Dieses energische Geräusch ihres Marschierschrittes, wenn sie sich des Klassenzimmers näherte, war für uns Kinder die Ankündigung.Eine Sirene, die uns warnte vor Unheil. Wir konnten zwar nicht fliehen, aber uns auf das Unheil vorbereiten.Schnell wie der Blitz, setzten wir uns rasch auf unsere Plätze. Fröhliches Lachen und Verspieltheit flogen aus dem Klassenzimmer schnell weg. Frau Moser sollte ihre Flügel nicht bekommen. Totenstille und Angst nahmen mit uns Platz. Fast atemlos starrten wir Kinder auf die Klassentüre und das Hören der Polterschritte, die wie Drohtöne klangen,wurde immer lauter. Frau Moser war für uns die Verkörperung alles Bösen. Sie war die Angst, die auf dünnen Stelzen in Lederstiefeln in das Klassenzimmer marschierte, nachdem sie mit ihren langen,knochigen Fingern die Türe aufriss. Ihr rotes,krauses, kinnlanges Haar wippte unter ihren starksigen Bewegungen. Ihre schwere, dunkelbraune Ledertasche ließ sie geräuschvoll neben ihrem Pult zu Boden nieder. Dann richtete sie sich zur Klasse hin auf. Sie war groß, hager und knochig von Gestalt. Noch heute verbinde ich mit der Verpaarung der Worte hager und knochig, meine erste Lehrerin der Grundschule. Ich sehe sie dann vor mir, wie sie vor der Klasse stand, mit ihren hohlen Wangen, den dünnen in rosagehaltenen Lippen und dem spitzen,vorgestreckten Kinn. Ihre Nase war lang und schmal mit einer pfeilartig nach unten gerichteten Nasenspitze, die mich an einen Vogelschnabel erinnerte. Ein Vogelschnabel, der immerzu am hacken war. Dafür bestimmt, erbarmungslos aufzuhacken, anstelle zu singen. Ihr Alter war für uns Kinder undefinierbar. Für uns konnte sie 40 sein, oder schon 60 Jahre alt.Die dunkle Macht ist alterslos. Meist trug sie Röcke zu ihren Stiefeln und ihre Kleider waren für uns Kinder mit unpassenden und schreienden Farben zusammengestellt. Rot zu Orange, Grün zu Blau oder Lila. Heute modern. Damals in den 70igern ein Fauxpas, eine visuelle Unerträglichkeit. Mit grauen Augen, tief in den Augenhöhlen liegend,streifte ihr strenger Blick allmorgenlich durch die Klasse. Wir Kinder fühlten uns wie Beute. Ob der Adler mit seinem spitzen Schnabel gleich wieder hackt? Manchmal erspähte dieser Raubtierblick etwas, das ihm missfiel. Sofort blieb dann der krause Kopf in der Richtung stehen, der der Grund des Missfallens auslöste. Sie setzte dann sogleich ihren Marschierschritt fort, zu dem Platz, zu dem Kind, das ihren Mißmut an diesem Morgen auf sich zog. Wir Kinder folgten mit unseren Augen der Beutespur. Keine Erleichterung wurde von uns verspürt, wenn wir nicht das Angriffsziel waren, denn wir trugen die Angst für das Kind mit, dem es galt. Eine kollektive Angst, dessen Erfahrbarkeit in den Jahren mit Frau Moser uns gelehrt wurde. Wir wurden Meister darin.Dann stoppten ihre Schritte. Sie stand nun vor der Schulbank des Kindes, das entweder, für ihre Begriffe, die Haare zu unordentlich trug, die Schulsachen für die kommende Stunde noch nicht auf der Bank hatte oder es war sonst ein, für uns kein ersichtlicher, schlimmer Grund, was aber Frau Moser wohl aber als Verbrechen ansah. Es war unberechenbar. Es gab für uns Kinder keine erfassbare Regel , deren Einhaltung uns vor Sanktionen schützte.Und diese bestanden bei ihr aus seitenweise Strafarbeiten,schlechter Betragensnote, Bloßstellung vor der Klasse oder einem kräftigen Klaps auf den Hinterkopf. Es war, als könnte es alles sein, was einem Verbrechen in den Augen von unserer Lehrerin, unserer Führerin gleich kommt. Wir waren schutzlos. Die Beute musste den Launen des Raubtieres folgen.
Ihre schrille, meist sich überschlagende Stimme, halte durch den Raum, während sie auf das Kind hinabblickte. Meist schrie sie dabei einen Satz, der zu ihr gehörte, wie das krause, wippende Haar oder ihre Stiefel"wir sind hier nicht bei den Hotten Totten!"
Ich stellte mir dann vor, wie es wohl bei dem Volk der Hotten Totten zuging. In meiner Phantasie, sah ich ein wunderschönes, kleines Dorf in einer blühenden Landschaft. Gemütliche, etwas rundliche Menschen, die zwar nicht all zu großen Wert auf Ordnung legten, aber sehr freundlich waren. Sicher ein Ort, wo sich unsere Lehrerin recht unwohl fühlte und daher niemals aufsuchen würde. Ein Frau Moser freies Stück Land. Ein Paradies.
Diese Frau schien unendlich viel Macht zu haben. Unser mausgrauer stiller Direktor kam uns nie zu Hilfe und schien selbst Angst vor ihr zu haben. Eines Tages standen Eltern von uns vor der Klassentüre und wir hörten, wie Frau Moser laut mit ihnen sprach, während wir still an unseren Bänken saßen und gebannt lauschten. Wir verstanden nicht viel, bis wir auf einmal Frau Moser schreien hörten"dann erziehen sie doch ihre Kinder alleine!" und dabei in die Klasse reinstürmte und die Türe vor den Eltern zuknallte.Dann hörten wir nichts mehr. Die Eltern schienen sich nicht gegen sie aufzubäumen und wagten sich auch nicht in die Klasse herein.In die Falle, in der ihre Kinder saßen. Selbst unsere Eltern schienen sich ihrer allgegenwärtigen Macht zu fügen.

