Regen prasselte gegen das Fenster. Schon seit Stunden. Daimon hatte eigentlich nichts gegen Regen. Nicht so wie andere Leute, die Kopfschmerzen bekamen, denen der Regen aufs Gemüt schlug, sodass sie sich schlapp und müde fühlten. Er konnte jedenfalls nicht von sich behaupten, dass Regen ihn in irgendeiner Art und Weise negativ beeinflusste. Klar konnte er es nicht leiden, wenn er beispielsweise ohne Schirm durch Regen lief und dabei nass, bis auf das letzte Hemd wurde. Aber demoralisieren oder gar auf die Psyche schlagen? Nein, das vermochten diese kleinen Wassertropfen nicht. Nicht bei ihm. Sich an seine Couch anlehnend beobachtete er weiter das Fenster und legte dabei, ohne es aus den Augen zu lassen, seine Füße auf den Couchtisch vor ihm. Hörbar seufzend führt er seine Kaffeetasse an den Mund und nahm einen Schluck. Der Regen machte ihm zwar nichts aus, aber dass er seine Laune aufhellte, konnte Den auch nicht wirklich behaupten. Allerdings gab es wahrscheinlich sowieso nicht viel, was seine derzeitige Laune hätte verbessern können. Er saß mal wieder auf seiner Couch, in seinem Wohnzimmer im zweiten Stock, trank besagten Kaffee und starrte das gegenüberliegende Fenster dermaßen eindringlich an, als erhoffte er sich daraus die perfekte und unmissverständliche Antwort auf die Frage, was zum Teufel er mit seinem Leben anfangen sollte. Er wusste es einfach nicht, hatte er noch nie. Er war nicht der Typ der plante, sein Leben plante, seine Zukunft, die Ferien damals zur Schulzeit, er plante nicht mal den verdammten nächsten Tag!
„Hätte ich vielleicht mal tun sollen,“ dachte er verächtlich und nahm noch einen Schluck. Sein Leben wies bisher zwei „Stationen“ auf, wenn man dies so nennen konnte. Zum einen: die Schule, welche eigentlich jeder halbwegs normale Mensch besucht haben sollte. Außer man lebte in der dritten Welt. Die zweite „Station“ war die Armee gewesen. Nein, nein, er war in keiner Schlacht gewesen, hatte keinen Krieg miterlebt, musste kein Blut vergießen oder sein Leben riskant aufs Spiel setzen. Er hatte lediglich den Grundwehrdienst absolviert.
Das Trommeln an der Scheibe wurde lauter, der Regen nahm zu. Daimon war plötzlich doch sehr froh, drinnen im trockenen zu sein. Während er wieder die Scheibe anvisierte, dachte er mit einer Mischung aus Abscheu und Sehnsucht an jene Zeit zurück. Regen hatte damals auch oft eine Rolle gespielt, da er seinen Dienst zu einer regnerischen Jahreszeit absolviert hatte und seine Ausbilder natürlich keine Rücksicht darauf genommen hatten, ob der Boden trocken oder schlammig war, auf den er und seine Kameraden sich zu werfen hatten. „Entschuldigen Sie bitte, da ist eine Pfütze auf dem Weg vor mir, den ich entlang kriechen soll.“ Unwillkürlich musste Daimon grinsen. Zum Glück hatte damals niemand einen solchen Kommentar von sich gegeben. Die Folgen wären verheerend gewesen. Angst vor Nässe und Kälte durfte man nicht haben. Er erinnerte sich weiter, an Tage, an denen er und seine Kameraden vor dem Gebäude Aufstellung nehmen mussten und es ebenfalls in Strömen regnete. Meistens hatten sich die Ausbilder dann noch ein wenig mehr Zeit gelassen, aus dem Gebäude zu treten. Wenn sich dann schließlich einer von ihnen, zu ihrem mittlerweile vor kalter Nässe bibberndem Zug gesellte, kam es fast jedes Mal zu folgender Aussage:
„Na Männer! Wir haben Glück heute. Die Sonne der Infanterie scheint wieder.“
Zu dieser Zeit hasste Daimon diesen Satz. Aber besonders hasste er daran, dass man, während man wartete, genau wusste „Gleich kommt einer von diesen Mistkerlen heraus und feixt süffisant in die Runde, während er diesen Satz zum Besten gibt.“
Er lächelte wieder. Im Nachhinein war es immer leicht zu lächeln. Doch eine gute Seite hatte es. Wenn er heute durch Regen lief oder von drinnen Regen sah und wusste, dass er gleich raus musste, dann sagte er sich jedes Mal in Gedanken „Die Sonne der Infanterie scheint wieder.“ Und so komisch es klingt, danach kam es ihm weniger schlimm vor.
Daimon blinzelte. Das war Station zwei gewesen. Gerade befand er sich in Station drei und er wusste, egal wie viele Stationen er im Laufe seines Lebens durchlaufen würde, wenn er am Ende auf alle seine Stationen zurückblicken würde, auf Station drei würde er mit Sicherheit nicht stolz sein. Kein bisschen.
