeinsamen Nenner oder erstreiten uns den. Aber nie verletzend, es macht Spaß, mit ihm zu streiten, wenn die Meinungen auseinander gehen. Wir sind in der Lage, unseren Blickwinkel auch mal zu drehen, Rechthaberei ist uns fremd. Das bereichert beide. Aber es gibt einen Schatten in Ronalds Leben, Tragik, die er lange für sich behielt. Er wusste mittlerweile von mir alles. Und alles hieß meistens Phillip. Ich konnte mir lange nicht erklären, warum er immer am letzten Wochenende des Monats nach Born, einem kleinen Ort auf dem Darß, fuhr, der ungefähr zwei Autostunden von uns entfernt liegt. Ronald übernachtete dort. Sonntags gegen Abend kehrte er in sich gekehrt zurück. Steckte eine Frau dahinter? Eine unglückliche Liebe? Spielte er? Trank er?

Als wir hier einzogen, habe ich ihn einmal auf ein Glas Wein einladen wollen, um ihm für seine Hilfe zu danken. Er trank Apfelsaft. Und ich die Flasche Wein leer, was ein ungeheures Redebedürfnis zur Folge hatte. Thema: das Für und Wider meiner Beziehung zu Philipp Leja. Er bekam Einblick bis in alle Einzelheiten.
Auf die Ernüchterung am nächsten Tag folgte eine peinliche Woche, in der ich versuchte, Ronald aus dem Wege zu gehen.
Alkoholiker war er jedenfalls nicht. Er nicht… Höchstens ein trockener. Die Zeit verging, mittlerweile lebten wir schon ein paar Jahre Tür an Tür und pflegten einen recht vertrauten Umgang miteinander. Nicht mehr, aber auch keinesfalls weniger.
Das Geheimnis seiner Borner Wochenenden erzählte er mir an seinem 55. Geburtstag.
Stellen Sie sich Ronald als glücklichen jungen Mann vor, voller Pläne, verliebt bis über beide Ohren in Anne Marie. Anne Marie, eine angehende Architektin, und Ronald, ein schon erfolgreicher Gartenbauingenieur. Die Eltern der Braut haben ein kleines Anwesen mit Ferienwohnungen auf dem Darß. Als die beiden Verliebten Heiratspläne schmieden, wird für sie eine Ferienwohnung als Wochenenddomizil ausgebaut. In der Woche wohnen beide in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Greifswald. Es sind glückliche Jahre, die die beiden verbringen, Hochzeitspläne werden reif und verwirklicht, und die Freude der Großeltern kennt keine Grenzen, als Kim, das erste Enkelchen, in ihre Welt kommt.
Kim wächst behütet bei den Großeltern auf, die Eltern sind beruflich stark eingespannt. Doch die Wochenenden gehören der Familie, ausnahmslos. Eine glückliche Zeit für alle, die ein jähes schreckliches Ende findet.
Kim verbrachte den Jahreswechsel bei einer Freundin in Ribnitz-Dammgarten. Am Neujahrstag wollten ihre Eltern sie abholen. Sie hatten ausgelassen ins neue Jahr gefeiert und Roland hatte mit den Folgen einer durchfeierten Nacht zu kämpfen. So saß Anne Marie am Steuer. Die Rückfahrt verlief amüsant, Kim hatte soviel zu berichten, dass die Eltern ihrem Redefluss kaum folgen konnten. Es hatte zu schneien begonnen, die Straßen wurden glatt und die Sicht immer schlechter. Warum Anne Marie von der Straße abkam, lässt sich nur so erklären. Ronald erinnert sich nur noch daran, dass er das Steuer herumriss, an einen dumpfen Aufprall und an die darauf eintretende schreckliche Stille.
„Als es still wurde“, so begann er an seinem 55. Geburtstag seinen Schicksalsbericht. Lange saßen wir schweigend nebeneinander. Wir konnten die Stille fühlen. Mir kam nicht einmal der Gedanke, Ronald in den Arm zu nehmen, der Moment gehörte ihm und seinen Erinnerungen. Es wurde langsam dunkel. Nur die Geburtstagskerze flackerte ab und zu, sie erinnerte eher an die Toten, als an ein Geburtstagslicht.
Ich stand leise auf und verließ den Raum. Hier gehörte ich nicht dazu.
Es dauerte aber zu meiner Überraschung nicht lange, und Ronald klopfte an meine Tür. Er wirkte gelöst und erinnerte daran, dass er mich zum Essen geladen hatte. Der Appetit war mir vergangen, ich war auch befangen, aber ich freute mich, dass Ronald nicht, wie vermutet, allein bleiben wollte. Er hat mir sein trauriges Geheimnis anvertraut und nun weiß ich, dass er das letzte Wochenende des Monats immer an die Gräber seiner Frau, seiner Tochter und die der inzwischen lange verstorbenen Schwiegereltern fährt, um sie zu pflegen.
Wenige Monate später hat er mich gefragt, ob ich ihn einmal begleiten würde. Ich habe mich über dieses Vertrauen sehr gefreut, jedoch abgelehnt. In diesem Teil seiner Geschichte habe ich nichts zu suchen. Aber wir sind uns noch vertrauter geworden.
