Das letzte Rätsel des Alchemicus Rauchwolk

Professor Doktor Alchemicus Rauchwolk war der gebildetste Mann im Städtchen.
Er wusste auf jede Frage eine Antwort, hatte er doch sein bisheriges Leben beinahe vollständig der Wissenschaft und der Forschung gewidmet.
Hatte irgendjemand ein nicht zu lösendes Problem, oder wollte jemand wissen, wie schwer der Dachfirst für sein neugebautes Haus sein musste oder wollte einfach nur wissen, wie das Wetter sich entwickelte, dann war Alchemicus der richtige Ansprechpartner. Er hatte, wenn es um Mathematik, Chemie, Physik, Astronomie oder irgendeine andere Wissenschaft ging, immer einen Ratschlag parat, und kein Rätsel war ihm zu schwer.
So hatten sich die Bewohner des nahegelegenen Dörfchens recht gut mit dem exzentrischen Professor arrangiert, doch mehr als nötig wollten sie auch nicht mit ihm zu tun haben. Denn wirklich geheuer war ihnen das abgelegene Anwesen nicht.
Eigenartig anmutende Instrumente und fremdartige Gerätschaften standen auf dem Dach und ragten zu allen Fenstern hinaus, wie dürre, knorrige Finger. Nicht selten leuchteten sie des Nachts in einem grünlichen oder blauen Licht; von den merkwürdigen Geräuschen einmal ganz abgesehen, die, wenn der Wind günstig stand, auch unten am Dorfplatz noch zu hören waren.
Hinter dem schweren, schwarzen Eisentor erstreckte sich eine weite, Grünfläche, die, wäre sie ordentlich und gepflegt gewesen, bestimmt einladend und prachtvoll hätte wirken können. So verwahrlost, wie sie war, erweckte sie aber nur den Anschein, als wäre es bei Vollmond ein Spiel- und Sammelplatz für Hexen, Gespenster und andere Wesen, denen die Menschen eher wenig wohlgesonnen waren.
Mit dunkelgrünem Moos bedeckte, rankenüberwucherte Statuen aus grauem Stein starrten mit leerem Blick etwaigen Besuchern entgegen und der versiegte Brunnen vor der hölzernen Eingangstüre wirkte auch eher abschreckend, ebenso wie die dämonisch aussehenden Wasserspeier mit weit aufgerissenen Glubschaugen und herausgestreckter, dünner Zunge, die über dem Tor jeden Eindringling kritisch beglotzten.
Im Haus selbst sah es kaum anders aus, als man es von außen erwarten würde.
Verstaubte, golden blitzende Vorrichtungen, die sich hypnotisch im Kreis und um ihre eigene Achse drehten, Kolben und Reagenzgläser mit grellbunten, dampfenden und brodelnden Flüssigkeiten, die in beinahe unwirklichem Kontrast zum mausgrauen Ambiente des restlichen Hauses standen. Das dunkle, von Holzwürmern durchlöcherte Mobiliar machte mittlerweile weniger einen prunkvollen, als vielmehr einen erbärmlichen und mitleiderregenden Eindruck.
Sämtliche 147 Räume des Anwesens waren entweder zu einer Art Rumpelkammer degradiert worden, oder in eine Fachbibliothek umgewandelt, mit vergilbten Büchern über sämtliche Themen, die man sich nur Vorstellen konnte. Von Zoologie und Aufzucht von Zimmerpflanzen (man bedenke, dass nicht in einem Raum etwas auch nur Pflanzenähnliches zu finden war, abgesehen von den Schimmelpilzen an der Decke) über Wetterkunde für Fortgeschrittene bis hin zu Voodoo, dunkler Magie und Mathematik für Hochintelligente war alles dabei, was man sich vorstellen konnte.
