Als Vater gestorben war, luden wir nach der Beerdigung alle Trauernden ins Pfarreizentrum ein. Im grossen Gemeindesaal setzten sich die Angehörigen, Verwandten und Bekannten auf Matten, die auf dem Boden lagen, packten Taschentücher aus und weinten im Kollektiv. In der Mitte des Saals lag eine Schüssel, in die man das Gesicht tauchen konnte, wenn die Tränensäcke überreizt waren. Meine Mutter weinte am lautesten, aber auch meine Schwester stand ihr in nichts nach. Und das wirkte ansteckend über Stunden. Ab und zu standen wir auf, formierten uns zu einem Kreis, legten uns die Arme auf die Schulten und schauten in die Mitte zur Schüssel hinunter. Nach und nach verstummten die Schluchzer, versiegten die tropfenden Nasen, trockneten die Augen aus. Nach 4 Stunden gemeinsamen Trauerns sagte Mutter: «Danke, dass ihr alle hier gewesen seid. Ferdinand hätte das sehr gefreut.» Dann verabschiedeten wir uns von den Verwandten und Bekannten, rollten die Matten zusammen, leerten die Schüssel und entsorgten die Taschentücher. Nebst unserer Familie war noch Toni Gübeli dageblieben, der so alt wie Mutter war. Er schaute sie so traurig an wie damals im Sommer 61, als einige Schmetterlinge über das frisch geschnittene Gras Richtung Westen geflogen waren.


© René Oberholzer


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