Sie nahm die Glühbirnen, die sie schon lange betrachtet hatte und drehte sie bedenklich im Sonnenlicht. Sie spürte das kalte Glas an ihren Lippen, bis es langsam warm wurde. Die Birne war schon längst kaputt, doch man sah es ihr nicht an. Ihre Finger schlossen sich immer enger um die dünne Glühbirne bis sie zerbrach. Wieder drückte sie die zerbrochene Glühbirne sanft gegen ihre zartrosa schimmerten Lippen. Sie verfärbten sich fließend in ein tiefes Rot, die spitzen Kanten versanken tief in ihren Lippen. Sie hoffte auf den Schmerz, Leid ertrug sie schon zu lang. Sich einzugestehen nichts mehr zu fühlen, konnte sie nicht. Es schien als teilte sich die Unterlippe entzwei, ihre Zunge glitt über die so zierlich erscheinende Wunde. Dieser bittere Geschmack nach Eisen, ließ sie denken etwas von ihrem Leben zu schmecken, etwas Vergangenes, zugleich gab es ihr das Gefühl von Sicherheit, dass es nicht lang dauern würde, wenn sie alles beenden wollen würde. Sie hatte Leben und Tod zugleich auf ihrer Zunge, in ihrem Sinne, aber nie das Jetzt. Das Blut tropfte langsam an ihrem zarten Kinn auf den trockenen Boden, jeder Tropfen prallte auf und wühlte den Staub auf, als würde es alles zerschlagen. Sie leckte sich nochmal über ihre Lippen und putzte die Glühbirne, die zerbrochene Glühbirne. Sie hätte sie einfach wegwerfen können, sie wollte sie von dem Schmutz befreien, von dem bisschen, das sie war. Sie wollte, dass nichts und niemand mit ihrem da sein konfrontiert wird. Doch ihre Wunde war ihr egal.
Sie fühlte zwar, dass dort etwas ist, aber kein Schmerz. Sie strich sich mit ihrem Zeigefinger über ihre zerkratzten Lippen. Mit ihrem langen Nagel sank sie in den tiefsten Spalt, während sie drüber streifte, sie legte ihren Mittelfinger daneben, um die Lippe ein wenig fest zu halten. Wut entbrannt und voller Überzeugung krallte sie sich in diese Wunde, sie musste lächeln.
Lachte sie, weil sie sich ein wenig lebendig fühlte, weil sie ihr Selbstmitleid nicht mehr ertrug oder über die Art wie sie mit sich und ihren Zweifel umging?
Sie dachte wahrscheinlich nichts mehr, so viele Gedanken, dass nur noch eine brummende Leere vorherrschte. Nun saß sie da. Wie immer. Nichts denkend, keine Kraft mehr für eine einzelne Träne. Starr in die Weite schauend. Sie war entstellt und keiner merkte es. Entschlossen griff sie mit beiden Händen an ihre in zweigeteilte Unterlippe, kniff die Augen zusammen und riss daran. Kein Ton gab sie von sich. Zwei blutende Hautlappen hingen an ihrem Kinn: Sie war enttäuscht, als es nicht weiter ging, nicht weiter schmerzte, sie war besessen und begeistert von dem Gedanken sich zu Häuten oder in zwei Teile zu reißen. Wie sich ihr Äußeres, die Fassade, die große Lüge von ihr wich, das Wahre entblößte. Ihre Gefasstheit... wie sie sich selbst ruinierte... zeigte, sie ist es gewohnt, sie kann es. Nicht umsonst stand eine Flasche Ethanol griffbereit. Sie wollte sich nicht von innen zerfressen lassen, das war sie schon längst, sie wollte sich zeigen. Gekonnt brachte sie die Blutung zum Stillstand, das Ethanol träufelte sie großzügig auf die Wunde. Das Brennen war für sie wie warme Sonne auf der Haut und der stechende Geruch wie blühende Blumen, denn all das nahm sie nicht mehr war. Sie schaute begeistert in den kleinen Handspiegel, wie die klaffende Wunde alles präsentierte, wie es in ihr aussah. Es war nicht schön, aber fesselnd, interessant. So einfach ihre Gedanken, so komplex sei sie. Es soll doch enden, es kann interessant enden.
Sie nahm einige lose Rasierklingen, eine legte sie behutsam auf ihre Zunge und schloss genussvoll ihren Mund, wie zur Kindeszeiten das Karamellbonbon auf der Zunge zergehen lassen. Sie brauchte den Geschmack von Blut auf ihrer Zunge, um sich konzentrieren zu können, um zu wissen... warum sie dies tat. Sie setzte eine Rasierklinge vorsichtig in der Innenseite ihres Armes 5cm unter dem Handgelenk an. Sie wollte nicht Stück für Stück in sich sehen sie wollte direkt auf den Grund stoßen, auf den Grund ihres Lebens, ihrer Hauptschlagader. Doch bevor sie sich erforschen konnte, bemerkte sie, sie wurde unvorsichtig, öffnete ihren Mund und spuckte ein Stück Fleisch, ein Stück ihrer Zunge aus, unerschrocken widmete sie sich wieder ihrem Handgelenk.
Zuerst legte sie die Sehnen und Muskulatur frei, sie kratzte förmlich alles aus. Doch mit einer Vorsicht, sie wollte die Hauptschlagader nicht verletzten, das Blut versperrte ihr die Sicht. Der Tisch, auf dem ihr Arm lag war Blut verschmiert, sie musste sich beeilen.
Nun war sie an ihrem Ziel angekommen. Da war sie, noch prall gefüllt, pochend, ihre Qual, diese Ader hält sie am Leben, so verletzlich nur ein Schnitt. Doch sie konnte nicht. Diese Entscheidung, vor dem letzten Schnitt zu stehen ließ sie wieder fühlen, sie fühlte wieder, die Augen wurden glasig, ihre Sicht verschwamm. Sie spuckte die Rasierklinge aus um schreien zu können, denn ihre Lippen brannten, ihre Zunge war nahezu betäubt vor Schmerz und an ihr Handgelenk konnte sie kaum denken. Aber nun war es so weit, sie hat es sich doch so lange Zeit gewünscht. Diese Blaue Leitung, die sie an die Hölle bindet. Sie wollte die Fassung nicht verlieren, obwohl sie wusste sie hatte sie schon längst verloren. Sie konnte es sich nicht eingestehen, wie so viel in ihrem Leben, zu lang hielt sie daran fest. Sie musste sich fangen, fangen im freien Fall. Sie schrie, denn Aggression war das einzige, das sie schon immer war, das hatte sie nie verlernt.