Ob es irgendwo im Haus einmal ein Bett gegeben hatte, wusste nicht einmal mehr Alchemicus selbst, er schlief einfach dort ein, wo er sich befand, wenn ihn die Müdigkeit irgendwann doch übermannte. Auch er passte wundervoll in das Gesamtbild des Ambientes, obwohl er jünger war, als die meisten Menschen vermuteten. Er glaubte, letztes Jahr seinen dreißigsten Geburtstag verpasst zu haben, aber ganz sicher war er sich nicht. Das fast schulterlange, braune Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, wo es oft eines der brillenähnlichen Objekte, die er meist auf der Nase zu tragen pflegte, zu Schutz- oder Vermessungszwecken, verdeckte und ihm die Sicht raubte.
Die Metallgestelle vergrößerten seine dunklen Augen manchmal um ein vielfaches ihrer eigentlichen Größe und verliehen ihm Ähnlichkeit mit einem überdimensionalem Insekt, ein anderes Mal verkleinerten sie sie so stark, dass man zweimal hätte hinsehen müssen, um überhaupt etwas zu erkennen und wieder ein anderes Modell veränderte im Minutentakt die Farbe seiner Iris. Sein schmales Gesicht mit den eingefallenen Wangen wirkte dann eher außerirdisch als menschlich und wozu das gut sein mochte, wusste der Professor selbst auch nicht mehr.
Doch so schräg und eigenartig wie er auch aussehen mochte, er war doch nicht unattraktiv und hätte er ein ganz normales Leben geführt, wäre ihm mit Sicherheit mehr als eine Frau hoffnungslos verfallen. Außerdem hatte er das Herz am rechten Fleck, und wenn es einmal wieder an der Tür klopfte und jemand seinen Rat benötigte, flatterte er sofort mit wehendem weißen Laborkittel herbei. Es war bisher nur selten, streng genommen eigentlich noch nie vorgekommen, dass selbst er einmal keine Antwort wusste. Schließlich hatte er sein gesamtes Leben mit dem Studium zugebracht und Mathematik hatte er schon als kleines Kind besser beherrscht, als die meisten Erwachsenen.
Er konnte alle Hauptstädte der Welt aufsagen, kannte alle Tiere und Pflanzen mit Namen (auch wenn alles, was er davon bisher tatsächlich gesehen hatte die Bäume und das Gras vor seinen Fenstern und die Ratten und Spinnen in seinem Haus waren) und wenn ihm beim Frühstück sein Marmeladenbrot, das ihm freundliche Dorfbewohner relativ regelmäßig vorbeibrachten, damit er das Essen nicht völlig vergaß, auf den Boden fiel, wusste er wenigstens, wieso es ausgerechnet auf der bestrichenen Seite hatte landen müssen.
Dennoch gab es eine einzige Disziplin, von der er nicht den leisesten Schimmer hatte und der er schon seit vielen langen Jahren auf den Grund zu gehen versuchte, die sich ihm aber immer, wenn er kurz vor der Antwort stand, wieder entzog und ihn dazu zwang, erneut zu beginnen. Etwas, das er nicht begreifen konnte, das sich nicht mit einer Formel oder einem allgemeinen Gesetz beschreiben ließ, egal wie oft er es auch versuchte.
Tage und Nächte hatte er durchwacht bei den Versuchen, irgendeine mathematische Gleichung zu formulieren, doch immer übersah er eine kleine Konstante und all die Mühe war umsonst gewesen.
Dabei war es nicht mehr als ein Gefühl, das ihn vor solche Schranken stellte und ihm seine Grenzen aufwies. Die menschlichste aller Empfindungen und doch die, die wir am wenigsten begreifen können.
Eine, die sich nicht in Regeln oder Rechnungen sperren lässt , die ihre ganz eigenen Absichten und Ziele hat, die für und Menschen zu verworren und vielschichtig ist, um sie auch nur erahnen zu können. Sie macht, was sie will. So war es schon immer und so wird es auch bleiben und das ist gut so.
Das intensivste und lebendigste Gefühl und doch Undurchdringlichste für den, der sie zu verstehen sucht.
Dem Professor fiel es zu schwer, das einzusehen, verspürte er doch diese eigenartige, beklemmende Leere in seiner Brust und die Rastlosigkeit, die ihn immer dann packte, wenn ein Rätsel unlösbar zu sein schien.
