Seraphina läuft durch die Strassen. Sie ist in einer Stadt, die ihr fremd ist. Nervös schaut sie auf den Boden und setzt einen Fuss vor den anderen. Die Angst, von jemandem gefasst und zurück gebracht zu werden, dorthin woher sie entflohen ist, treibt sie voran.

Wieso ist sie eigentlich hier? Sie sucht jemanden. Ein Mädchen. Fallen Angel nannte sich diese im Internet. Ob sie wohl kommen wird? Als sie ihr geschrieben hatte sie sei auf dem Weg, reagierte das Internet-Mädchen abweisend, aber sie haben einen Treffpunkt vereinbart. Seltsam. Sie kannte sie gar nicht wirklich. Aber die paar Gespräche im Chat haben sie so gefangen genommen, diese klugen Sätze, und ihre scharfsinnige Art. Von niemandem liess sich diese Angel etwas gefallen. Ihre Sprüche waren messerscharf. Auf Seraphina wirkte sie sehr anziehend. Besonders diese dunkle, unnahbare Seite.
Einmal hat sie sie angerufen, von dem Ort, an dem sie zuletzt war. Aber Angel hatte keine Freude. Sie wollte das alles nicht hören. Sie meinte, sie hätte schon einmal eine Freundin gehabt, die das alles durchgemacht hat, und sie wolle das nicht nochmals mit jemandem durchstehen. Das konnte Seraphina nicht verstehen. Sie konnte es nicht akzeptieren. Angel bedeutete ihr schon zu viel, als dass sie sie einfach loslassen konnte.

Sie setzte sich auf eine Bank. Es war Abend und der Himmel hatte bereits begonnen sich zu verdunkeln. Es war kühl. Der Sommer ging zu Ende. Ob sie wohl kommen würde? Sie dachte darüber nach, was sie tun sollte. Wo würde sie die Nacht verbringen? Was würde jetzt geschehen? Egal. Erst einmal Sie sehen. Das war alles, was sie jetzt wollte. Das war der Morgenstern, der Klarheit und Licht bringen würde. Alles andere war jetzt unwesentlich.

Da kam sie. Langsam lief sie auf sie zu. Ihre Schritte zögernd. So, als ob sie sich überlegte wieder umzukehren. Sie schaute rüber zur Bank, und sah zum ersten Mal dieses Mädchen, das aus irgendeinem Grund an ihr zu hängen schien. Sie setzte sich neben sie, und seufzte. „Was machst du dir? Wieso tust du das? Du handelst dir doch bloss Ärger ein.“
Seraphina konnte darauf nichts erwidern. Sie war so unsicher, so erfreut und gleichzeitig war es ihr peinlich. Jetzt wo sie da war, ganz real neben ihr sass, wusste sie nicht mehr ob ihr das gefiel oder nicht und wie sie sich verhalten sollte. Das war nicht die Angel, die sie in ihrer Fantasie zusammengebastelt hatte. Es war einfach nur ein Mädchen, ein paar Jahre älter als sie, eine Unbekannte, die irgendwie anders war als sie selbst.

„Lass uns ein Stück gehen. Erzähl mir wieso du abgehauen bist.“ Seraphina stammelte ein paar Sätze. Sie konnte ihr nicht wirklich erklären wieso sie hier war. Wieso sie bei ihr war. Sie hatte Sehnsucht? Sehnsucht nach jemandem, der sie verstehen würde? Der ihr tief in die Seele schaute, und sie verstand? Sie nicht abweiste, sondern sich verbunden mit ihr fühlte und ihr so helfen konnte? Aber das konnte sie jetzt nicht erklären. Alles war wirr. Sie kam sich lächerlich vor. Als ob sie etwas Dummes getan hätte. Angel entspannte sich und hörte ihr zu. Versuchte ihr klar zu machen, dass es das Beste sei, wenn sie wieder zurückgehe. Es würde schon gut werden. Sie konnte ihr nicht helfen.

Nach ein, zwei Stunden verabschieden sich die beiden. Es ist jetzt dunkel. Das Mädchen läuft die Strassen entlang, zurück Richtung Bahnhof. Leere macht sich in ihr breit. Das war es also. Alles, was sie ihr geben konnte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Irgendwie war sie davon überzeugt gewesen, dieses Treffen würde alles verändern. Danach wäre alles klarer, besser. Wie schal es sich jetzt anfühlte. Noch schlimmer als zuvor. Jetzt fühlte sie sich hoffnungslos. Es gab kein Ziel mehr, nichts mehr, woran sie sich festhalten konnte, was ihr wichtig war. Ein schwarzes Loch tat sich langsam vor ihr auf. Jetzt musste sie zurück. Zurück in dieses Ungewisse. Zurück zu der Misere, die sie hinterlassen hatte. Da war niemand der ihr etwas bedeutete. Wie würde es jetzt weitergehen?

