„Lass mich in Ruhe, Elli!“ Jedes Mal wenn er in einem wichtigen Projekt feststeckte, kam sie in den Keller um ihn zu stören. „Ich arbeite! Kann das nicht warten?“
„Wie lange denn?“ Elli steckte ihren Kopf durch die Tür des Ateliers, das zugestellt mit Leanders Farbtöpfen, seinen Regalen und unzähligen Bilderrahmen kaum noch Platz für ihn selbst bot.
„Heute Abend!“
Elli zog ihren Kopf zurück und warf die Tür zu. Er hatte sich nicht einmal zu ihr umgedreht! Sein Blick haftete auf dem Bild, das er vor sich liegen sah.
Eben noch wusste er, welchen Strich seine Hand ausführen sollte, jetzt saß er
fragend davor, starrte es aus müden, roten Augen an und wartete darauf, das es
erneut mit ihm sprach, ihm zeigte, wo es weiterging. Genau dies war der Grund,
warum er es hasste, gestört zu werden. Seine innere Welt löste sich auf, die Bilder erzählten ihm nichts mehr. Das gedankliche Abbild zerriss und es blieb nur eine watteartige Substanz übrig. Entnervt gab er es auf. Unter Stöhnen stand er von seinem Holzschemel auf und ging die Stufen nach oben, um zu sehen, was seine Frau von ihm brauchte. Suchend sah er sich um.
„Elli?“, rief er. „Elli was ist denn?“
Sie schaute aus der Küche heraus, missmutig auf seine mit Farben verschmierten
Hände, die das Treppengeländer beschmutzten.
„Leander! Wie oft soll ich dir eigentlich sagen, dass du deine Hände abwischen
sollst?“ Er putzte sie notdürftig an seiner Hose ab, die mittlerweile mehr einem Putzlappen glich.
„Warum hast du mich denn gestört?“, fragte er gereizt. Dass er jetzt übel gelaunt vor ihr stand, ging auf ihr Konto. Sie wusste genau das er Störungen verabscheute.
„Ich gehe einkaufen. Brauchst du was?“
„Und deswegen kommst du runter und störst mich bei meiner Arbeit?“
Ungläubig sah er sie an. Dass er wegen einer so profanen Angelegenheit aus seiner Glückseligkeit gerissen, seine Projekte unterbrechen musste, war an Kurzsichtigkeit nicht zu übertreffen.
„Kaffee!“, sagte er nur, drehte sich um und stapft die Treppe wieder hinunter.
„Außerdem ist eine Glühbirne im Flur kaputt!“, rief sie ihm hinterher. „Und das Dach ist auch immer noch undicht. Wann kümmerst du dich darum?“
Ohne eine Antwort zu liefern, schlug er unten im Keller die Tür zu.

