Stich ins Herz


Langsam öffne ich meine Augen. Mein Kopf brummt und ich kann mich kaum bewegen. Meine Beine spüre ich nicht, meine Arme kann ich zwar etwas bewegen aber es brennt bei jeder Reaktion. Also sehe ich mich um. Soweit ich es erkennen kann, ähnelt das Zimmer in dem ich liege einem Krankenhauszimmer. Ich liege in einem weißen Bett und starre an eine weiße Decke. Obwohl es nach Blumen riecht, erkennt man den typischen Hygiene-Duft, der in der Luft liegt. Rechts von meinem Bett ist das Fenster, doch von meiner Position aus sehe ich nur die Wolkenfetzen, die am Himmel entlangschweben. Mühsam drehe ich mich auf die andere Seite. Dort steht ein weiteres Bett mit einem Patienten in ungefähr meinem Alter, vielleicht schon Anfang zwanzig. Er sieht an die Decke und summt vor sich hin, solange ich mich auf mein Gehör verlassen kann. Ich will etwas sagen, doch es kommen keine Worte über meine Lippen, meine Zunge fühlt sich geschwollen an und mein Hals ausgetrocknet. Ich sehe wieder aus dem Fenster. Wie komme ich hierher? Was ist passiert? Aber ich kann mich an nichts erinnern. Obwohl ich im Bett liege wird mir schwindelig. Ich schließe meine Augen und warte darauf, dass das Gefühl verfliegt. Mein Kopf beruhigt sich etwas, doch ich lasse meine Augen geschlossen und versinke in meinen Gedanken, suche irgendeinen Hinweis wie ich hier gelandet bin.






Als ich wieder aufwache, ist mein Kopf etwas klarer. Auch habe ich wieder mehr Gefühl in meinem Körper. Als ich aus dem Fenster sehe, scheint draussen die Sonne und es sind keine Wolken mehr am nun blauen Himmel. Ich verlagerte etwas mein Gewicht, als plötzlich eine Stimme an meine Ohren drang.
„Du bist also endlich wach. Wurde ja auch langsam Zeit. Ich heiße Thomas. Ich liege nun schon einige Zeit mit dir auf einem Zimmer. Was ist denn eigentlich mit dir passiert? Viel konnte ich aus dem Gespräch der Ärzte nicht entnehmen.“
Ich sehe zu Thomas rüber. Er sitz aufrecht in seinem Bett und sieht zu mir rüber. Mir ist warm und ich ziehe meine Arme unter der Bettdecke hervor. Ich muss mich beherrschen und presse die Lippen vor Schmerz aufeinander. Soweit die Schmerzen es zulassen versuche ich auch mich aufzusetzen, doch es gelingt mir nur bis zu einem gewissen Maß.
„Ich- Ich erinnere mich an nichts. Ich weiß nicht wie ich hierher gekommen bin.“, krächze ich. Mein Hals ist immer noch sehr trocken.
„Warum bist du hier?“, frage ich ihn.
„Man hat mir den Blinddarm rausgenommen und ich bin noch immer zur Untersuchung hier. Eigentlich sollte ich schon Zuhause sein. Dich hat man vor drei Tagen hier auf das Zimmer gebracht, aber bis jetzt hast du nur geschlafen und ab und an mal etwas unverständliches gemurmelt.“
Eine große Leere tut sich in mir auf. Drei Tage!
„Welcher Tag ist heute?“, frage ich ihn.
„Donnerstag. Soweit ich es mitgehört habe, wurdest du Samstag von einem Krankenwagen abgeholt. Bis Sonntag Abend warst du wohl auf der Intensivstation und Montag hat man dich hierher gebracht. Die Ärzte haben etwas von Prellungen und Stichwunden erzählt, aber viel habe ich nicht mitbekommen. Was auch immer dir Samstag passiert ist, es war nicht ohne. Und du erinnerst dich echt nicht?“
Ich nicke schwach. Ich bin schon fünf Tage im Krankenhaus und wache erst jetzt auf, was ist nur los? Wenn ich wenigstens eine kleine Erinnerung hätte, aber da war nichts.
„Ich rufe dann mal einen Arzt, sie haben mir einen Pieper dagelassen. Sie sagten ich solle sie rufen sobald du aufwachst.“, sagt Thomas. Dann streckt er sich, holt ein kleines Gerät von seinem Nachttisch und drückt einen Knopf. Ich sehe nur wieder an die Decke, versuche den Schock zu überwinden, warum ich mich an nichts erinnern kann.