All das machte dem Armen schwer zu schaffen.
Nacht für Nacht, Tag für Tag saß er zusammengekauert an seinem Schreibpult, das vor Blättern und Notizen, Skizzen und Formeln nur so überquoll und raufte sich die Haare, die in alle möglichen und unmöglichen Richtungen abstanden und so war es auch in dieser einen Nacht.
Der zunehmende Mond, noch nicht mehr als eine hauchdünne Sichel, stand am samtblauen Himmel und eine warme Sommernachtsbrise wehte durch das weit geöffnete Fenster. Sie wirbelte ihm frech um die Nase, trug den Duft von Jasmin und Flieder hinein und raubte ihm sämtliche Konzentration. Mit einem resignierenden Seufzen warf er seine Feder hin, ohne sich um die Tintenspritzer zu achten, die sich über den gesamten Schreibtisch verteilten, schon den schweren Holzstuhl bei Seite und stellte sich ans Fenster.
Die Luft war rein und frisch und mit tiefen Atemzügen sog er sie in seine Lungen.
Der Nebel, der sein Gehirn umfing, begann sich zu lichten und eine vor langer Zeit abhanden gekommene Klarheit kehrte in seine Gedanken zurück.
Mit einem Mal fühlten sich seine Glieder unheimlich schwer an und der Kopf sank ihm auf die Brust. Alchemicus wusste gar nicht, wie lange er nicht mehr geschlafen hatte, aber der tiefen Müdigkeit in seinen Knochen zu urteilen, sehr, sehr lange.
Er setzte sich auf die breite Fensterbank, ließ seinen Blick noch einmal über den glitzernden Sternenhimmel schweifen und schon versank er mit einem leisen Lächeln auf den Lippen in einen tiefen Schlaf.
Als er die Augen wieder aufschlug, fand er sich in einem hellen, freundlichen Wald wieder, nicht weit von einer kleinen, sonnenüberfluteten Lichtung. Tausende Vögel zwitscherten ihr Lied im Geäst und das Licht brach sich in den morgendlichen Tautropfen, die das hellgrüne Gras überzogen. In einem Meer aus funkelnden Farben stand er auf und blickte sich ungläubig um. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen in das feuchte Gras, Schuhe hatte er keine an. Kalt und weich fühlte es sich an, erfrischend und eigenartig befreiend.
Es war lange her, als er das letzte Mal barfuß war. Er war noch ein kleiner Junge gewesen und seine Mutter... Er verwarf die Gedanken schnell wieder.
Langsam und bedächtig ging er Schritt für Schritt auf die Lichtung hinaus in den Sonnenschein. Die Wärme kribbelte auf seiner Haut und hunderte Schmetterlinge in allen Farben flatterten schon bald in einer bunten Wolke um ihn herum. Jeder einzelne von ihnen hinterließ eine glitzernde Staubspur in der Luft, und fast war ihm so, als höre er sie mit ihren zarten Stimmchen ein Lied in einer ihm unbekannten Sprache singen.
Mit einem Mal löste sich der Schwarm auf, stob in alle Richtungen davon und gab den Blick auf ein winziges, windschiefes Häuschen frei, das mitten auf der Wiese stand.
Weißer Rauch stieg bedächtig aus dem gemauerten Schornstein auf, der krumm in den blauen Himmel hineinragte und die roten Fensterläden waren weit geöffnet.
Die ebenso rote Haustür stand offen und das ganze Haus wirkte so einladend, als hätte es ein Eigenleben.
Bunte Blumen von denen der Professor noch nie etwas gehört oder gelesen hatte, wiegten sich in dem kleinen umzäunten Garten im Wind sanft hin und her und ihr süßer, betörender Duft wehte Alchemicus entgegen.
