Langsam schlenderte Ann über den Spielplatz. Es waren keine anderen Kinder dort. Wen wundert es? Er war völlig marode und verdreckt von Bierflaschen und Zigarettenkippen. Ihr Arm tat noch immer weh. Vorsichtig streichelte sie sich über ihre blauen Flecken und sah dann verwundert auf den Boden. Ein Marienkäfer hatte sich verirrt und saß nun in dieser so trostlosen Welt, umgeben von grauen Wohnblöcken und traurigen Schicksalen. Zum ersten mal seit langer Zeit lächelte sie. Dieser kleiner Käfer hatte etwas so fröhliches an sich das sie zum Strahlen brachte. Dann, nach diesem kurzen Moment des Vergessens, flog der kleine Käfer wieder davon, als würde er vor diesem Ort flüchten. Sie sah ihm noch eine Weile hinterher, dann wurde ihr Blick wieder trauriger und sie schlurfte langsam in Richtung ihrer Schule, wo sie vermutlich noch mehr Schläge von ihren Mitschülern bekommen würde.

Am Nachmittag saß sie wieder, beinahe unverändert, auf ihrer kleinen Schaukel beim Spielplatz, den außer ihr keiner mehr benutzte. Ein Geräusch ließ sie kurz aufschrecken. Francisca, ein sehr schüchtern wirkendes Mädchen, hatte sich unweit von ihr auf eine der Stufen vor dem Wohnblock gesetzt. Sie sah so wunderschön aus das Ann sie den ganzen Tag hätte anstarren können. Wie bei einem Engel wehten ihre langen blonden Haare im Wind, während sie mit gesenktem Kopf auf der Stufe saß. Was hasste dieses Mädchen nur so sehr an sich? Sie kannte sie kaum, doch sie wusste das sie sehr nett war. Ihre Mutter hatte ihr das erzählt. Sie hatte ihr auch erzählt das sie Magersucht hatte. Sie sah dünn aus, das stimmt. Doch sie war dennoch so bezaubernd das Ann ihren Blick nicht abwenden konnte. Ann hasste es wenn andere traurig waren. Sie war es schließlich selbst genug, da wollte sie nicht auch noch traurige Menschen um sich haben. Gab es denn gar nichts um sie aufzumuntern?

Am Abend saß Ann gefühlte Stunden vor ihrem Schreibtisch und entwarf einen Brief. Sie hatte noch nie einen geschrieben, schon gar nicht einen so bedeutsamen. Er war für Francisca. Sie wusste selbst nicht was sie sich dabei dachte, doch sie wollte zumindest versuchen sie ein Bisschen aufzumuntern. Beim Satz „liebe Grüße...“ blieb sie stehen. Was sollte sie als Namen schreiben? Ihren eigenen? Nein, lieber nicht. Sie überlegte eine Weile, als ihr wieder der kleine Marienkäfer von heute Morgen einfiel. Lächelnd schrieb sie „Ladybug“ unter die Zeilen und faltete den Brief zusammen. Einen zweiten, kürzeren Brief hatte sie bereits vollendet und auch mit „Ladybug“ unterzeichnet. Er sollte an Jen gehen. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft das sich alleine fühlte und sich deshalb ritzte. Ann wollte sie immer ansprechen, doch sie traute sich nicht. Sie war auch viel zu jung um sich mit Jen verstehen zu können, da war sie sich sicher. Ann versuchte einst auch sich zu ritzen, doch das war nichts für sie. Es tat ihr einfach zu sehr weh. Lächelnd lief sie nach Draußen in den Flur und warf den Briefumschlag mit der Aufschrift „Jen“ in den Briefkasten ihrer Eltern. Dann huschte sie nach Draußen und klebte den anderen Umschlag an Franciscas Fahrrad.