Ein Arzt betritt das Zimmer, dich gefolgt von einer Krankenschwester. Die Schwester trägt ein Tablett mit Tee und einem grossen Suppenteller zu mir rüber. Der Arzt kommt neben mein Bett und sieht auf mich hinab.
„Immerhin bist du endlich aufgewacht. Du solltest gleich etwas zu dir nehmen, immerhin hast du seit Tagen nichts gegessen, noch etwas länger und wir hätten dich an den Tropf hängen müssen. Aber jetzt bist du ja wach und das ist die Hauptsache. Ich werde mir gleich deine Wunden ansehen und dir noch einmal Blut abnehmen, dann lasse ich dich wieder in Ruhe. Soweit ich weiß wollten deine Eltern heute Nachmittag gegen fünf Uhr zu Besuch kommen, aber es ist gleich erst eins also kein Grund zur Sorge.“
Der Arzt hilft mir mich auf die Bettkante zu setzen, klopft mir abwechselnd mehrmals auf jedes Knie um meine Reaktion zu beobachten. Dann rollt er meinen linken Ärmel vom Nachthemd hoch und betrachtet zwei frisch vernähte Schnitte, rollt dann jedoch ohne einen Kommentar den Ärmel wieder runter.
„Doktor, ich kann mich nicht erinnern was passiert ist, bin ich überfallen worden?“
Der Mann sieht mich mit einem schiefen Lächeln an.
„Wohl kaum, aber ich wurde gebeten die Erklärung wem anders zu überlassen. Wenn du nun bitte deinen rechten Arm entspannen würdest?!“
Ich presse die Lippen aufeinander. Ein brennender Schmerz durchzuckt meinen Körper als die Nadel in mein Fleisch fährt. Der Arzt deutet noch einmal auf das Tablett auf meinem Nachttisch und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum, dicht gefolgt von der Krankenschwester, die meine Blutprobe trägt. Ich esse so schnell ich kann, als wäre mir gerade eben erst aufgefallen was ich für einen Hunger habe. Obwohl die Bewegung in den Armen und im Rücken schmerzt, leere ich den ganzen Teller und trinke auch sofort den Tee leer. Die wohltuende Wärme bereitet sich in meinem Körper aus und ich lasse mich mit einem leisen Stöhnen in mein hochgestelltes Kopfkissen sinken.
„Deine Eltern haben dich schon zweimal besucht, wenn es dich interessiert. Sie haben dir Blumen gebracht und dir etwas Gesellschaft geleistet.“, sagt Thomas.
„Wirklich? Naja, immerhin bin ich heute wach wenn sie kommen, vielleicht wissen sie was los war...“
„Ja, vielleicht. Aber da war noch jemand zu Besuch, an jedem Abend der letzten drei Tage...“
„Wer denn?“, frage ich ihn.
„Ein Mädchen. Ich schätze dein Alter, gutaussehend und hat jeden Abend geweint während sie neben deinem Bett saß.“
„Wie sah sie denn aus?“, frage ich ihn.
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Thomas beschreibt sie mir. Kein Zweifel, dass ist sie, aber warum sie hier war weiß ich immer noch nicht. Mir wird schwindelig, während sich in meinem Kopf Erinnerungsfetzen abspielen. Ich drücke mir die Handflächen auf die Augen und stöhne laut auf.
„Alles klar mit dir?“, fragt Thomas.
„Jaja, alles in Ordnung. Ich versuche nur gerade mich zu erinnern.“
Die Bilder in meinem Kopf tauchen so schnell auf und verschwimmen so schnell wieder, dass ich nicht viel erkennen kann. Zu meiner Erleichterung schweigt Thomas und lässt mich mit meinen Gedanken allein.