So war es natürlich nicht verwunderlich, dass ich, völlig überrascht von einem Telefonanruf, in meinem Überschwang sofort zu ihm stürmte. Philipp und Tim sollten eine gemeinsame Vernissage in Berlin bekommen. In ganz großem Stil!
„Mutsch, du musst kommen, Papa freut sich so auf dich, es gibt d i e Überraschung, du wirst aus dem Staunen nicht herauskommen. Und endlich hast du mal Grund, so richtig stolz auf deine Männer zu sein. Richte dich auf ein paar Tage ein, es gibt wirklich groß was zu feiern. Mach dich hübsch. Wir sind auch stolz auf dich.“
Tim klang so glücklich am Telefon, dass er mich mitriss. Ich war so aufgeregt! Was war das für ein verrückter Tag. Er begann mit den Fotos einer glücklichen jungen Frau in rotem Kleid. Dann sah ich ein fast identisches Kleid in der Auslage, und nun der Anruf. Ich hatte ein Gefühl, als würde meine Seele tanzen, in meinem Magen Flugzeuge rumoren, mein Herz zerspringen.
Wie gesagt, zuerst musste ich es Ronald erzählen und - lief ihm direkt in die Arme. Ich wirbelte ihn herum und hätte ihm dabei fast ein Töpfchen mit einer dunkelroten Blume aus der Hand geschlagen. Aber nur fast. Er sah mich entgeistert an, so einen Gefühlsausbruch hatte er nicht erwartet.
Irgendwann habe ich es dann doch geschafft, ihm zu erklären, was mir da gerade geschehen war und noch geschehen sollte. Er reagierte etwas verdutzt, darauf war er nicht vorbereitet. Er kam eigentlich, um zu fragen, ob ich ihn ein paar Tage in die Sächsische Schweiz begleiten würde. Gestern hätte ich noch erfreut zugestimmt. Aber das Angebot fiel natürlich genau in die Zeit, in der ich in Berlin war. So ist es oft im Leben. Erst geschieht ewig gar nichts, und dann gibt es gleich mehrere Ereignisse und das Entscheiden fällt schwer. In diesem Falle allerdings nicht. Ich habe ein halbes Leben lang auf Philipp gewartet. Und nun Phillip und Tim zusammen... Herrgott war ich glücklich. Fast vergaß ich, dass Ronald immer noch mit der Blume in der Hand dastand. Sie sollte ein Geschenk sein, eine neue, ganz besondere Züchtung von ihm. Es handelte sich um eine gefüllte Primel, deren Blüten einer Rose ähnelten. Dunkelrot und wunderschön. Ich freute mich darüber, aber in meinem Kopf hatten keine Gedanken mehr Platz, die sich nicht um die Reise nach Berlin und ein Wiedersehen mit Phillip drehten. Nicht einmal für dunkelrote, doppelt gefüllte Züchtungen meines Nachbarn und besten Freundes.
Am nächsten Morgen kaufte ich mir das Kleid. Es war ein etwas dunkleres Rot, für den Anlass geradezu perfekt. Es fällt schwer, nicht der Mystik der Magie zu verfallen anlässlich solcher Verkettung vermeintlicher Zusammenhänge, ausgerechnet …
Sie stand mir blendend, meine neue Glückshaut. Und wenn sie mich auch nur einen einzigen Tag umhüllen sollte, der würde mir die Zukunftsträume vergolden…
Am Abend vor meiner Abreise bat ich Ronald, die geschenkte Primel zu pflegen. Primeln reagieren sehr theatralisch auf Trockenheit und Luftzug. Gibt man ihnen nur einen Tag kein Wasser, lassen sie ihre Blüten und Blätter hängen und scheinen dem Tode geweiht. Aber
da konnte ich unbesorgt sein.
Ich fuhr mit dem Zug nach Berlin. Die Verbindung ist gut, viel länger als 3 Stunden brauchte ich nicht. Tim holte mich vom Bahnhof ab. Er sah umwerfend gut aus. Die Überraschungen an diesem Tag überboten alles. Schon aus dem Auto heraus konnte ich die Plakate mit der Ankündigung der Vernissage erkennen. Wow, auf ihnen war eine junge, strahlend schöne Frau zu sehen. In einem feuerroten Kleid. Ein frühes Werk des Künstlers Phillip Leja, sein „Feuerrotes Kleid“. Wer war die schöne Unbekannte? Darüber wurde oft gerätselt. Ich wurde, mir stockte fast der Atem, in das berühmte „Adlon“ gefahren, mit einem Glas Champagner begrüßt und bezog ein elegantes Appartement. Und plötzlich konnte ich mich gar nicht mehr so richtig freuen. Dieses irritierende Gefühl überkam mich schon öfter, erst kann man ein besonderes Ereignis gar nicht erwarten, und wenn es soweit ist, bleibt die Freude verhalten. Sie schleicht sich erst wieder ganz langsam und leise ein. Diesmal war das jedoch verständlich, das Geschehen der nächsten Stunden war nicht realistisch einzuschätzen.