Wie in Trance näherte er sich dem Häuschen, und mit einem Mal vernahm er eine Stimme, so glockenhell und klar, dass er dachte, er müsse in ihr versinken und in die fremden Welten abtauchen, von denen sie sang. Als er nahe genug herangekommen war, sah er eine Gestalt in einem schneeweißen Kleid auf der Bank neben der Tür sitzen, doch als er weiterlaufen wollte, zog ein unheimlicher Nebel auf und verschleierte ihm die Sicht. Er spürte, wie er fortgetragen wurde, wehrte sich mit all seiner Kraft gegen diese unsichtbare Macht, die ihm diesen wundervollen Ort verweigern wollte, doch alles, was ihm blieb, war dieser bezaubernde Gesang, der leise in seinen Ohren verklang. Ein letztes Mal nahm er seine Kräfte zusammen, kämpfte gegen den Nebel an, rief laut einen Namen, den er nicht kannte. Doch er entfernte sich immer weiter von diesem paradiesischen Ort.
Schließlich fuhr er derart zusammen, dass er beinahe aus dem offenen Fenster gefallen wäre und riss die Augen auf. Sein Atem ging stoßweise und der Puls raste. „Was bei den sieben Göttern...“, keuchte er und wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß von der Stirn. „Nur ein Traum. Das war nur ein Traum.“, sagte er sich, obwohl er eine gewisse Wehmut empfand, als er sich an das Häuschen erinnerte. Das Häuschen...Die Schmetterlinge...Und dieser Gesang...Der Gesang!
Sein Herz setzte für zwei Schläge aus. Spielte seine Fantasie abermals einen Streich? „Vielleicht sollte ich in der Tat etwas mehr schlafen...“, murmelte er, als er mit gespitzten Ohren in die Nacht lauschte. Nein! Zweifellos sang dort draußen jemand! Es war eine zarte Stimme, nicht unähnlich der in seinem Traum! Es war eindeutig die selbe Melodie.
Wie verzaubert saß der Professor auf dem Fenstersims und starrte hinaus in die Dunkelheit, doch erkennen konnte er nichts. Eine innere Stimme sagte ihm, er solle hinausrufen, welches wunderbare Wesen ihm den Schlaf raube, doch er wagte es nicht. Zu groß war seine Furcht, das Mädchen zu verscheuchen.
So lauschte er mit angehaltenem Atem solange, bis der Gesang leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Noch nie hatte ihn etwas so tief berührt. Als ihn nur noch die nächtliche Stille umfing, versank er mit einem fremdartigen, sehnsüchtigen Gefühl in der Brust in einen tiefen, traumlosen Schlummer. Er bemerkte die einzelne Träne gar nicht mehr, die ihm still und heimlich über die Wange kullerte und glitzernd in seinen Schoß tropfte.
Der Professor erwachte erst wieder, als die Vögel schon längst wieder zu trällern begonnen hatten und die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Er schwang sich auf die Beine und streckte im warmen Licht seine verspannten Glieder.
Seine Schultern schmerzten und er konnte seine Arme kaum heben, aber dennoch fühlte er sich so ausgeruht, wie schon lange nicht mehr. Es war ihm, als wäre in dieser Nacht ein grauer Schleier von ihm abgefallen, der sich über die Jahre hinweg wie Staub auf ihm abgelagert hatte und seinen Geist vernebelt hatte. Er sah die Dinge mit einer neuen Klarheit und selbst weniger alt und müde aus.
Mit neu gewonnenem Tatendrang schnappte er sich schnell im Vorbeigehen Feder und Pergament und verließ zum Ersten Mal seit Jahren das Haus.
Ein wenig erschrocken über den Zustand der anderen Räume, die er erstmals nach einer Ewigkeit wieder passierte, dachte er bei sich, dass sich der Schaden beheben lasse, wenn man einmal wieder gründlich den Staubwedel schwingt. Er nahm sich vor, sobald als möglich das Anwesen einer ausgiebigen Grundreinigung zu unterziehen, allerdings müsse er sich dafür Hilfe von den Dorfbewohnern beschaffen, denn alleine würde er Jahre brauchen, bis er fertig wäre und dann würde er gleich wieder von vorne beginnen können.
Aber das würde wohl kein Problem sein, schließlich hatte er ja vielen von ihnen ebenso geholfen, als sie in Not waren.