„Wie spät ist es?“, frage ich Thomas, weil ich nirgends im Zimmer eine Uhr sehe.
„Halb Vier.“, sagt er mir mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
Ich seufze.
„Weißt du, vielleicht solltest du die ganze letzte Woche noch mal chronologisch verfolgen um dich besser erinnern zu können.“, schlägt Thomas mir dann vor.
„Was ist denn letzte Woche Montag passiert? Daran erinnerst du dich doch bestimmt noch.“
„Ja schon, aber da war nicht viel. Ich war lange in der Schule, hab die Freistunden mit meinen Freunden verbracht und als ich nach der Schule Zuhause war habe ich Hausaufgaben gemacht, gegessen und gelesen. Wie gesagt nichts besonderes.“
„Gut und Dienstag?“, hakt er nach.
„Wieder Schule, Hausaufgaben, Abends Kino, Zuhause gegessen und das war's.“
„Soweit so gut. Wie verlief der Mittwoch?“
„Schule wie sonst, für Klausur gelernt, Großeltern besucht und spazieren.“
Ich sage ihm jedoch nicht warum ich spazieren gegangen bin. Ich war draussen um nachdenken zu können. Mittwoch habe ich nämlich erfahren, dass das Mädchen, für das ich eine Schwäche habe sich von ihrem Freund getrennt hat. Das Problem ist, ich habe mich schon lange vorher in sie verliebt, als sie noch mit ihrem Freund zusammen war. Und ich glaube, dass sie weiß was ich fühle, wie lange schon weiß ich aber nicht.
Die Frage über die ich nachdenken wollte war nun folgende:
Ich liebe sie und sie weiß das vermutlich, sie hat sich von ihrem Freund getrennt. Soll ich sie ansprechen?
Bis jetzt habe ich mich nämlich zurückgehalten, weil ich nicht wollte, dass sie sich meinetwegen von ihn trennt. Ja ich liebe sie, aber deswegen sollte sie nicht den Schmerz einer Trennung erdulden müssen, denn ich will ihr nicht wehtun. Soweit ich mich erinnern kann bin ich mehrere Stunden draussen gewesen, ohne zu einer klaren Antwort zu kommen, aber ich weiß noch, dass ich Mittwoch wohlbehalten zuhause ankam.
„Donnerstag?“, fragt er weiter.
„Lange Schule, daraufhin habe ich nur noch Hausaufgaben gemacht und war schon geschafft für den Tag.“, sage ich und grinse ihn an. Thomas lacht.
„Okay, damit wären wir schon bei Freitag. Weißt du noch was da los war?“
Ich überlege etwas länger um mir alles in Erinnerung zu rufen. Es war wieder Schule, wie an jedem Wochentag, doch ich erinnere mich auch wie 'sie' mich in den Freistunden und auf dem Flur zwischen den Sunden angesehen hat. Es waren meistens nur verstohlene Blicke die wir austauschten, die mir womöglich mehr bedeutet haben als ihr, aber bei solchen Blicken bin ich mir immer sicherer, dass sie über meine Gefühle Bescheid weiß. Aber ich habe sie nicht angesprochen, war sogar zu nervös um ihr ein vernünftiges Lächeln zu schenken. Also habe ich mich meist nur mit einem Kribbeln im Bauch umgedreht oder bin mit einem halbherzigen Lächeln weitergelaufen. Nachmittags wollte ich wieder spazieren gehen und in Ruhe nachdenken, aber wir haben Familienbesuch bekommen, wo ich aus Höflichkeit anwesend zu sein hatte.
„Langer Schultag wie sonst, wieder einmal Besuch von der Familie und ich lag lange wach im Bett und habe nachgedacht, ansonsten nichts, wie ich dir schon gesagt habe war es eine recht gewöhnliche Schulwoche.“, erkläre ich Thomas.
Es ist ja schön mit jemandem zu reden, aber deswegen verrate ich doch nicht gleich meine Liebesproblematik einem jungen Mann, den ich gerade mal ein paar Stunden kenne, so nett er auch ist.
„Womit wir bereits beim Samstag angelangt sind! Weißt du noch etwas vom Samstag?“, fragt er mich spürbarer Neugier.
Ich schließe meine Augen und runzle die Stirn.
„Naja, also erst habe ich ausgeschlafen, nachdem die Nacht an sich etwas unruhig war. Dann bin ich glaube ich duschen gewesen und bin wieder spazieren gegangen, weil ich nachdenken wollte...“
„Und was ist dann passiert?“
„Ich weiß es nicht...“
„Hmm. Und worüber wolltest du nachdenken?“
Ich schweige kurz, weiß nicht ob ich wirklich mit ihm darüber reden soll.
„Über ein Mädchen...“
„Du meinst über DAS Mädchen, habe ich nicht recht?“, lacht er.
„Wenn du es genau wissen willst: Ja, aber ich weiß nur noch, dass ich spazieren war, dann setzt es bei mir aus.“
Thomas lacht noch einmal kurz auf, dann schweigen wir beide.