Im Sog der folgenden Ereignisse hatte ich kaum Zeit, meine Gefühle zu orten. Ich hatte gerade mein Kleid übergestreift, feuerrot war es nicht mehr, aber die Farbe passte nun auch viel besser zu einer gereiften Frau, mein Makeup noch einmal aufgefrischt, da klopfte es schon an der Tür. Tim kam, um mich abzuholen. Ich hatte damit gerechnet, Phillip würde kommen, aber er wurde von Journalisten vereinnahmt, natürlich, es war sein Tag. Aber auch der seines Sohnes. Ich freute mich, dass mein Sohn, immerhin stand ihm heute seine erste ganz große Würdigung bevor, trotzdem am Befinden seiner Mutter interessiert war. Wie eng wir zusammengewachsen waren, wurde mir in diesem Moment wieder einmal besonders bewusst.
Dann stand ich im Foyer einer wunderschön geschmückten Halle, umgeben von vielen Leuten und hatte doch nur Augen für d e n Einen…
Phillip sah umwerfend aus. Er kam strahlend auf mich zu, eine elegante junge Frau reichte ihm einen riesigen Rosenstrauß, den er an mich weitergab. Wie empfand ich diesen Moment? Im Nachhinein traumhaft, unwirklich. Unsicherheit überkam mich, kein Wunder, denn Phillip breitete seine Arme vor aller Welt, das heißt, vor zahlreichen Kameras, weit aus. Das war mir unangenehm. Steif und verlegen stand ich mit den Rosen im Arm da.
„Gib her das Gemüse“, rettete Tim die Situation. Und dann umarmte Phillip mich vor den Augen der Anwesenden. Ich ließ mich einfach fallen und vergaß die Welt um mich herum.
Mein Liebster roch nicht mehr so vertraut. Eleganter, geheimnisvoller.
Die Laudatio für die beiden Künstler -meine Männer- in denen das Gemälde
„Feuerrotes Kleid“ natürlich zur Sprache kam, war der Auftakt einer Serie von Vorhersagen, Vater und Sohn würde der Sprung in die Reihe der ganz Großen gelingen.
Und irgendwann wurde ich der Mittelpunkt des Abends. Denn nun hatte man, (oder erzählte es Phillip selbst) in mir die junge Frau auf dem frühen Gemälde des damals jungen Künstlers erkannt. Nun prasselten von allen Seiten Gesprächsfetzen auf mich ein.
…Wundervoll, ganz wundervoll… keinen Tag älter… und das rote Kleid der kleinen Buchhändlerin… heute noch maßgeschneidert…Ihrer Schönheit keinen Abbruch getan… damalige Bohemien…
Ich könnte die Reihe der Tatsachen und Vermutungen in den Schlagzeilen der nächsten Tage sicherlich noch eine Weile fortsetzen.
Im Laufe des Abends hatte ich Gelegenheit, Einblick in das Künstlerleben meiner Männer zu bekommen und ihren Alltag zu ahnen. Da gab es keinen Platz für ein geordnetes Familienleben, dem Wunsch einer einstigen kleinen Buchhändlerin. Vielleicht erkannte ich irgendwann auf dem Höhepunkt meiner chaotischen Gefühle, dass ich hier nicht hingehörte, dass sich hier gar nichts mit meiner Welt in Einklang bringen ließ. Aber dann kam Phillip mit einem Glas Champagner, um mit d e r Überraschung aufzuwarten.
Was in mein Bewusstsein drang, klang etwa so:
Karibikkreuzfahrt, 3 Wochen nur wir zwei, verdiente Auszeit…
Und er sagte noch viel mehr, aber ich konnte nichts mehr aufnehmen. Der Sekt, die Eindrücke, ach, ich war an dem Punkt angekommen, an dem nichts mehr unmöglich schien und nichts mehr wirklich. Ich musste mich jetzt unbedingt jemandem mitteilen, der mir vertraut war. Ich dachte an meine Mutter. Sie nahm früher immer an allen großen und kleinen Dingen meines Lebens regen Anteil, hatte immer einen nützlichen Ratschlag. Plötzlich fehlte sie mir entsetzlich.
Aber Ronald musste es erfahren. Ronald! Oh Gott, ich hatte ihm fest versprochen, mich sofort nach meiner Ankunft bei ihm zu melden. Wenigstens eine SMS musste ich ihm senden. Ich aktivierte mein Handy und öffnete eine neue Mitteilung.
Nur ein Foto erschien auf dem Display. Eine Zuchtprimel. Mit hängenden Blüten und Blättern, dem Tode geweiht.
Nein! Unfassbar! Hatte Ronald vergessen, die Primel zu gießen. Wie konnte das ausgerechnet ihm passieren?
Nein. Er hatte sie durstend fotografiert. Das war die Nachricht!
Ganz langsam setzte mein Verstand wieder ein. Doch ganz nüchtern wurde ich erst, als der Taxifahrer vor meiner Tür hielt. Ich war wieder zu Hause.
Um viertel nach vier Uhr morgens klopfte ich an Ronalds Tür. Es dauerte eine ganze Weile, bis er öffnete. Seinen Blick werde ich nie vergessen…
Er fiel mir in die Arme. Ich versuchte, ihn zu halten, was nicht ganz einfach war.
Ronald war sturzbetrunken! Ich zog ihn auf die Couch. Dabei fiel mein Blick auf den Küchentisch. Auf diesem stand die Primel. In kläglichem Zustand. Man hatte sie mit Rotwein getränkt. Neben ihr stand ein halbvolles Glas. Daneben eine leere und eine halb volle Flasche Rotwein.