Als er schließlich in der Eingangshalle angekommen war, stand er beinahe ehrfürchtig vor dem schweren Eichenholztor. Mit einiger Kraftanstrengung schaffte er es, die beiden Flügen aufzustoßen und das Tageslicht fiel ihm grell ins Gesicht. Geblendet hob er einen Arm vor die Augen und blinzelte ein paar Male. Der Staub, der sich in all den Jahren angesammelt hatte wirbelte im Sonnenlicht auf und bildete eine dichte Wolke, die hinter dem Professor nach draußen stob. Dieser aber trat mit einem Lächeln im Gesicht hinaus auf die Wiese und sein weißer Laborumhang rutschte ihm im sanften Wind von den Schultern.
In brauner Weste, schwarzer Hose und verstaubten, matten Stiefeln ging er gemächlich durch den Garten, oder das, was einmal ein Garten gewesen sein mochte. Unkraut wucherte nur so vor sich hin und an manchen Stellen musste Alchemicus sich mit beiden Händen einen Weg durch das Gestrüpp bahnen. Die ehemals eindrucksvollen Statuen waren vom Efeu überwachsen und wilde Rosen rankten sich den prächtigen aber leeren Brunnen im Hof hinauf. Der Garten hatte in der Zeit der Vergessenheit ein Eigenleben entwickelt und präsentierte sich nun in wilder Schönheit dem staunenden Besitzer. Kaum gab es ein Fleckchen, wo nichts wuchs oder wucherte, rankte oder kletterte und so verbrachte der Professor den ganzen Vormittag damit durch die verwilderten Blumenbeete zu streifen und all die neuen Eindrücke in sich aufzusaugen um ja nichts zu verpassen.
Als die Sonne im Mittag stand, wanderte er auf eine riesige, uralte Eiche zu, die auf einem kleinen Hügel etwas abseits stand. Als er dort oben angekommen war, wandte Alchemicus sich um und überblickte mit einem glitzern in den schwarzen Augen sein Anwesen.
Wie konnte er nur all die letzten Jahre so blind gewesen sein, dass er diese Pracht gar nicht bemerkt hatte, die sich direkt vor seiner Nase befunden und doch so weit von ihm entfernt gelegen hatte?
Zum ersten Mal in seinem Leben, wie es ihm vorkam, verspürte er Ruhe und Rast in seinem Herzen und er setzte sich an den Stamm gelehnt auf das Gras. Die Sonne wärmte seine blasse Haut und mit einem zufriedenen Lächeln zückte er seine weiße Schwanenfeder und begann zu schreiben.
Er schrieb und schrieb, schrieb über das, was er versäumt hatte und jetzt in einer einzigen Nacht wiederentdeckt hatte. Schrieb seine Gedanken und Gefühle nieder, die ihm durch den Kopf gingen und nichts mit der Wissenschaft zu tun hatten, er schrieb über das was er vorhatte und was er getan hatte, über den Traum und die Stimme, die er gehört hatte.
Und er schrieb über das seltsame Gefühl, das ihm seit letzter Nacht tief in der Brust saß und ein eigenartiges Ziehen direkt unterhalb den Herzens hervorrief, nachdem er dieses fremde Mädchen hatte singen hören.
Immer wieder blickte er von dem Papier auf, schloss seine Augen und versuchte, sich die geheimnisvolle Melodie wieder in Erinnerung zu rufen, doch je mehr er versuchte, sie festzuhalten, desto schneller entglitt sie ihm. In immer kürzeren Abständen versuchte er es, doch alles, was er sich zusammenreimte, war eine verblasste Kopie irgendwelcher willkürlich aneinandergereihter Töne und je mehr sich der Tag dem Abend zuneige, desto mehr schlug seine Glückseligkeit in Verzweiflung um. Er musste dieses Mädchen finden, das war der einzige Gedanke, der in seinem Kopf herumspukte, als das Abendrot die ganze Welt in ein goldenes Licht tauchte. Er wusste nicht, woher dieser Drang kam, doch er war stärker als alles andere, was ihn beschäftigte und als schließlich die Nachtigallen zu singen begannen, hatte er in seiner Verbissenheit, ganze zwanzig Seiten vollgeschrieben. Doch keine Formulierung schien ihm passend, kein Adjektiv konnte die Vollkommenheit dieses Ortes beschreiben und mit einem verzweifelten Stöhnen begrub er das Gesicht in seinen Händen und begann bitterlich zu weinen.