Um zehn nach fünf klopft es an der Tür. Kurz darauf kommen meine Eltern in mein Zimmer. Als meine Mutter sieht, dass ich wach bin, fällt sie mir sofort um den Hals und versucht mich zu umarmen, obwohl ich im Bett liege. Das Ganze geschieht sehr zum Missgunsten meiner Prellungen und blauer Flecke.
„Autsch, das tut weh, ich bitte dich.“, presse ich mühsam hervor, freue mich aber trotzdem sie zu sehen.
„Es tut mir Leid, ich freue mich nur so, dass ... du endlich wach bist.“, schluchzt sie.
„Ja, schließlich sind wir dir Samstag ins Krankenhaus gefolgt und wissen noch immer nicht was überhaupt passiert ist. Zum Glück war der Krankenwagen schnell genug da, sonst wärst du vielleicht noch verblutet.“, bestätigte mein Vater.
„Jetzt sag uns, was ist passiert? Wir waren ganz krank vor Sorge, wussten nicht was wir der Schule und deinen Freunden sagen sollten. Bist du überfallen worden oder was?“, fragte meine Mutter und schien den Tränen schon wieder nah.
„Naja, ich weiß es nicht, ich hatte gehofft ihr könntet es mir erklären...“
„Nein, können wir leider nicht ... und deine Freundin konnte sich auch nicht erinnern was passiert ist!“
Jetzt bin ich sprachlos. Sie war da ... Selbst wenn sie auch nicht weiß was passiert ist, sie war da ...
Mir wird wieder schwindelig.
„Aber keine Sorge mein Junge, die Ärzte sagen du wirst wieder fit werden, vorraussichtlich lassen sie dich in anderthalb bis zwei Wochen gehen.“, sagte mein Vater.
Wir reden noch knapp eine halbe Stunde über allerlei Themen, ich stelle meinen Eltern noch kurz Thomas vor, doch dann gehen die beiden. Morgen um dieselbe Zeit wollen sie wieder hier sein. Nachdem die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen ist, herrscht einen Moment lang Schweigen.
„Denkst du sie wird heute auch kommen?“, frage ich Thomas.
Er sieht mich an und scheint zu merken, wie wichtig mir diese Frage ist.
„Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Ich schätze sie wird gegen halb sieben hier sein.“
Ich nicke nur und muss schlucken. Offen gestanden fürchte ich mich etwas vor dem Moment. Ich weiß nicht was Samstag passiert ist, ich weiß nur, dass ich schwer verletzt ins Krankenhaus kam, aufgrund irgendeines Vorfalls, bei dem sie anwesend war. Ist das gut? Ist das Schlecht? Was habe ich getan? Ich hole tief Luft und versuche mich zu beruhigen.




Halb sieben ... Ich kann Thomas' gleichmäßigen Atemzüge hören, als würde er schlafen. Aber ich glaube nicht, dass er wirklich schläft, er hat wohl eher bemerkt wie nervös ich bin und hat sich schlafend gestellt damit ich mich leichter beruhigen kann. Ich warte und warte, atme so leise ich kann und lausche den Stimmen und Schritten der Ärzte, Patienten und Besucher auf den Fluren. Um fünf nach halb werde ich unruhig. Kommt sie nicht? Warum mache ich mich verrückt, niemand hat behauptet, dass sie um genau halb sieben da ist, also wozu die Aufregung? Ich beschließe gerade, die Sache entspannter zu sehen, als sich die Tür öffnet.





