Um deiner selbst willen

Als das gusseiserne Tor mit nur noch teilweise zur Gänze vorhandenen Metallspitzen quietschend ins Schloss fiel, sah Anna sich unwillkürlich nach allen Seiten um – doch nichts tat sich weiter. Niemand der in ihrer Nähe hätte sein können, schien ihr Kommen bemerkt zu haben. Und in diesem Moment wollte sie weg, die Chance ergreifen, dass keiner ihr Erscheinen bemerkt hatte. Doch es wäre so viel mehr, würde sie nun kehrt machen. Sie würde nicht nur diesen Ort hinter sich lassen, nein. Sie würde in erster Linie vor sich selbst fliehen. Wieder einmal.

Tief durchatmend zwang sie ihren Herzschlag in seine Regelmäßigkeit zurück und tat langsam die ersten Schritte auf dem schmalen geschotterten Weg, welcher sich wie ein Bandwurm über das mehrere Hektar große Gelände wandt. Kein Lüftchen regte sich, die Bäume um sie herum schienen den Atem anzuhalten und in der Dunkelheit abzuwarten. Einzig und allein der Mondschein begleitete ihren langsamen Gang. Es breitete sich eine Ruhe in ihr aus, welche mit jedem Meter ausfüllender wurde, je näher sie dem vereinbarten Treffpunkt kam. Vergessen war der Gedanke an einen Rückzug, vergessen die Unsicherheit, welche auf ihrer Fahrt hier her ununterbrochen versucht hatte, die Kontrolle über sie zu übernehmen. Sie strich ihr schwarzes Kleid glatt, schloss die Augen und nahm leicht den Geruch der umliegenden bepflanzten Grabstätten wahr. Als sie die Lider wieder aufschlug, machte sie unweit von sich eine Bewegung aus. Ihr Puls ging entgegen jeder Bemühung wieder in die Höhe. Er war da. Er hatte sein Wort tatsächlich gehalten. Gegen die sich sammelnden Tränen konnte sie ebenso wenig etwas ausrichten, wie gegen die Wärme, welche einer Lawine ähnlich ihren Körper flutete.

“Hattest du Zweifel, dass ich mein Versprechen einlöse?” Seine Stimme erreichte sie in jedem Winkel. Gott, wie sehr sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte. Wie sehr sie ihn gegen jeden noch so heftigen Versuch der Wehr doch liebte. Diese Erkenntnis hatte die Vierundzwanzigjährige nicht das erste Mal, nur konnte sie ihr Leugnen dessen immer weniger am Leben erhalten.

“Ich weiß, dass ich mich von Anfang an auf dein Wort habe verlassen können, Samuel.” Was sie sagte, meinte sie exakt so. “Meine Vernunft hat mir den Weg hier her alles andere als leicht gemacht, aber ich bin gekommen, wie du siehst.”

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, welches sie im ersten Moment nur schemenhaft ausmachen konnte, da er sich etwas von ihr abwandte und an eine der tragenden Säulen der kleinen Kapelle lehnte, welche das Herzstück des Friedhofs bildete.

Nicht ohne Grund hatte er diesen Ort als Treffpunkt vorgeschlagen, das war beiden nur allzu bewusst. Hier hatte die Gruppe vor vier Monaten das erste Fotoshooting abgehalten, hatte sich im Mondschein in Szene gesetzt und die friedliche Stille dieses Ortes gemeinsam genossen. Hier hatte Samuel auch bei ihr das erste Mal den Auslöser gedrückt, jedoch vor Entstehung des ersten Fotos sekundenlang durch die Linse in ihre grünen Augen gesehen. Dieser Moment hatte sich bei ihr so tief eingebrannt... Und er war den anderen nicht entgangen.

“Er hat dich nicht einfach nur angesehen”, hatte Viola leise zu ihr gemeint, als sie sich alle nach zwei Stunden wieder auf den Heimweg gemacht hatten. “Es schien als habe die Zeit kurz angehalten, als wäre da etwas – in euch beiden.” Sie hatte ihrer langjährigen Freundin sanft zugelächelt.