Doch enes Tages gab es ein Aufbäumen.

Es war ein Junge aus unserer Klasse. Gabriel. Seine Eltern waren sehr arm und er hatte seine Bücher daher in Zeitungspapier umgeschlagen, anstelle in Schutzfolien.Frau Moser bestand auf Umschläge um die Bücher. Er war noch nicht lange bei uns. Seine Eltern hatten das Glück gehabt,ausserhalb eines sehr bekannten und verruchten sozialen Brennpunktes, eine bezahlbare Wohnung zu finden und so kam er nach dem Umzug in unsere Klasse. Höhnisch lachte Frau Moser, als sie seine Bücher in Zeitungspapier sah. Sie stand vor ihm, hielt ein Schulbuch von ihm in die Höhe und rief mit allem Spott in der Stimme der Klasse zu"Sieht euch mal das an!Wollen jetzt in einer besseren Gegend wohnen! Aber daran sieht man genau, aus
welchem Stall sie kommen!Zeitungspapier!" Ich sah den Jungen zittern. Er saß eine Bank links von mir. Aber diesmal war es nicht aus Angst, sondern aus Wut und aus Scham. Tränen liefen ihm über die Wangen. Sein Gesicht war ganz rot und stand dabei im starken Kontrast zu seinem strohblondem Haar. Ich hatte solches Mitleid mit ihm, das ich ihm am liebsten ein Bonbon schenken wollte und ich schämte mich mit.
Plötzlich sprang Gabriel auf. Aus dem Schatten dieser hageren, großen Gestalt .Er lief zu einem Fenster, riss den Flügel auf und stellte sich auf das Fenstersims. Dabei schrie er mit seinem ganzen Zorn Frau Moser an "wenn sie jetzt nicht sofort aufhören,springe ich!"
Für einen Moment war es fast unerträglich still im Klassensaal. Wir Kinder waren so verblüfft vor dem Mut des Aufbäumens gegenüber Frau Moser, aber auch vor der gefährlichen Situation, auf dem Fenstersims zu stehen und runterspringen zu wollen.Gabriel sah aus, als würde er das wirklich machen.Sei es aus Verzweiflung, aus Scham
oder aus Trotz. Das was er androhte, konnte wirklich wahr werden.
Selbst das höhnische Lachen von Frau Moser verstummte und für einen Augenblick schien ich bei ihr eine Verblüffung über ihr knochiges Gesicht huschen zu sehen.
Sie fing sich jedoch rasch wieder und sagte plötzlich:"Na los,spring doch!" Es klang fast wie ein Befehl. Ich spürte mein Herz, wie es mit einem Male heftig schlug, bis zum Hals und sah mich hilflos um.
Ich blickte in die erstarrten Gesichter der anderen Kinder. In manchen Augen schienen sich Tränen zu füllen. Unfassbarkeit erfüllte den Raum.
"Ich spring auch jetzt und wenn ich tot bin, werden sie für immer eingesperrt!"schluchzte Gabriel mit lauter Stimme und tränennassem Gesicht. Sein ganzer dünner Kinderkörper schien zu zittern, was die Situation auf der schmalen Fensterbank im dritten Stock noch bedrohlicher machte.Frau Moser drehte sich um und lief betont langsam zu ihrem Pult. Sie setzte sich auf ihren Platz"Spring doch!" wiederholte sie"mich kannst du nicht erpressen!Mich nicht!"dabei schrie sie fast bei den letzten zwei Wörtern. Als gelte es, ihre Macht damit nochmals zu betonen. Wir sahen mit angsterfüllten Augen, voller Tränen bei fast allen Kindern, zu Gabriel hinüber.Selbst unsere Schluchzer waren unhörbar. Der Schrecken hat uns stumm gemacht. Gabriel schwankte mit seinem zittrigen Körper mittlerweile leicht vor und zurück und vor und zurück. War es,weil er nicht schwindelfrei war oder bereitete er sich auf den Sprung vor? Wusste er noch nicht, dass Frau Moser erbarmungslos war? Mitleidslos?Sie selbst wird ihn nicht retten. Aber auch wir, die wir sie schon länger kannten, waren unter Schock, vor so viel Kälte. Als schien ihr ein Kinderleben nichts zu bedeuten." Was ist nun, wenn Gabriel springt?" dachte ich mir" wäre er gleich tot? Würde sie dann
zur Tagesordnung übergehen? Womöglich nach dem Sprung, einfach das Fenster wieder zu machen?".
Gabriel war nicht gesprungen.
Wir haben alle Frau Moser überlebt.
Gelernt haben wir viel von ihr. Wir wissen, was kollektive Angst bedeutet und Scham und wir wissen, welche Macht ein einziger Mensch haben und andere zur Beute machen kann . Aus dieser Erfahrung heraus bin ich mir sicher, dass die meisten aus unserer Klasse nie wieder Beute sein werden. Wir haben überlebt. Diesen Krieg.


© Lee


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