Erschöpft sank ich in einen Sessel und schlief sofort ein.

Ich freue mich darauf, Ronald in die Sächsische Schweiz zu begleiten. Der Weg zu meinem vertrauten Nachbarn nahm einen Umweg über Berlin.

Ein Happy End? Man sagt, das Happy End ist nur Provisorium.
Aber davon möchte ich heute nichts wissen.

Phillip glaubte ich eine Erklärung für meine plötzliche Flucht schuldig zu sein. Ich füge sie hier mit bei.


Lieber,
verzeih…diesmal bin ich es, die Dir vielleicht ein wenig weh getan hat. Vielleicht. Auf jeden Fall habe ich Deine Eitelkeit verletzt.
Aber die vielen Bewunderer, die Dich und Tim feierten, haben Dir sicher schnell über meine „Flucht“ hinweg geholfen.
Ich war überwältigt, betäubt, ergriffen von den Geschehnissen und plötzlich beunruhigt. Irgendwann im Verlauf des Abends begann ich zu ahnen, dass ich all die Jahre einen Traum gelebt habe, der manche Stunde meines Lebens verzaubert hat, und immer wieder von der Hoffnung auf Gemeinsamkeit genährt wurde.
Ein Alltag besteht aus Pflichten, unerwarteten Situationen, lieb gewordenen Gewohnheiten. Er ist eine feste Größe, in der man sich einrichtet.
Die Rolle, die Du in meinem Alltag gespielt hast, bestand aus Erinnerungen und Zukunftsträumen. Unser Leben hat sich in völlig gegensätzliche Richtungen bewegt.
Du hast mich nicht einmal gefragt, was ich nach all den Jahren überhaupt noch für Dich empfinde. Vielleicht hättest Du es tun sollen.
Du warst so sicher, dass ich meine Welt einfach achtlos hinter mir lassen könnte, um mit Dir das Leben zu genießen, immer in irgendwelche Kameras zu lächeln, ein gefülltes Champagnerglas in der Hand. Die verblühende Schönheit, die einst den Künstler zu seinem spektakulären Werk inspirierte, zu sein.
Diese Zukunft wäre vermutlich irgendwann in Champagnergläsern-und Tränensäcken versickert.

Ach Phillip, Du hast meine kühnsten Träume überboten. Aber Träume sterben, wenn sie sich erfüllen. Große Worte, lange Briefe, das ist nichts für Dich.
Was aus der Zeit mit Dir bleibt, ist lebendig.
Umarme Tim. Er wird seine Mutter am ehesten verstehen.
Danke. Und verzeih.
Elke







