Sie schließt die Tür hinter sich. Erschrocken sehe ich sie an, sie hat zwei fast verheilte Platzwunden im Gesicht, eine an der linken Wange, eine etwas kleinere an der Stirn. Die Wunden sehen nicht weiter schlimm aus und scheinen vollkommen zu heilen, aber es bestärkt meine Sorge um das Geschehene. Außerdem hält sie ihren rechten Arm leicht angewinkelt, als hätte sie bis gestern den Arm noch in einer Schlinge um den Hals gehabt. Sie lächelt. Sie sieht wunderschön aus. Der Gedanke schwirrt mir einfach durch den Kopf, wie jedes mal eigentlich wenn ich sie sehe. Aber diesmal ist es anders. Ein Kribbeln fährt durch meinen Körper, ein Schauer läuft mir den Rücken runter und ich bin wirklich froh sie zu sehen. Ich schlucke, weiß nicht was ich sagen soll. Sie setzt sich ohne ein Wort auf einen Stuhl links neben meinem Bett, legt ihre Hände auf die Knie und sieht mich an. Ich sehe ihr in die Augen. Es ist ein Schweigen wie ich es noch nie erlebt habe. Selbst Thomas kann ich nicht mehr atmen hören. Ich spüre nur wie mein Körper vibriert. Ich kann meinen eigenen Herzschlag hören, wie er vor Aufregung immer schneller wird. Ich öffne meinen Mund, um irgendetwas zu sagen, aber meine Stimme hat mich im Stich gelassen, deswegen presse ich die Lippen wieder aufeinander und schlucke erneut. Nach ein paar Minuten, gefühlt fast einer Ewigkeit, ergreift sie schließlich das Wort:
„Du bist wach ...“, sagt sie.
Ihre Stimme hat einen Ton, den ich nicht zu deuten vermag. Man kann so vieles heraushören ... Trauer ... Schmerz ... Zuneigung ... Mitgefühl ... Verständnis und Ratlosigkeit zugleich. Ich nicke.
„Der Arzt hat mir gesagt du wirst wieder gesund werden, nur bei ein paar Narben weiß er nicht ob sie bleiben werden.“
Ich antworte nicht. Mir fällt nichts ein was ich sagen soll, selbst wenn ich meine Stimme wiederfinden würde.
„Wie geht es dir?“, fragt sie mich.
Ich sehe kurz an die Decke und räuspere mich. Dann sehe ich sie wieder an.
„Ich weiß es nicht ... Was ist mit dir passiert?“, frage ich sie.
Sie zieht ihre linke Augenbraue hoch.
„Was mit MIR passiert ist? ... Der Arzt hat mir gesagt du erinnerst dich an nichts?“, fragt sie.
Sie klingt traurig.
„Naja, ich weiß nicht genau ...“ Tatsache ist nämlich, als sie die Tür reinkam und mir das erste mal ein Schauer über den Rücken gelaufen ist, da sind mir Erinnerungen wieder durch den Kopf gekommen. Aber sie ergaben kaum einen Sinn. Es ist, als hätte ich ein paar Puzzleteile in der Hand, aber mir fehlen noch mehr Teile um erkennen zu können, was später für ein Bild daraus entstehen soll.
„Ich erinnere mich schon an etwas, aber das könnte auch Traum oder Halluzination sein, es ist einfach zu unglaubwürdig ... und zu verschwommen. Meine Eltern haben mir vorhin gesagt du würdest dich auch an nichts erinnern?“
Sie sieht aus dem Fenster nach draussen, wo langsam bereits die Sonne untergeht.
„Doch tue ich. Aber ich wollte zuerst mir dir über alles reden.“
Sie sieht mich wieder an. Sie hat Tränen in den Augen. Ich atme tief ein um meinen Herzschlag wieder auf ein gesundes Tempo zu verringern.
„Du weißt das ich mich letzte Woche von meinem Freund getrennt habe, stimmts?“
„Ja ...“
„Okay. Weißt du, Samstag stand er bei mir vor der Tür, er sagte er würde gerne mit mir reden. Ich war mir unsicher ob ich auch mit ihm reden wollte, aber schließlich habe ich eingewilligt. Wir waren ein wenig spazieren und haben uns dann auf dem Realschulhof auf eine Bank gesetzt. Wir haben viel geredet, er meinte es würde ihm Leid tun und er wollte sich nicht von mir trennen. Ich habe ihm nicht geglaubt. Er hat mich das Wochenende zuvor bei mir Zuhause bedrängt, wurde wütend als ich im gesagt habe, dass er sich beherrschen soll. Alles hat damit geendet, dass er rausgestürmt war und wir am nächsten Tag kurz telefoniert hatten um Schluss zu machen. Jedenfalls hat er gesagt wie sehr er es bereuen würde und wie gerne er wieder mit mir zusammen wäre. Aber ich vertraute ihm nicht mehr, habe ihm das auch gesagt. Ich habe vorher lange nachgedacht, er war wie die meisten meiner Ex-Freunde, er wollte immer nur das eine, tat auf cooler Macho, hielt sich für cooler als er war und war in Gegenwart seiner Freunde manchmal unausstehlich.“
