Ihr Blick ruht auf ihm, liebevoll und staunend. So schön ist er, so nah, der Mann, der ihr Sohn ist. Dennoch fühlt sie auch die Entfernung, die sich immer noch zwischen ihnen ausbreitet. Sie könnte ihn an seiner Hand berühren, so nah ist er, und doch findet keine Berührung einen Halt, nicht im Außen und nicht im Herzen. Keine Berührung ist möglich, noch nicht, und um so mehr von ihr gewünscht.
Sie sieht ihn stehen im Licht, schaut ihn immer wieder an und staunt. Er ist ihr Sohn, er kommt von ihr, dieser wunderbare Mensch!

Wieder gibt sie ihren Blick zu ihm, achtsam und behutsam spürt sie hin zu ihrer Empfindung, die ihren Blick begleitet. Tränen strömen und füllen ihre Augen, ohne den Blick zu verschleiern.
Sie weiß schon lange, dass sie ihn mit ihren inneren Augen schaut. Mit der Liebe, die sie tief in sich trägt. Er schaut an ihr vorbei ohne zu blinzeln. Stolz steht er da oder bemüht er sich um Haltung? Sie weiß es nicht und es ist ihr auch nicht wichtig. Sie liebt ihn aus der Tiefe ihres Herzens - bedingungslos – denn er ist ihr Sohn!
Sie stehen sich gegenüber und es vergeht eine Zeit. Wie viel davon, sie weiß es nicht. Auch die Zeit ist nicht von Bedeutung. Nicht für ihre und nicht für seine Seele.
In der Ferne tickt eine Uhr und erinnert an die Minuten und Stunden, die ein Menschenleben füllen. Oder ist es das Menschenleben, das die Minuten und Stunden mit Leben erfüllt?

Wieder schaut sie auf ihren Sohn, wieder weicht er ihrem Blick aus. Seine Augen ankern sich irgendwo in der Ferne, jenseits ihrer Augen, jenseits ihres Wesens.
Sie spürt nun auch seinen Schmerz, fühlt sein Alleinsein und sieht sein Schicksal. Ruhig fließt ihr Atem, ruhig fließen ihre Tränen, ruhig ruht ihr Blick auf dem Sohn. Die Zeit kann heilen und verbinden. Sie ist seine Mutter, so wie sie ist. Sie ist da und sie wünscht sich im Herzen, dass er sie einen Tages spüren kann. Ihr Wunsch ist von der Art, wie ihn nur Mütter sich wünschen. Das seines Seele sich im Vertrauen öffnen und sich ihr zuwenden kann.
Er ist frei, er hat sein Leben, er hat es durch sie erhalten – es gehört nur ihm!

Loslassen – welch ein magisches Wort. In vielen Generationen besprochen, erklärt und in klugen Büchern beschrieben.

Loslassen – ein Prozess des Lebens! So wichtig wie das Leben selbst und erst erkennbar durch das eigene Erfahren und Erleben.
Es macht das Leben vollständig, denn im Loslassen ehren wird den Anderen. Achten dessen Eigenständigkeit und billigem ihm sein eigenes Erleben zu.
Im Loslassen vertrauen wir dem Anderen, dass auch er sein Leben meistern wird. So wie auch wir das Eigene uns zugestehen und daran glauben es zu meistern.
Immer noch schaut sie auf ihren Sohn. Betrachtet ihn liebevoll und ein wenig auch wehmütig. Sie ist seine Mutter, sie wird hier stehen und auf ihn schauen in Liebe, ganz gleich was er tut, denn sie schaut in ihrem Innersten auf ihn.

In der Ferne färbt sich der Himmel rot. Ein Zeichen dafür, dass sich wieder ein Tag dem Ende zuneigt. Die Zeit ist endlos und ihre Liebe auch. Tief in ihrer Seele ist sie mit ihm, dem Sohn, verbunden und endlich spürt sie nicht nur ihren Schmerz sondern auch ihre tiefe Freude.


© Gabriele Ende


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Beschreibung des Autors zu "Bedingungslos"

Einen Menschen loszulassen fällt oft sehr schwer.
Wenn Mütter ihre Kinder ins eigene Leben entlassen, ist das ein besonderer und sehr wichtiger Lebens-Prozess für beide. Für die Mütter und für die Kinder!

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