Im Zug sass sie benommen auf einem Polstersitz und sah hinaus in die Dunkelheit. Stille um sie herum, Leere die sich in ihr breit machte. Zum Glück war das Abteil praktisch leer, niemand der in ihrer Nähe sass. Sie wollte nur allein sein.
Da öffnete sich auf einmal die Abteiltür, ein Mann stellte sich neben sie und sprach sie an. Was sollte das, konnte der sie nicht in Ruhe lassen, ging ihr durch den Kopf. Sie hörte ihn gar nicht, war so weit mit ihren Gedanken entfernt, dass sie nur angestrengt die Brauen zusammenzog und ihn mit schalem Blick anstarrte. Was wollte der von ihr, sie verstand kein Wort von dem was er sagte...
Jetzt erkannte sie ihn. Es war ein Zugkontrolleur. In schwarz-roter Uniform und mit einer schwarzen Tasche über der Schulter hängend schaute er sie immer missmutiger an. Seine Stimme jetzt etwas lauter, forderte er sie auf ihm ihr Billet zu zeigen. Nein, ging es ihr durch den Kopf, bitte nicht. Ich will einfach nur meine Ruhe. Lasst mich in Ruhe hier sitzen und zurückfahren. Sie zeigte ihm ihr Billet. Dazu gehöre noch ein Halbtax-Abonnement, wo dieses sei, wollte der ungeduldige Mann wissen. So eines hatte sie nicht. Eben erst hatte sie Geburtstag, und hätte nun ein teureres Billet kaufen müssen, wofür das Geld das sie bei sich hatte nicht ausreichte. Sie dachte nicht daran, dass auf dieser Strecke immer Kontrolleure ihre Runden drehten, und sie Probleme bekommen würde. Für solche Banalitäten war im Moment kein Platz in ihrem Kopf. Nun steckte sie in der Klemme. Da sie sich weigerte ihm ihre Personalien anzugeben, holte er seinen Kollegen.

Dieser Mann war anders. Seltsam anders. Er schaute ihr tief in die Augen und sagte erst einmal nichts. Verschämt schaute sie weg. Das war ihr unangenehm. Da bat er sie mit sanfter Stimme, ihm ihren Ausweis zu zeigen. Dann würde sich alles klären. Aber Seraphina weigerte sich standhaft. Sie wusste ganz genau, dass sie dann verloren hätte, ihre kurze Freiheit dann ganz sicher bald ein Ende nehmen würde. Der sanftmütige Zugkontrolleur schien in sie hineinzuschauen. Das war ihr unheimlich. Als ob er wüsste, was sie getan hatte und wie sie sich jetzt fühlte. Als ob es ihm etwas bedeutete, wie es ihr ging. Wann hatte jemand sie das letzte Mal so angesehen? Wann?
Aber sie gab seinem Bitten nicht nach und stieg bei der nächsten Station aus.

Rundherum Dunkelheit. Der Bahnsteig leer, keine Menschenseele weit und breit. Hinter ihr der Zug, der langsam wieder ins Rollen kam und sich geräuschvoll entfernte. In die Richtung, in die sie eigentlich wollte, in die sie gehörte. Jetzt stand sie da, mitten im Nirgendwo. In einem Kaff, weit weg von einer Stadt, weit weg von jemandem, den sie um Hilfe bitten konnte. Ganz alleine.

Sie fing an zu weinen. Es war einfach, wegzulaufen. Einfach, wenn man ein Ziel hatte, wusste wohin man wollte. Aber wenn da nichts mehr war, kein Ziel, keine Hoffnung, dann fing alles an sich zu verlieren, in Sinnlosigkeit zu zerfallen.

In der Nähe stand, einsam und verlassen, eine Telefonkabine.
Da half nichts. Sie lief zu ihr hin, öffnete die Tür, stellte sich ins grelle Licht der Lampe und kramte ihr restliches Münz aus der Tasche. Den Hörer abnehmend wählte sie die einzige Nummer, die sie auswendig kannte. Die ihrer Mutter. Mit kühler Stimme meldete sich diese am anderen Apparat. Seraphina begann zu erklären wo sie war und dass sie nicht wusste wie sie wieder zurückkommen sollte. In diesem Moment drangen helle Lichter von aussen in die Kabine. Es waren Scheinwerfer. Ein Auto näherte sich und fuhr langsam auf die Telefonkabine zu. Was war denn jetzt schon wieder, wer sollte um diese Uhrzeit an einem so gottverlassenen Bahnhof auftauchen?

Zwei Männer in Uniform verliessen den Wagen und kamen auf sie zu. Das konnte doch nicht wahr sein… Seraphina erklärte ihrer Mutter was gerade vorfiel, musste den Hörer jedoch auflegen, als einer der beiden Männer sie bat aus der Kabine zu treten. Es waren zwei Polizisten. Der Zugkontrolleur musste sie hergeschickt haben.

Erleichtert und verzweifelt stieg sie in den Wagen ein. Erleichtert, weil sie nun wusste, sie würde die Nacht irgendwo an einem sicheren Ort verbringen. Verzweifelt, weil sie jetzt keine Wahl mehr hatte. Von jetzt an würde alles wohl noch viel schlimmer werden. So etwas wie Freiheit würde sie eine ganze Weile nicht mehr haben…


© Rebecca B.


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Kommentare zu "Geschichte eines Mädchens"

Re: Geschichte eines Mädchens

Autor: Varia Antares   Datum: 09.11.2017 17:45 Uhr

Kommentar: Die Geschichte ist gut geschrieben und recht traurig. Ich musste dabei an ein Mädchen denken, dass entweder von zu Hause oder aus einem Heim abgehauen ist.

LG
Varia

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