Jen saß erstaunt in ihrem Zimmer und starrte den Briefumschlag an, als wäre er von einem anderen Stern. Wer weiß, vielleicht war er das ja auch? Hier auf Erden mochte sie wohl jedenfalls keiner, da war sie sich sicher. Sie musste viel zu oft diese demütigenden Sprüche anhören sie sei zu fett oder zu hässlich. Sie holte einmal tief Luft und öffnete dann vorsichtig den Umschlag, als wäre eine Bombe darin. Der Text war relativ lang und in kindlicher Schrift verfasst.
„Hallo Jen
Du kennst mich sicherlich nicht, ist wahrscheinlich auch besser so. Bitte höre jetzt nicht auf zu lesen, ich will dir etwas sagen. Ich weiß das du dich traurig fühlst, das du dich ritzt obwohl das so sehr weh tut. Aber egal was die anderen dir sagen: Du bist schön! Musst du denn so sein wie alle anderen um schön zu werden? Musst du schlank wie ein Model sein um schön zu werden? Nein, du musst einfach nur du selbst sein! Denn so wie du bist bist du perfekt! Wenn du jetzt nachgibst und tust was die anderen wollen haben sie gewonnen, und das dürfen sie nicht! Ich jedenfalls finde dich toll wie du bist. Bitte bleib stark. Und bitte verletz dich nicht mehr, auch wenn das schwer fällt. Denn alleine bist du nie, auch wenn du das denkst.
Liebe Grüße
Ladybug“.
Mit zitternden Händen legte Jen den Brief beiseite und blickte lächelnd aus dem Fenster. Irgendwo da Draußen war jemand der sie beachtete, sie mochte wie sie war. Und das war sicher nicht der einzigste.

Francisca schlurfte mit traurigem Blick in Richtung ihres Fahrrads, als sie verwundert stehen blieb. Hing dort etwas am Lenker? Sie lief zum Fahrrad und riss etwas unsanft den Umschlag ab. Was sollte das werden? Einer der üblichen Scherze. Ihr Name stand mit undeutlicher Schrift auf der Vorderseite, während hinten „Bitte nicht wegwerfen!“ stand. Sie lächelte kurz und setzte sich auf die Treppenstufe, um ihn zu öffnen. Nur mit Mühe konnte sie überhaupt lesen, was dort geschrieben stand.
„Liebe Francisca
Du kennst mich sicherlich nicht, aber ich habe dich schon oft gesehen. Und viel von dir gehört. Hör jetzt nicht auf zu lesen, ich will nichts schlechtes über dich sagen. Ich weiß das du Magersucht hast und meine Mama hat mir erzählt was das ist. Aber warum machst du das? Ich seh dich jeden Tag und denke mir jedes mal wie hübsch du bist. Ich wünschte ich sähe so aus wie du! Und ich bin sicher nicht die einzige die das denkt. Alle die dich schlecht machen, dich beleidigen oder gar sagen du wärst zu dick sind nur neidisch auf dich! Denn sie sind nicht so wie du. Du siehst schließlich aus wie ein Engel, das tut nicht jeder. Verändere dich nicht, denn da gibt es nichts zu verändern. Du bist perfekt. Denk daran wenn du das nächste mal vor dem Spiegel stehst! Ich zumindest werde dich immer bewundern. Und viele andere tun das bestimmt heimlich auch. Und jetzt geh besser zu Schule, du kommst sonst zu spät! :)
alles Liebe
Ladybug“.
Vorsichtig sah sich Francisca um, ob sie beobachtet wurde. Dann lächelte sie kurz, packte den Brief in ihre Tasche und fuhr mit ihrem Fahrrad den Weg entlang. Sie hatte nicht das kleine Mädchen bemerkt, das ganz oben auf dem Dach des Wohnblocks stand und sie beobachtete.

Ann sah sich um. Es war keiner da. Sie hatte geholfen, doch keiner half ihr. Ihr hatte man keinen Text geschrieben oder sich um sie gekümmert. Wenn sie jetzt einfach springen würde wäre sie alle Sorgen los. Und es würde wohl keinen stören. Sie stellte sich gerade auf die Absperrung, als etwas an ihrem Arm kitzelte. Es war ein Marienkäfer, der munter auf und ab krabbelte. Sie lächelte ihm zu und kletterte wieder zurück. Verträumt beobachtete sie das Tierchen, während es ihrem Arm hinaufkrabbelte.
„Weißt du...vielleicht ist das Leben doch nicht so schlecht wie man denkt!“. Sie hob ihren Arm, ließ den Käfer fliegen und sah ihm hinterher.
„Denn ganz verlassen ist man nie...“


© Stewart McCole


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Kommentare zu "Little Ladybug"

Re: Little Ladybug

Autor: BlackElephant   Datum: 27.01.2015 18:50 Uhr

Kommentar: Ein sehr schöner, Mut machender Text. :)

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