Leander aß wenig. Spürte oder hörte er während der Arbeit ein Hungergefühl,
vertröstete er es auf später. Sein knurrender Magen bekam selten Gelegenheit sich auszuruhen. Einzig der Kaffee half ihm über den Tag. Sein Körper glich mehr dem eines ausgehungerten Hundes, als der eines Menschen. Die von Haut überzogenen Knochen standen an allen Ecken und Kanten ab und verliehen seinem Gesicht groteske Züge. Die schulterlangen weißen gelockten Haare hingen strähnig und wirr herunter. Leander schlief wenig, gerade so viel wie nötig, um nicht bei der Arbeit einzuschlafen. Oft kam er mit drei Stunden am Tag aus. Seine Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Sie forderten ihn, sie drängten ihn, sie greifbar in ein Objekt zu verwandeln, welches betrachtet und für die Ewigkeit konserviert werden konnte.
Leander malte nicht nur, er schrieb auch. Nicht sehr erfolgreich, aber das war nicht wesentlich für ihn. Seinen inneren Frieden fand er durch das Manifestieren der eigenen Gedanken, diese in Form von Schrift, Bildern, Fotos und Skulpturen zu transformieren. In seinem Atelier standen und lagen ständig angefangene Arbeiten herum, die ungeduldig ausharrten, vollendet zu werden. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und las die letzten geschrieben Zeilen seines Buches. Er wartete darauf, dass es ihm mitteilte, wie es weiter ging. Wie ein Film in seinem Kopf kamen die Worte, die er nur auf Papier bannen musste. Die Figuren gaben sich ihm zu erkennen, was sie taten und wie die Geschichte sich voran entwickelte. Sie erschienen ihm plastischer als jeder reale Mensch. Dieser Prozess brachte ihm den ersehnten Frieden, eine innere Ruhe und das Glück, nachdem alle Wesen heimlich strebten. Dass die Welt dort draußen sich von seinen Werken wenig beeindruckt zeigte, interessierte ihn nicht. Er brauchte sie nicht und er brauchte ihr Geld nicht.
Seine Frau wusste darum, schon seit mehr als 30 Jahren. Wie er zu ihr gekommen
war, blieb ihm oft schleierhaft. Eines schönen Tages marschierte sie in sein Leben, ohne das er es ernsthaft würdigte. Sie kochte und hielt das Elternhaus in Ordnung. Als seine Eltern starben, blieb sie einfach. Sie lebten von dem Geld, das sie erarbeitete. Leander selbst ging früher bei einem Schmied in die Lehre, die Arbeit erledigte er aber nur ungern. Er wollte sein Leben nicht damit verschwenden, für andere gusseiserne Gartenzäune zu schmieden. Ungeduldig arbeitete er bis zum Feierabend, um seine eigenen Werke
bearbeiten zu können. Es kostete ihn von jeher viel Kraft, sich weltlichen Dingen zu widmen. Ging es um das Haus, so widmete er ihm nur wenig Zeit. Dieses verübelte ihm seinen Zeitmangel mit einem undichten Dach und bröckelndem Verputz. Auch sich vernachlässigte er. Zähne putzen, duschen, das stellten störende Alltäglichkeiten, die ihn von der eigentlichen Arbeit abhielten, dar. Seine grauen Haare und der Bart bedurften längst einer Pflege. Die ölverschmierten Hände, so empfand er, waren hingegen das Ergebnis seiner Ausdruckfähigkeit.
Sein Buch blieb heute jedoch stumm. Er legte sich auf seine Pritsche und versuchte sich zu entspannen. Seine Gedanken behinderten sich gegenseitig, da schien es ihm wenig hilfreich, sich jetzt vor ein Werk zu setzen. Er hörte seine Frau aus dem Haus gehen und schlief auf der Stelle selig ein.
Als er erwachte, stand die Sonne tief am abendlichen Horizont. Er reckte seine
müden Glieder. Sein Kopf forderte einen Kaffee. Zufrieden, weil er sich bereits mit der Tasse in der Hand vor seinem Bild stehen sah, stapfte er in die Küche. Seine Frau war nicht zu sehen. Er rief nicht nach ihr. Er brauchte jetzt seine Ruhe, um weiterarbeiten zu können.
Leander setzte Kaffeewasser auf, holte eine Tasse aus dem Schrank, nahm den
Porzellanfilter und befüllte ihn mit Filter und Kaffeepulver. Der asserkessel pfiff und er goss das heiße dampfende Wasser über das schwarze Pulver. Als er den Bläschen zusah, wie sie sich in der dunklen Brühe ausbreiten, um danach mit der Flüssigkeit abzusinken, traf es ihn wie ein Blitz. Jetzt wusste er wie sein Buch weiterging. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Der Kaffee war nicht ganz durch, als er den Filter abnahm und nach unten stürmte. Rasch. Bevor dieser wunderbare Gedanke zu verschwinden drohte, musst er ihn auf Papier bannen. So saß er viele Stunden an seiner Schreibmaschine, ließ sich von den Seiten inspirieren. Die innere Ruhe überfiel ihn, hielt ihn gefangen, umarmten ihn wie eine Geliebte.

Mit einem Mal spürte er ein dringendes Bedürfnis.
Sein Buch gab sich zudem für heute zufrieden und Leander verspürt den innigen
Wunsch nach Schlaf, zur Abwechslung in seinem Bett. Schuldbewusst sah er an sich herunter. Seine Kleidung stank, er war unrasiert und brauchte eine Dusche. Als er in die Küche kam, fand er sie verlassen vor. Auch im Garten suchte er Elli vergebens. Er schaute im ganzen Haus nach ihr. Dann ging er wieder zurück, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Der Zettel an der Verpackung ließ ihn innehalten.

