Am Samstagmorgen ist es um 6.30 Uhr im Wald ganz schön still. Ich mag das, wenn die Stadt weit weg und der Lärm nicht mehr hörbar ist. Wenn man ganz alleine den Waldwegen entlanggeht, ist es schon ein wenig unheimlich, man weiss ja nie. Trotzdem gibt einem die Stille des Waldes viel, auch wenn die Stille manchmal durch einen aufgescheuchten Vogel unterbrochen wird. Kurz vor 7.00 Uhr sollte man aber wieder aus dem Wald sein. Das Volk in meinem Land hat vor einem Jahr einem Gesetz zugestimmt, das allen erlaubt, jeweils am Samstagmorgen ab 7.00 Uhr eine Viertelstunde in den Wäldern so laut zu schreien, wie es nötig ist.

Als ich vor einem halben Jahr wieder an einem Samstagmorgen wegen der Stille unterwegs war, erschrak ich Punkt 7.00 Uhr, als an verschiedenen Stellen des Waldes auf einmal laute Schreie hörbar waren. Der Wald geriet ausser Kontrolle. Tiere huschten unter der Helligkeit des Mondes an mir vorbei, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ein Rudel Rehe, 2 Wildschweine, Spechte, die völlig ausser Kontrolle auf die Baumstämme hämmerten, Vögel, die im Sturzflug an mir vorbeisausten, Fledermäuse, die die Orientierung verloren hatten, sogar eine Gruppe Igel querte den Waldweg. Ich stand einfach nur still da, bewegte mich nicht, stellte mir vor, ich wäre ein Baum und wartete ab, bis es 7.15 Uhr sein würde. Dann verstummten die Schreie im Wald, eine Ruhe wie nach einem Sturm machte sich breit. Ich atmete auf.

Doch bevor ich wieder richtig in die Stille eintauchen konnte, kam mir eine Frau entgegen, die sich bald als Melanie entpuppen sollte. Melanie war nach der Scheidung jahrelang alleine gewesen, vieles hatte sich in ihr angestaut. Mit Melanie sind die Momente der Stille, aus denen ich jahrelang Kraft geschöpft hatte, endgültig vorbei.


© René Oberholzer


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