Federfügung
Ob es ein sonniger klarer Tag war oder ein trüber regnerischer, das ist nicht übermittelt. Ob sich am Strand viele Menschen auf die eine oder andere Weise vergnügten oder ob er menschenleer war auch nicht, sonst könnte man ja Schlüsse auf das Wetter ziehen. Aber der Rest der Geschichte trug sich so oder so ähnlich zu, obwohl sie nur auf Vermutungen basiert.
Es passierte wohl so: Eine Feder hatte sich aus dem Gefieder eines Vogels gelöst und fiel aus allen Wolken. Ob sie sich von selbst gelöst hatte, oder abgestoßen wurde, das liegt im Bereich der Grauzone, kann man so nicht mit Gewissheit sagen, auf jeden Fall verlor sie ihren Halt. Sie meinte, ins Bodenlose zu trudeln, aber letztendlich strandete sie auf steinigem Grund. Und wenn sie auch sanft getrudelt war, so war sie doch abgestürzt.
Nie mehr würde sie so frei und glücklich durch die Lüfte segeln, gegen den Wind oder mit ihm, nie mehr Wellen, Wasser, Land und Leute aus der Vogelperspektive sehen, nie mehr. Sie verlor ihre Freiheit. Und was das Schlimmste war, sie war hoffnungslos allein. In ihrem ganzen Federleben war sie niemals auch nur eine Minute allein gewesen.
Sie lag da, unfähig, sich zu rühren, Bauchlandung, wenn eine Feder überhaupt auf dem Bauch landen kann. Jedenfalls für sie fühlte es sich so an. Nutzlos, schutzlos. Sie fror erbärmlich. Mehr so von innen heraus aus der Federseele. Mit dieser Situation war sie überfordert, sie hatte nicht gelernt, damit umzugehen. Immer war sie mitten drin im Geschehen, im Gefieder, in der Gemeinschaft. Eine Feder im Gefieder kennt überhaupt kein Gefühl der Einsamkeit. Sie bekommt viel Aufmerksamkeit und Pflege. Mehrmals am Tag wird sie von einem Schnabel liebkost, sorgfältig gereinigt, gefettet. Gefiederpflege ist das Schönste in einem Federleben.
Als Gegenleistung hatte sie verlässlich gewärmt, geschützt und getragen. Nun war sie verlassen, lag da, ich sage es nochmals, unfähig, sich selbst zu bewegen. Ab und zu kam eine übermütige Welle, die sie in das kalte Wasser mitnahm oder wieder an den Strand warf. Der Wind änderte ihre Lage, er bewegte sie, drehte sie, ließ sie auch mal schweben und gaukelte ihr ein Gefühl von Selbstständigkeit vor, ließ sie aber wieder achtlos fallen. Die Empfindung ihrer Bauchlandung wurde übermächtig. Was sie zunehmend irritierte, sie wusste nicht, wie es weiter gehen sollte. Wie würde sich ihr Schicksal besiegeln? Verging sie? Aber wie? War sie bereits gestorben, als sie ihren Halt verlor? Sie hatte in schnellem Flug immer nach vorn geschaut, kannte gar nichts anderes. Jetzt hatte sie die Richtung verloren. Ihre Hilflosigkeit fühlte sich erbärmlich an. Nichts ging mehr aus eigener Kraft und Hoffnung kennt eine Feder nicht.
Irgendwann wurde ihr Gedankenkarussel, das sich um was jetzt, wie jetzt und Warums drehte, durch Menschenfüße unterbrochen.
Sie näherten sich mit kraftlosem Schritt, hoben sich gar nicht richtig vom Boden. Matt und langsam schlurften sie durch den Sand, nur dass sich Schlurfen im Sand nicht typisch schlurfig anhört. Mehr so ein gefühltes. Ja, vielleicht war es das, aber mehr kann man dazu nicht sagen, ohne sich in Vermutungen zu versteigen.
Die Füße wollten gerade an der Feder vorrübergehen, wurden aber plötzlich durch höheres Geheiß in der Ausführung gehindert. Eine Hand hob die Feder auf, und zog sie zwischen den Fingern durch. Eine wunderbare Empfindung, fast als würde sie von einem Schnabel liebkost. Dabei sah sie im Moment ziemlich mitgenommen aus. Nein, wirklich nicht schön, nass und zusammengeklebt. Aber vielleicht war das der Grund, weswegen sie Beachtung des Menschen fand. Vielleicht erregte sie Mitleid.
Die Empfindung des Menschen, der die Feder durch seine Finger gleiten ließ, war ebenfalls eine angenehme. Einen Augenblick träumte er, ach nein, lassen wir das, er wollte daran nicht denken. Er wollte überhaupt nicht mehr denken. Am liebsten hätte er nicht mal mehr geatmet. Aber er wusste nicht, wie das geht.
Er war aus allen Wolken gefallen, hatte den Halt verloren, war abgestürzt, glaubte ins Bodenlose zu trudeln, landete aber auf steinigem Grund. Bauchlandung. So sah die Bilanz seines Daseins aus. Er fühlte sich nutzlos, schutzlos. Er fror erbärmlich. Mehr so von innen, aus seiner Menschenseele heraus. Mit seiner Situation war er überfordert, er hatte nicht gelernt mit Einsamkeit umzugehen. Er war immer mitten drin im Geschehen gewesen, in der Gemeinschaft, einer wie er kannte überhaupt kein Gefühl von Einsamkeit. Er hatte soviel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen, als Gegenleistung hatte er gewärmt, geschützt, gehalten und geliebt. Sehr geliebt!
Nun war er allein. Plötzlich. Eben aus heiterem Himmel aus allen Wolken gefallen.
Manchmal gaukelte ihm der Alkohol ein paar schöne Illusionen vor, wurde aber nur allzuschnell flüchtig und das Gefühl seiner Bauchlandung gewann schnell wieder die Übermacht.
Gab es in ihm noch ein Fünkchen Leben oder war er bereits gestorben, als er seinen Halt verlor? Er hatte immer nach vorn geschaut, immer an seiner Zukunft gebastelt, hatte Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Träume in sie hinein gewebt, aber Einsamkeit, Verlassenheit, nein, daran hatte er niemals gedacht. Die kam darin nicht vor.
Sein Gedankenkarussel drehte sich um was jetzt, wie jetzt und Warums als er da so mit kraftlosen Schritten über den Sand schlurfte, nur, dass sich Schlurfen im Sand nicht typisch schlurfig anhört. Mehr so ein gefühltes.
Der Zufall, oder nennen wir es Schicksal, verursachte also, dass sich die Feder und der einsame Mensch begegneten. Und plötzlich kam dem Menschen die Erkenntnis, dass es ungeheuer viele Gemeinsamkeiten in ihrer beider Dasein gab. Er muss wirklich sehr sehr einsam gewesen sein.
Aber diese Erkenntnis war der erste kleine Schritt aus der Hoffnungslosigkeit. Da war ja noch jemand…ach, wenn’s auch nur eine Feder war. Aber was heißt hier nur? Da gibt es bei Weitem Wertloseres.
Das Ende der kleinen Geschichte ist schnell erzählt. Die Feder trocknete in der angenehmen warmen Hand des Menschen und ihre prächtige Musterung kam voll zur Geltung. Ein kleines Wunderwerk. In ihre Betrachtung versunken kamen dem Menschen erste wage Gedanken, die mit der Zeit zu einer Idee reiften. Er spitzte die Feder, tauchte sie in ein Tintenfass, machte sie zu seiner Verbündeten, weihte sie in seine innersten Geheimnisse ein, sie teilten ja ein ähnliches Schicksal, das machte es leichter, und schrieb sich seinen Schmerz von der Seele. Er schrieb, nein die beiden schrieben und schrieben, manchmal holperig mit langen Pausen, oft verwischten Tränen die Tinte, aber das war nicht schlimm, man konnte es immer noch lesen. Und wenn nicht, na und? Manchmal ging es flott. Manchmal lächelte der Mensch auch in Erinnerung vieler schöner Stunden, die für ihn auf diese Weise wieder auflebten. Kurzum, er fand den Weg in sein normales Leben zurück, nicht gleich, oh nein, ein bisschen hat das schon gedauert. Und, vielleicht ist ihm das gar nicht bewusst geworden, auch das spielt keine Rolle, er ist aus dem Verlust gestärkt hervorgegangen. Wie gesagt, er weiß es vielleicht gar nicht. Aber ich.
Und die Feder? Na, der geht es gut. Und wie! Die fliegt nicht nur über das Papier, sie fliegt viel höher hinaus, als es jemals ein Vogel vermocht hätte. Sie wird von der Fantasie beflügelt und diese kennt keine Grenzen.