„Alles umsonst, alles fort! Fort, wie der verklingende Ruf der Lerche, wenn die Sonne über den Horizont klettert, fort. Alles was bleibt sind Schatten und Dunst und schon morgen früh wird die Welt wieder den selben Gang gehen. Immer den selben Gang und alles wird umsonst gewesen sein.“
Tränen rannen ihm durch die Finger und sein ersticktes Schluchzen stand in Kontrast zu dem melodischen Lied der Nachtigall. Und wie er so unter den weit ausladenden Ästen der Eiche saß, zusammengekauert und allein, wurde er des Weinens müde und in einem fließenden Übergang von Imagination zum Traumbild stand er wieder auf der Lichtung.
Diesmal war die Sonne bereits vollständig aufgegangen und hatte den Tau schon von von den Halmen geleckt. Das Gras fühlte sich nun warm a, sodass man sich am liebsten hineinlegen würde, doch er ließ sich nicht beirren. Zielstrebig hielt er auf das kleine Haus zu und wieder umfing ihn der köstliche Duft der Blumen und der Wind trug ihm abermals diesen wundersamen Gesang entgegen.
Er beschleunigte seinen Schritt, versuchte aber gleichzeitig sich jedes Detail einzuprägen und diesmal sah er sie. Sie saß auf der hölzernen Bank, kämmte ihr wallendes, feuerrotes Haar und erfüllte die Luft, die um sie herum zu flimmern schien, mit ihrer bezaubernden Stimme. Er rief ihr zu und sie hielt inne und hob den Kopf. Alchemicus blieb wie angewurzelt stehen, so betört war er von ihrer Anmut. Ihre Augen blitzten so grün, wie die jungen Buchenblätter im Wald und ihre roten Lippen öffneten sich zu einem strahlenden Lächeln, als sich ihre Blicke begegneten.
Er wollte zu ihr, wollte sie im Arm halten und nie wieder loslassen, doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Beine waren wie aus Blei, kein Muskel und keine Sehne gehorchte seinem Befehl. Panik ergriff ihn, er versuchte mit aller Macht die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen, doch vergebens. Tränen der Verzweiflung rannen über sein verschwitztes Gesicht, er wollte sie nicht schon wieder verlieren! Er rief sie, wieder und wieder, doch sie stand einfach nur da und lächelte ihn an, schien nicht zu bemerken, welche Qualen er litt. Er konnte sie nicht schon wieder gehen lassen. Der Nebel umfing ihn wieder, doch diesmal ergab er sich der höheren Gewalt und ließ sich sich forttragen, schluchzend und am Ende seiner Kräfte.
Das heisere Rufen einer Krähe ließ ihn hochfahren.
Er befand sich wieder unter der Eiche und die Sterne waren bereits aufgegangen, leuchteten hell am Himmel, so als kümmere sie das Leben und Leiden der Erdenbewohner nicht.
Alchemicus wischte mit der Hand über sein nasses Gesicht. Er musste tatsächlich geweint haben!
Mit einem tiefen Atemzug lehnte er sich an den rauen Stamm, wartete, bis sich sein Herz wieder beruhigt hatte und lauschte in die Nacht.
Er glaubte, seinen Ohren nicht recht trauen zu können!
Sie war wieder da, die Stimme aus seinem Traum! Erregt sprang er auf. Sie war ganz nah! Irgendwo hier musste sie sein, er brauchte nur dem Klang zu folgen.
Und sich ganz auf sein Gehör verlassend folgte er der Melodie in die Dunkelheit.