„Warum erzählst du mir das alles?“, frage ich sie.
„Weil, ich gemerkt habe, dass ich mich immer nur auf diese Macho-Kerle eingelassen habe, die zu mir kamen und mir erzählt haben wie sehr sie mich lieben würden. Nachdem ich mit ihm Schluss gemacht hatte, habe ich viel nachgedacht, auch über dich. Vielleicht sogar gerade über dich. Du liebst mich, ich glaube auch, dass du weißt, dass ich über deine Gefühle Bescheid weiß. Aber trotzdem hast du mich nie darauf angesprochen, worüber ich zuvor froh war, weil ich mit meinem Freund ja glücklich gewesen bin. Aber nachdem er weg war, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, warum du mich nie angesprochen hast. Jedenfalls hatte ich mir vorgenommen gehabt, dich letzten Freitag in der Schule darauf anzusprechen.
Aber ich hatte mich in den Freistunden nicht überwinden können, ich hatte vielleicht zuviel Angst, dass aus dem Liebhaber der du warst, doch nur ein weiterer von den typischen Kerlen zum Vorschein kommt. Auch wenn ich es nicht geschafft habe dich anzusprechen, so wollte ich doch auf keinem Fall mit meinem Ex wieder zusammen kommen. Als ich ihm das eindeutig gesagt habe, ist er ziemlich wütend geworden. Wir waren allein auf dem Schulhof und er bemühte sich nicht leise zu sein, also schrie er mich an, dass ich ein völlig falsches Bild von ihm hätte, ihn gar nicht kennen würde. Am liebsten wollte ich so schnell wie möglich nach Hause gehen, doch als ich aufstehen wollte hielt er mich am Arm fest und zog mich wieder auf die Bank zurück. Ich forderte ihn auf mich gehen zu lassen. Er schüttelte den Kopf und lachte. Dann versuchte er mich zu küssen, aber ich bin zurückgewichen. Er hat seinen Griff nicht gelockert und wollte mich an sich heran ziehen. Ich versuchte mich aus seiner Hand zu winden, wollte einfach nur noch weg, aber er ließ mich nicht los. Aus Verzweiflung habe ich um Hilfe gerufen, auch wenn ich wusste, dass die Wahrscheinlichkeit von jemandem gehört zu werden sehr gering war.
Daraufhin hat er mir den Arm verdreht und wollte sich näher neben mich setzen. Ich schrie noch einmal, dann hat er mir plötzlich ins Gesicht geschlagen. Ich war so benommen, dass ich nichts mehr sehen konnte. Auf einmal hörte ich einen weiteren dumpfen Schlag, woraufhin mein Ex aufstöhnte. Der Griff um meinen Arm lockerte sich. Ich konnte nicht viel sehen, aber ich entwand mich seinem Griff und versuchte aufzustehen. Ich wollte einfach nur noch weg von ihm. Ich war jedoch so benommen, dass ich zu Boden gestürzt bin.
Als ich aufsah ... hatte er eine Platzwunde an seinem rechten Wangenknochen, die er nur kurz berührte. Als er das Blut auf seinen Fingern sah, sprang er auf und drehte mir den Rücken zu. Da erst sah ich dich. Du standest hinter der Bank, deine rechte Hand noch immer zu einer Faust geballt.
Ich weiß nicht wo du so plötzlich hergekommen bist, oder warum du überhaupt da warst. Aber ich war froh dich zu sehen. Ich versuchte wieder aufzustehen und habe es auch geschafft, aber bevor ich weit kam hat er mich wieder am Arm festgehalten. Er sah mich wütend an, ich konnte kurz den Hass in seinen Augen sehen, dann schlug er mir noch einmal ins Gesicht und ich sackte wieder in mich zusammen. Ich habe nichts gesehen, aber kaum hatte er mich geschlagen musst du ihn angegriffen haben, denn ich habe gespürt wie er erneut stöhnte und über mein Bein stolperte.