Jupp
Ich hatte bemerkt, dass sich die Gardine dort im 2.Stock hinter dem unbeleuchteten Fenster bewegte. Ich hatte es genau bemerkt. Sie war zu Hause. Und nun war mir endgültig klar, ich würde mein Geld niemals bekommen. 30 €, viel Geld im Moment für mich, ich hatte damit gerechnet. Dabei hatte es Elsa für heute fest zugesagt.
Elsa war die Frau meines besten Freundes Jupp. Das heißt, jetzt war sie Witwe. Noch keine 40. Jupp gab es seit 3 Monaten nicht mehr. Er hatte sich einfach davongestohlen. Herzinfarkt. Mit 48. Mein Gott, da kriegt man doch noch keinen Herzinfarkt, nicht mit 48! Na ja, sie hatten es im Krankenhaus so gesagt und man musste da irgendwie mit fertig werden, ob man das glaubte oder nicht. Und nun stand sie da hinter der Gardine und wartete darauf, dass ich endlich gehen würde. Zwecklos, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Schweren Herzens ging ich zurück zur Hauptstraße. Es war der 24. Dezember, überall herrschte geschäftiges Treiben, besonders auf dem Parkplatz des Supermarktes. Übervolle Körbe wurden hinausgeschoben. Genau 5,60 € hatte ich in der Tasche und weder ein Weihnachtsgeschenk für Elisabeth, noch für Tina und Paul. Es wurde von Jahr zu Jahr schwerer für uns, aber dass wir mal so weit runterkommen würden, das hätte sich keiner träumen lassen.
Von meiner geringen Barschaft kaufte ich wenigstens für die Kinder eine Hand voll Süßigkeiten, für Elisabeth und mich eine Flasche Wein. Ich war der einzige Kunde an der Schnellkasse. An den anderen rissen die Schlangen nicht ab. Wenn ich an frühere Weihnachtsfeste dachte…
Als Fischer verdient man sein Brot nicht leicht, kann es aber zu bescheidenem Wohlstand bringen. Und den hatten wir bis vor ein paar Jahren. Eine ganz normale Familie. Aber die Zeiten wurden immer schwerer, alles wurde teurer und teurer, allein für die Instandhaltung des Bootes reichte der Erlös nicht mehr. Ich musste mein Gewerbe abmelden und bin seitdem arbeitslos.
Jahrelang bin ich mit Jupp zu nachtschlafender Zeit auf das Meer gefahren, bei Wind und Wetter. Wir haben viel gemeinsam durchgestanden. Oft sprachen wir stundenlang kein einziges Wort, brauchten wir nicht, wir kannten einander. Aber wie oft haben wir auch über den größten Blödsinn gelacht. Jupp träumte davon, eines Tages eine vollbusige Meerjungfrau aus dem Wasser zu ziehen und redete gern über ihre wohlgeformte große Oberweite. Unsere Fantasien, was man mit ihr so anstellen könnte oder eben nicht, uferten so manches Mal aus. Oder wir philosophierten. Manchmal stellten wir uns vor, mit dem kleinen Boot über die Meere zu schippern und uns die Welt anzusehen. Wir haben sie nicht gesehen. Oder jedenfalls nicht viel von ihr. Aber ein kleiner Teil der Welt vielleicht uns, denn einmal wurden wir von 2 Journalisten auf unserem Fang begleitet, und der kurze Beitrag wurde im NDR ausgestrahlt. Und viele, viele Urlauber sahen uns beim Flicken der Netze zu und machten Fotos von uns. Besonders, wenn es einen schönen Sonnenuntergang gab. Der Romanik wegen. Vielleicht waren auch ein paar wirklich gute dabei. Wir haben sie nie gesehen, und jetzt hätte ich so gern eins von Jupp und mir.
Ja, alles hat seine Zeit, dass unsere einmal so schnell vorbeigehen könnte, hätte keiner gedacht…
Jupp hat die Geschäftsaufgabe nicht verkraftet. Mit Elsa hat er es auch nicht so ganz leicht gehabt, sie neigt zu Depressionen. Damit konnte Jupp nichts anfangen. Er meinte, sie sollte sich lieber ein bisschen zusammenreißen und in die Hände spucken, als dämliche Bücher über Selbstfindung von glücklichen Gurus zu lesen. Elsa war eigentlich ganz in Ordnung. Elisabeth sagt, sie hat eine zarte Seele und Jupp ist ein Grobian, sie hätten nie zusammen gepasst. War er nicht, das wusste keiner besser als ich.
Alles Geschichte. Manchmal verdiente ich nun ein paar Cent im Tierheim, indem ich Stroh oder Futter anlieferte oder ein paar Reparaturen erledigte.
In Gedanken versunken war ich zuhause angekommen. Ich hörte die Kinder in der Küche lachen, das tat mir weh. Sie wussten, dass nichts unter dem Gabentisch liegen würde, aber ihre Weihnachtsstimmung schien das nicht zu schmälern. Ich kam mir schrecklich erbärmlich vor.