Durch das Gestrüpp, zurück zu dem umrankten Brunnen, in dem jetzt auf wundersame Weise Wasser plätscherte. Doch alles, was Alchemicus hörte, war der Gesang und als er ganz nah zu sein schien, riss der jungen Professor die Augen weit auf, um keinen Lichtfunken ungenutzt zu lassen. Da bemerkte er eine dunkle Gestalt, die nicht weit von ihm zwischen den efeuüberrankten Statuen umherwandelte. Er konnte langes, lockiges Haar erkennen, das in der Dunkelheit pechschwarz erschien und sie trug ein langes Kleid, das ihre Knöchel umspielte. Als sie den Schatten der Sträucher für einen Augenblick verließ, sah er fahlen Mondlicht kurz ihre schneeweiße Haut aufblitzen.
Das Herz pochte ihm bis in die Fingerspitzen, doch diesmal nahm er seinen Mut zusammen. „Hallo? Wer bist du?“ , rief er mit zitternder Stimme zu ihr hinüber – und bereute es im nächsten Augenblick wieder. Die dunkle Silhouette hielt für eine Sekunde inne, der Gesang verstummte und schneller, als er ihr nachblicken konnte, war sie im Schatten der Sträucher verschwunden.
Es war ihm, als träume er immer noch. Hilflos tastete er sich in der Dunkelheit vorwärts, ohne zu wissen, wohin er sich wandte und es dauerte nicht lange, da hatte er sich auf seinem eigenen Grundstück verirrt. Keuchend blieb er stehen. Mit bitterer Ironie dachte er daran, dass jetzt der optimale Zeitpunkt zum aufwachen gekommen wäre, doch ihm war klar, dass das kein übler Traum war.
Er wusste weder, wo er war, noch wie er zurückfinden sollte, also hielt er es für das Beste, abzuwarten, bis die Sonne ihm die Orientierung zurückbrächte.
Er setztesich auf den moosig-feuchten Boden und noch bevor er realisieren konnte, was ihm eben widerfahren war, fiel er wieder in tiefen Schlaf.
Es war eine Lerche, die ihn mit ihrem morgendlichen Lied aus dem Schlaf riss. Kaum hatte er die Augen aufgeschlagen, regneten die Erinnerungen von letzter Nacht auf ihn hernieder und ertränkten ihn fast in einer Sintflut von Eindrücken. Doch er beschloss, sich erst einmal auf den Heimweg zu machen, bevor er sich seinen Gedanken widmete.
Er sah sich um, aber auch bei Tageslicht hatte er nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand. Um ihn herum waren nichts als Bäume und Sträucher und so blieb ihm nicht viel anderes übrig, als einfach drauflos zu laufen. Er war der Meinung, letzte Nacht ungefähr nach Nordosten gelaufen zu sein, deshalb versuchte er anhand der Sonne Südwesten abzuschätzen und machte sich auf den Weg.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch (er konnte sich nicht daran erinnern, so weit gelaufen zu sein) erreichte er endlich den Rand des kleinen Wäldchens und fand sich schließlich zwischen den Statuen wieder. War er der Unbekannten tatsächlich so weit gefolgt?
Er bahnte sich seinen Weg geradeaus durch das Gestrüpp und Dornen verhakten sich in seiner Haut, doch er merkte es kaum. Er kam abermals zu dem seltsamen Brunnen, in dem sich zwar noch Wasser befand, aber der keines mehr spie wie noch vor einigen Stunden.
Es war ihm ein Rätsel. Er setzte sich auf den Rand und betrachtete sein Spiegelbild. Er hatte sich verändert. Er war nicht mehr der verbohrte Wissenschaftler von früher, er war, so lächerlich es auch klingen mag, ein fühlender, emotionaler Mensch geworden. Spöttisch über sich selbst lächelnd warf er einen Kieselstein ins Wasser und sein Ebenbild zerfloss in eine undefinierbare Masse aus Farben, bis sich die Oberfläche wieder geglättet hatte. Das Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wie hatte er nur so dumm sein können und sie einfach so ansprechen? Er hatte doch gewusst, dass sie davonlaufen würde.