Das Telefon klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Während er die Tasse auf den Tisch vor sich abstellte, lies er seinen Blick über jene Orte schweifen, von denen er, anhand des Klingelns vermutete, dass sich sein schnurloses Telefon dort befand. Es klingelte zum zweiten Mal. Schließlich entdeckte er es auf dem Esstisch, stand auf, nahm es an sich und drückte mit dem Daumen auf die Taste, welche einen grünen Hörer abbildete. „Daimon Millard, hier?“ „Hey Daimon, hier ist Leo. Bin gerade nach Hause gekommen, hast du Lust noch was zu machen?“ Daimon hasste diese Frage. Nicht weil er es nicht leiden konnte, wenn sich jemand für ihn interessierte oder jemand gerne etwas mit ihm unternahm, nein, es lag ganz einfach an der wunderbar nichts aussagenden Formulierung „was zu machen“. „Was denn?“ antwortete er gelangweilter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. „Naja wir könnten was trinken gehen und ein bisschen dummes Zeug reden, wie in alten Zeiten. Also wie wär´s, bist du dabei?“
Daimon schaute an sich herab, ohne dabei den Hörer vom Ohr zu nehmen, sah die Ketchup-Flecken vom Mittagessen auf seinem weißen Shirt, bezweifelte kurz, dass diese jemals vollständig entfernt werden würden, senkte dann seinen Blick weiter über seine stellenweise zerfetzte Jogginghose, bis hin zu seinen ausgedienten Pantoffeln. Langsam hob er den Kopf wieder zurück in seine ursprüngliche, senkrechte Position, legte mit seiner noch freien Hand den Daumen auf das eine und den Zeigefinger auf das andere Auge, massierte dort einen kurzen Moment seine zusammengezogenen Lider und brummelte dann „Hol mich in zehn Minuten ab,“ in den Hörer.
Doch noch während er auflegte, freute er sich bereits seinen alten Schuldfreund wiederzusehen. Leo war drei Jahre, bevor sie mit der Schule fertig wurden in Daimon ´s Klasse gekommen und wie es der Zufall so wollte, war der einzig freie Sitzplatz noch der, neben Daimon gewesen. Sie hatten sich von der ersten Sekunde an verstanden, hatten den gleichen Humor, ähnliche Interessen und mit der Zeit festigte sich ihre Freundschaft mehr und mehr, so sehr, dass sie über das Ende der Schulzeit hinaus hielt. Leo war groß gewachsen, schmal, hatte blonde, etwas längere Haare und war stets gut gekleidet, was sicherlich auch mit seinem Beruf zu tun hatte. Daimon hingegen war etwas kleiner als Leo, dafür etwas besser gebaut, wie er fand, hatte braune Haare und verzichtete in letzter Zeit immer häufiger auf eine gründliche Nassrasur, was ihm dementsprechend einen Drei-Tage-Bart einbrachte. Doch das störte ihn nicht, im Gegenteil, Daimon fand, dass dieser ihn zusätzlich kleidete.
Während er vor seinem Kleiderschrank im Schlafzimmer stand und sich frische Kleidung überstreifte, gesellte sich sein Mitbewohner zu ihm ins Zimmer und sprang nach einigen eleganten Hopsern zielsicher auf das Bett. „Da bist du ja, Sam!“ Sam setzte sich auf sein Hinterteil, streckte seinen kleinen haarigen Körper durch und richtete seinen starren, raubtierartigen Blick auf Daimon. Dieser wurde gerade damit fertig seine Schuhe zuzuschnüren, sah seinen rotgetigerten Kater dann neugierig an und zog eine Augenbraue hoch. „Was?“ fragte er gespielt verärgert und erhob sich in Richtung seines Bettes. Sam, zufrieden damit, dass sein provokantes Starren Erfolg hatte, senkte sogleich seinen Kopf in Richtung Matratze, lies sich seitlich fallen und präsentierte stolz, laut schnurrend seinen Bauch. Daimon blieb vor seinem Bett stehen und musterte verschmitzt das kleine Fellknäul vor ihm, wie es sich von links nach rechts räkelte, in unbändiger Erwartung darauf, den dicken Bauch gekrault zu bekommen. Er tat ihm den Gefallen und lies seine Fingerkuppen sanft über das weiche Fell gleiten. Immer lauter Schnurrend genoss Sam die Liebkosung seines Herrchens und Daimon fiel einmal mehr auf, dass, egal wie schlecht seine Laune auch war oder wie mies das Leben mit ihm spielte, dieser kleine, knuffige Kater sein Herz immer wieder aufs Neue zum Lächeln brachte.
„Tut mir leid Kumpel, ich muss los.“ Daimon schlurfte zur Haustür, öffnete sie und trat in den Flur nach draußen, dreht sich jedoch noch einmal um, bevor er ganz hinausging. Sam lag immer noch seitlich auf dem Bett, allerdings hatte er mittlerweile den Kopf gehoben und seine kleinen Ohren aufgestellt. Vorwurfsvoll schaute er zu Daimon herüber und dieser wusste genau, was dieser Blick bedeutete. „Wie kannst du es wagen…“
Entschuldigend zog er sowohl seine Schultern, als auch die Augenbrauchen nach oben und schloss die Tür hinter sich.

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