Ich ging gar nicht erst hinein und holte den alten Pickup aus der Garage. Das Schloss einer Zwingertür im Tierheim musste noch repariert werden. Für meinen vierbeinigen Freund hatte ich wenigstens etwas mitgebracht. Er war schon daran gewöhnt, mein Frühstück mit mir zu teilen, der kleine Mischlingshund. Ein noch ziemlich junges Tier. Die Tierpfleger erzählten, er wäre nur knapp dem Hungertod entgangen, als er gefunden wurde. Über sein Schicksal war nicht viel bekannt. Er wollte nicht fressen, war sehr scheu und verkroch sich in die äußerste Ecke des Zwingers. Niemand konnte ihn hervorlocken. Als ich vor ein paar Wochen mit einer Reparatur beschäftigt war, näherte sich mir der Rüde erstmals. Schlecht gelaunt stieß ich ihn zur Seite. Er behinderte meine Arbeit. Daraufhin setzte er sich in einiger Entfernung nieder und sah mir zu. Als ich ging, gab ich ihm mit dem Fuß noch einen leichten Tritt, um ihn loszuwerden, und er trottete wieder in die hinterste Zwingerecke. Er verhielt sich auch in den nächsten Tagen nicht anders, und bald kam er mir entgegengelaufen, sobald er den Pickup wahrnahm. Irgendetwas an mir musste ihm Vertrautes signalisieren. Wer kennt sich schon aus in einer fremden Hundeseele. Wir gewöhnten uns aneinander. Er bekam ein paar Streicheleinheiten und später von meinem Frühstück ein paar Bissen. Egal, was ich zu tun hatte, er folgte mir auf dem Fuße. Ich nannte ihn einfach Hund, das war ihm recht. Den Kindern konnte ich zu Hause gar nicht genug von dem kleinen Vierbeiner erzählen. Sein unbekanntes Schicksal ließ immer neue Mutmaßungen zu.
Ich hatte heute einen besonderen Leckerbissen für ihn mitgebracht, sozusagen mein Weihnachtsgeschenk. Doch als ich auf den Hof kam, lief mir kein Hund entgegen. Das beunruhigte mich. Ich erledigte halbherzig meine Arbeit und begann ihn dann zu suchen. Er war nicht in seinem Zwinger, die Tür war verschlossen. Ungewöhnlich. Beunruhigend. Ich rief und pfiff, nichts, nirgends eine Spur. Es wurde langsam dunkel, ich musste nach Hause, denn auch ohne Geschenke sollte der Weihnachtsabend doch einen festlichen Anstrich bekommen. Wir erwarteten die Großeltern. Schweren Herzens verschloss ich das Tor zum Tierheim und stieg in den Pickup. Ich startete, blieb aber bei laufendem Motor sitzen und überlegte. Knut fiel mir ein, er hatte heute Nachmittag als letzter die Tiere versorgt. Knut musste etwas wissen. Zum Glück wohnte er nicht weit von uns entfernt.
Was ich erfuhr, hätte mich freuen müssen, aber das Herz wurde mir schwer. Der Hund war der zündenden Idee eines verspätet nach Geschenken Suchenden zum Opfer gefallen. So sah ich das jedenfalls. Ein Mann hatte sich am Vormittag im Tierheim umgesehen, eigentlich auf der Suche nach einer Katze. Der kleine Hund gefiel ihm, und es gab keinen Grund, diesem eine sicherlich angenehmere Bleibe zu verweigern. Knut hatte recht. Und die Nacht sollte kalt werden. Ich stieg wieder in den Pickup. Langsam, ganz langsam, fuhr ich heim.
Unser Haus war hell erleuchtet, die Familie schon versammelt. Direkt am Stubenfenster stand der Weihnachtsbaum. Marianne hatte ihn wunderschön geschmückt, mit kleinen rotbäckigen Äpfeln, Strohsternen und vielen kleinen Lichtern. Noch durfte niemand in das Weihnachtszimmer außer ihr, das hatten wir immer so gehalten.
Ich stieg schwerfällig aus. In diesem Moment sprang etwas an meinen Beinen hoch. Ganz außer Atem. Ein kleines längst vertrautes Fellbündel. Mein Hund! Ich bückte mich, er sprang und tanzte, zwei überglückliche Seelen. Dann nahm ich ihn auf den Arm und ging ins Haus.
Ich kann mich an kein Weihnachtsfest erinnern, an dem es so fröhlich zuging wie an diesem Heiligen Abend. Die Kinder brachen in Jubel aus, als ich mit meinem Hund unter dem Arm in der Tür stand. Leuchtende Kinderaugen, wie sehnlichst hatte ich mir das gewünscht. Und wie unwahrscheinlich war das noch eben.
Der Hund benahm sich, als wäre er niemals woanders gewesen. Er war zu Hause.
Das Glück ist launisch und verweilt meist nicht lange. Mit dem Hund ist aber ein kleines Glück in unser Haus gekommen, jeden Tag neu. Für jeden von uns.
Natürlich bekam der Hund auch einen richtigen Namen. Das war gar nicht so einfach. Viele Vorschläge von allen Seiten wurden bedacht und verworfen. Ich hörte schon gar nicht mehr zu, hing meinen noch aufgewühlten Gedanken nach und ließ den Tag noch einmal innerlich an mir vorbei ziehen. Ich dachte an Elsa, die sicher zu Hause weinte und schämte mich wegen der 30€, die ich noch von ihr haben wollte. Ich dachte an mein erbärmliches Befinden und an Jupp, der zum ersten Mal zu Weihnachten nicht bei uns war. Und da kam mir ein ganz verrückter Gedanke. Der Hund hatte beharrlich sein Ziel verfolgt, mit untrüglichem Spürsinn. Kam er von Jupp? Natürlich nicht. Oder? Ein bisschen komisch wurde ich wohl langsam, aber es war schön, an ein Zeichen von Jupp zu glauben. Als ich meine Gedanken etwas verlegen laut äußerte, war es einen kleinen Moment ganz still. Aber nur einen ganz kurzen. Und dann war es klar. Jupp!
Wir nannten den kleinen Hund Jupp. Einstimmig.