War sie denn tatsächlich das Mädchen aus seinem Traum? Die Stimme war die selbe und das Lied ebenfalls, dessen war er sich sicher. Aber wie konnte der Traum Realität werden? Oder hatte er nur von der Realität geträumt? Stundenlang saß er so am Brunnen, warf Steine in das Wasser oder fuhr mit seinen Fingern hindurch. Es Rann ihm kühl durch die Hand und entglitt immer wieder seinem Griff. Den ganzen Tag verbrachte er dort und dachte nach und kam schließlich zu dem Bewusstsein, dass letztendlich alles, was er wusste nur der Hauch eines Abbildes dessen war, was man Leben nennt.
Vom wirklichen Leben hatte er nicht die leiseste Ahnung und so verstand er erst jetzt, dass dieses drückende Gefühl in seinem Herzen und das Verlangen, dieses Mädchen wiederzusehen, nichts anderes als die Lösung für das eine letzte Rätsel, dem er nicht auf den Grund gehen konnte, das er nie ganz begreifen konnte. Die einzige Konstante im Leben der Menschen, die sich nicht in einer allgemeingültigen Formel ausdrücken lässt, die Antwort, nach der er solange vergebens gesucht hatte; sie war letztendlich ganz von selbst zu ihm gekommen.
Was bedeutet es zu lieben?
Und er musste abermals Lächeln, denn eigentlich hätte er jetzt sagen können, das es auf der ganzen Welt kein einziges Rätsel mehr gab, dessen Antwort er nicht kannte, aber er wusste, dass er den wirklich großen Fragen jetzt erst auf die Spur kommen würde.
Und auf einmal überkam ihn die Gewissheit, dass er die Unbekannte heute Nacht wiedersehen würde. Er wusste nicht, weshalb, nur dass es so sein würde und so wartete er ab, bis die Sterne wieder am Himmel standen und er wollte sie alle einfangen und dem Mädchen zu Füßen legen, das er so begehrte. Doch das viele Nachdenken hatte ihn erschöpft und so war er schon bald auf dem kühlen Marmor des Brunnens eingeschlafen.
Und er stand wieder an der selben Stelle in dem Buchenwald, doch nun stand die Sonne weit im Westen und die ganze Lichtung war von reinem Gold überzogen. Alchemicus blickte zum Himmel hinauf und es sah so aus, als stünde er lichterloh in Flammen. Mit einem Lächeln im Gesicht ging er ruhig auf das Häuschen zu und rief schon von Weitem nach dem rothaarigen Mädchen.
Und sie hörte ihn, ließ den Kamm fallen und sprang ihm lachend mit wehenden feuerroten Locken und schneeweißem Kleid entgegen.
Und just in dem Augenblick, als sich ihre Körper berührten, geschah es, dass eine Sternschnuppe vom Himmel fiel, direkt in den Brunnen neben Alchemicus und er erwachte.
Und als er die Augen aufschlug, blickte er direkt in ein leuchtendes grünes Augenpaar in einem Gesicht, so weiß wie Porzellan, umrahmt von wilden, roten Locken.
Als sich ihre Blicke trafen, öffnete sie die roten Lippen zu einem strahlenden Lächeln und mit einer Stimme, die so glockenhell und klar war, dass Alchemicus glaubte, in ihr versinken zu müssen, sagte das Mädchen zu ihm: „Mein Name ist Allmande. Ich habe das Gefühl, dich schon einmal gesehen zu haben.“ Der Professor lächelte. „Ich bin Alchemicus. Du kommst mir auch eigenartig bekannt vor!“
Er warf einen kurzen Blick in den plätschernden und silbern leuchtenden Brunnen.
„Ja, ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen.“


© FairyTale


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Kommentare zu "Das Letzte Rätsel des Alchemicus Rauchwolk"

Re: Das Letzte Rätsel des Alchemicus Rauchwolk

Autor: clownfish13   Datum: 05.08.2012 17:03 Uhr

Kommentar: Es ist ein sehr gelungener Text.

Re: Das Letzte Rätsel des Alchemicus Rauchwolk

Autor: Schmusekatze   Datum: 12.11.2013 9:42 Uhr

Kommentar: Wow - ich bin sprachlos - super!!

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