Ich habe mich mit den Händen vom Boden abgestützt, versucht den Kopf klarzukriegen um wieder sehen zu können, aber mein Blickfeld klärte sich viel zu langsam. Ich konnte nur hören ... hören wie ihr euch geschlagen habt ... wie er dich beleidigt hat ... dass du nicht geantwortet hast.
Als ich wieder sehen konnte, blieb ich am Boden knien, zitterte am ganzen Körper. Ihr standet mehrere Meter weit entfernt von mir, habt geschwitzt, geblutet und gekeucht. Er hat dich im Schwitzkasten gehabt, du hast sein linkes Bein gegriffen und verdreht bis er dich losgelassen hat. Ihr habt euch geschlagen wie wilde Tiere, ich hatte mich gewundert, dass ihr überhaupt noch aufrecht stehen konntet. Dann zog er ein Taschenmesser aus seiner Jackentasche und hat dir etwas angedroht, aber ich konnte es nicht verstehen. Du hast den Kopf geschüttelt. Daraufhin ist er richtig ausgerastet, hat nach dir gestochen, aber du bist ausgewichen, hast ihm das Knie in die Seite gerammt. Dann sprang er auf dich zu und hat dir in den linken Arm aufgeschlitzt ... zweimal ... du hast ihm ins Gesicht geschlagen. Er hat sich wohl gewundert warum du nicht auf das Messer reagiert hast und hat es dir in den Bauch gestochen. Dann hast du dir das Messer rausgezogen und ihm in die linke Schulter gerammt. Dann hat er sich umgedreht, mir noch einen wütenden Blick zugeworfen und ist dann abgehauen, so schnell er humpeln konnte. Ich kämpfte mich hoch und bin zu dir rübergelaufen. Ich habe einen Krankenwagen gerufen ... du bist auf die Knie gefallen ... langsam auf den Boden gesunken. Ich habe mit dir gesprochen, aber du machtest den Eindruck als könntest du mich nicht hören. Du hattest deine Hände auf den Bauch gepresst. Du hast mir in die Augen gesehen, mit funkelndem Blick. Es hat nur ein paar Minuten gedauert bis der Krankenwagen da war. Dann haben sie uns beide ins Krankenhaus gebracht.“
Sie weint. Jetzt wo sie es erzählt hat, ergeben die Dinge, an die ich mich erinnern kann einen Sinn. Während ihrer Erzählung kamen immer mehr Erinnerungen zurück. Aber kann das wirklich so passiert sein? Ich schlucke ... mein Hals ist noch rauer als heute morgen ... ich habe ein dumpfes Gefühl im Bauch, ob wegen meiner Gedanken oder der Wunde kann ich nicht unterscheiden.
„Ich- Weißt du- ich ...“, krächze ich, aber man versteht es kaum.
Sie lächelt. Sie nimmt meine linke Hand in ihre. Irgendwie kommt mir alles etwas unwirklich vor ...
„Ich liebe dich!“, flüstere ich ihr zu.
Tränen laufen über ihre Wangen. Das Kribbeln in mir wird immer stärker.
„Ich dich auch.“
Meine Augen werden feucht. Es kann nur ein Traum sein. Ich fühle mich als würde ich fallen ... tiefer fallen ... und weiter fallen.
„Warum warst du so schnell da?“, fragt sie mich.
Jetzt weiß ich endlich wieder wohin mein Spaziergang mich geführt hatte. Ich hatte in der Nähe des Schulhofes einen Schrei gehört, aber das war eine Straße weiter, also bin ich so schnell ich konnte hingerannt. Ich habe die beiden auf der Bank sitzen sehen. Kurz überlegt was los war. Als er sie weiter bedrängte fasste ich einen Entschluss und ging rasch von hinten auf die Bank zu. Es war, als hätte sich tief in mir etwas geregt, als wäre etwa in mir erwacht und wollte kämpfen ... um sie kämpfen ... ich hatte ohne zu zögern ausgeholt ...
„Weil du da warst ... und wenn wir nochmal diesen Samstag hätten, wäre ich wieder da.“


© Philipp Gallus


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Kommentare zu "Stich ins Herz"

Re: Stich ins Herz

Autor: FrankOlafPaucker   Datum: 10.01.2012 18:40 Uhr

Kommentar: Eine schöne Liebesgeschichte, Philipp. Hat mir sehr gut gefallen. :-)

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