Später, viel später, alle schliefen schon längst, nur Elisabeth und ich waren noch wach, fragte sie:
“Warum hast du mir von deiner Idee nicht eher erzählt? Du hättest mir eine große Sorge erspart.“
“ Ach Schatz, es sollte doch auch für dich eine Überraschung werden.“
Und ich hörte, wie mir Jupp mit hochgezogener Augenbraue in seiner breiten Mundart ins Ohr raunte „alter Schleimer“.
Ja, was ich noch der Richtigkeit halber erwähnen möchte, Elisabeth hatte Elsa eingeladen, es war ja das erste Weihnachtsfest ohne Jupp. Elsa hat abgelehnt, das war für uns alle nachvollziehbar. Aber am ersten Weihnachtstag kam sie. Mit dem Geld und einer Flasche Wein. Doch das Geld lehnte ich beschämt ab. Mit dem Wein jedoch haben wir auf unseren neuen Mitbewohner angestoßen.
Und so gibt es wieder einen treuen Jupp an meiner Seite, wenn auch einen vierbeinigen.


© Beate M. Kunze


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Kommentare zu "5 Erzählungen"

Re: 5 Erzählungen

Autor: noé   Datum: 14.01.2014 3:29 Uhr

Kommentar: Mein Gott, Beate!
Wie kannst Du nur eine einzige Perlenkette aus diesen fünf Erzählungen basteln, statt fünf einzelne Solitäre anzubieten.
Meisterhafte Texte, jeder für sich, ein "Buch", das man nicht aus der Hand legen kann. Man (ich) bleibt einfach gefesselt an jeder nachfolgenden Zeile hängen.
Welch ein Lese-Erlebnis in fünf ganz verschiedenen Welten - und jede absolut authentisch erzählt in einem Stil und mit einem Deutsch, die einfach nur verzaubern können. Ich wünschte mir sehnlichst, ich könnte so schreiben...
Meisterhaft, ich bleibe dabei.
noé

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