Diese jedoch hatte vehement mit dem Kopf geschüttelt und das Thema erst einmal unter den Tisch fallen lassen. Nur das sie seitdem kaum an etwas anderes hatte denken können. Und vor fünf Tagen dann, hatte er am Treffpunkt der Gruppe, einem alten Fachwerkhaus in einer Sackgasse nahe der meisten Wohnorte der Gruppenmitglieder, offenbart, was er fühlte. Gestanden, dass er sie liebte. Dass er sich nicht erklären konnte wie, aber dass er sich auf irgendeine Weise mit ihr verbunden fühlte. Und nun standen sie hier, nur wenige Meter voneinander entfernt. Und sie blieb ihm gegenwärtig bis zu diesem Moment eine Reaktion auf seine Worte, eine Antwort, schuldig. Er war es gewesen, welcher sich nach seinem Geständnis umgedreht und das Haus für den Rest des Tages verlassen hatte. Sie hatte keine Chance gehabt, hatte jedoch zu diesem Zeitpunkt auch kaum etwas zu antworten gewusst.

“Ich... Ich weiß bis heute immer noch nicht, was genau ich antworten soll. Was ich dir sagen kann, das auch nur ansatzweise dem entspricht, was ich fühle.”

Diesmal war der Sechsundzwanzigjährige es, welcher seine Augen schloss.

“Sieh mich an.” Ihre Stimme war halb erstickt. “Bitte sieh mich an.”

Er hob den Blick, welcher sie beinahe kurz taumeln ließ.

“Ich habe so sehr gehofft für mich selbst Antworten zu finden, bevor ich dir gegenübertrete. Ich hatte die vage Hoffnung, dass du sie mir im Zweifelsfalle geben kannst. Aber ich weiß inzwischen, dass dieser Gedanke naiv von mir gewesen ist. Ich weiß es, seit ich hier ankam.”

“Stell mir deine Fragen, vielleicht kann ich sie dir ja doch beantworten.” Nicht einmal wandte er den Blick von ihr ab.

Eine nasse Spur zog sich über ihre Wange, während sie den Kopf schüttelte. “Wie solltest du mir die Frage danach beantworten können, warum ich dich so sehr liebe? Wo du doch selbst noch vor wenigen Tagen sagtest, dass du dir die Tiefe deiner eigenen Emotionen nicht erklären kannst.”

“Ist das wirklich wahr?” Sie hörte, dass er mit der Festigkeit seiner Stimme zu kämpfen hatte.

“So wahr ich hier stehe.”

Er stieß sich langsam vom Gestein ab, als er fast bei ihr war, sah sie die Tränen in seinem Gesicht. Als sie die letzten zwei Schritte auf ihn zutrat, schien die Zeit erneut wie angehalten. Er umfing sie mit seinen Armen, hielt ihren Kopf sanft an seiner Brust, als sie anfing unter Tränen zu beben, während seine eigenen ihren Scheitel benetzten.

“Ich wollte nicht voreilig sein, mir keine falschen Hoffnungen machen”, er lehnte die Stirn gegen ihren Kopf. “Ich wollte dir die Zeit geben, die du brauchst und dir eine Chance lassen, zu gehen. Aber ich hatte eine Gewissheit in mir, die sich von Zeit zu Zeit gemeldet hat. Mir war manchmal so, als wüsste ich bereits, was du mir heute sagen willst.”

Sie winkelte die Arme auf seiner Brust an, spürte seinen Herzschlag, während er seine Hände an ihre Wangen legte.

“Ich habe mir einmal vor längerer Zeit geschworen, dass, sollte ich jemals eine Frau so lieben wie ich dich liebe, ich mich ihr vollkommen hingebe. Dass ich mich mit all meinem Sein in ihre Hände begebe und sie schütze, was immer auch passiert.”

“Bitte lass mich nie wieder los.”

“Ich werde dich halten, so lange wie du es willst. Das verspreche ich dir.”


© MajaBerg


3 Lesern gefällt dieser Text.



Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Um deiner selbst willen"

Re: Um deiner selbst willen

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 06.05.2023 13:31 Uhr

Kommentar: Liebe Maja,
mit Interesse gelesen. Schön, wie die gefühlvollen Zeilen im Laufe der Geschichte ihre Arme ausstrecken sich gegenseitig umarmen.
Und dann auch noch ein Happy End. Obwohl das in deine Story leider etwas Standard einfließen lässt; keine Kritik, hier passt es. Weiter so.
Liebe Grüße Wolfgang

Kommentar schreiben zu "Um deiner selbst willen"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.