"Das ist der Letzte, teile ihn dir ein. Ich bin weg."

Leander starrte auf den Zettel, seine müden ausgelaugten Gehirnzellen arbeiten nur noch sehr vereinzelt. Seine Frau hatte ihn verlassen und damit auch die weltlichen Probleme mitgenommen. Niemand würde ihn von nun an mehr anhalten, sich um profane Dinge, wie ein defektes Dach kümmern zu müssen. Freude erfasste sein Herz. Endlich ließen sie ihn in Ruhe.
Mit einem Lächeln auf den aufgesprungen Lippen, brühte er sich seinen Kaffee auf und stieg die Treppe erneut hinunter. Er überlegte seinen Lebensmittelpunkt, nun zur Gänze in den Keller zu verlegen.
Doch als er vor seinem noch unvollendeten Gemälde stand, sprach es nicht mit ihm. Stumm, unscharf und starr blickte es ihm von der Staffelei aus entgegen. Auch sein Buch teilte sich ihm nicht mit, zeigte ihm nicht, wie es weitergehen sollte. Verzweifelt bemerkte er, dass sein Glücksgefühl ihn verließ und eine dunkle klobige bleischwere Masse ihn stattdessen auszufüllen begann. Sie durchlief seine Hände, sein Herz und seine Gedanken. Er sah keine Bilder, hörte keine Worte, er empfand nur noch eine maßlose Unruhe. Die bleierne Schwere durchdrang jede Pore seines Körpers und schien aus sämtlichen Körperöffnungen zu fließen. Am Ende bemächtigte sie sich seines Augenlichtes. Blind stolperte er in seinem zugestellten Kellerloch umher.
Verzweifelt versuchte er, an einem seiner Regale Halt zu finden. Doch dieses war so überladen, das es unter Leanders Gewicht nachgab und in sich zusammenstürzte.
Die Farbdosen fielen auf den Boden und er rutschte auf ihnen aus. Mit dem
Hinterkopf voran knallte er auf seine fast fertige Steinstatue. Die dunkle Substanz kroch aus dem nun geöffneten Schädel und breitete sich auf dem Fußboden aus. Als die Ordnungshüter ein Jahr später in das Haus eindrangen, um nachzusehen, woher der Verwesungsgeruch stammte, fanden sie nur noch eine schwarze stinkende Masse, die auf dem Kellerboden klebte.


© Alexandra Friedrich


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Beschreibung des Autors zu "Ruhe"

Jeder hat seine eigene Vorstellung von Ruhe und Frieden, doch was passiert, wird man mit ihr alleine gelassen..

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Kommentare zu "Ruhe"

Re: Ruhe

Autor: Miss_Sunshine   Datum: 24.01.2012 19:56 Uhr

Kommentar: Liebe Alexandra,

ein mitreissender Text und eine gute Ideen! Ich zeichne für mein Leben gern und bin begeistert, wie du das kreative Schaffen von Leander festgehalten hast. Sehr realistisch und, jeder Künstler wird dir recht geben.
Ich mag die Kälte zwischen Leander und seiner Lebensgefährtin, man fühlt mit beiden Charakteren mit.

Schöner Schreibstil, ich mag dieses Unpersönliche (passt sehr gut zu Leander),
weiter so!

Re: Ruhe

Autor: Varia Antares   Datum: 30.04.2012 0:58 Uhr

Kommentar: Du kannst gut mit Worten umgehen.

Die Leidenschaft Leanders für seine Kunst kommt gut rüber.

Deine Geschichte zeigt, dass es nicht gut ist, sich als Künstler allzu sehr in eine Scheinwelt zu flüchten. Auch wenn uns Kreativen die selbst gestaltete Welt angenehmer erscheinen mag als die Realität, so ist sie doch künstlich im Vergleich zu dieser, ein Abbild dessen, was wir täglich fühlen und erleben.

Ohne ein Mindestmaß an Realität wird Kunst unerträglich und man verfällt dem Wahnsinn.

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