Plötzlich riss jemand ihre Zimmertür auf. Entsetzt rutschte sie auf ihrem Stuhl ein wenig zurück und starrte die Person an. Wer war diese Person? Sie kannte sie nicht. Sie versuchte sich zu erklären, dass es ein Unfall war, sie sich geschnitten hatte, einen Fremdkörper herausschneiden wollte, doch bevor sie sich herausreden konnte unterbrach die Person ihr hektisches Ausweichmanöver. Mit ruhigen Schritten kam sie zu ihr her und setzte sich, legte ihre Hand auf die offene Wunde und versprach ihr, dass alles gut werde.
Sie selbst sackte beruhigt in sich zusammen, als sei endlich die Person da, die sie retten sollte, auf die sie solange wartete. Sie wollte sich der fremden Person überlassen, war sie überhaupt so fremd?
Ihr Duft kam ihr so bekannt vor. Sie fühlte sich beschützt. Doch langsam schwand ihr Atem. Die fremde Person sprach weiter auf sie ein, säuberte die Wunde und nahm selbst eine dieser vielen Rasierklingen. Entsetzt schaute sie die fremde Person an, wunderte sich, wartete auf Worte.
„Ich mach das.“
Die Lider schlossen sich und sie spürte wie ihre Blaue Ader langsam durchgeschnitten wurde, wie sich der Druck minderte. Ihr wurde die Entscheidung abgenommen. Das wozu sie nie in der Lage war. Sie versank in eine Art Traum in dem sie starb, voller Scham und Missachtung, weil sie nicht einmal das beenden konnte, dass sie so plagte, sie konnte sich nicht von dem trennen, das sie am meisten zerstörte.


© Profan


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Beschreibung des Autors zu "Blut auf deiner Zunge"

Vielen Danke fürs Lesen ;D

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Kommentare zu "Blut auf deiner Zunge"

Re: Blut auf deiner Zunge

Autor: noé   Datum: 14.06.2014 8:53 Uhr

Kommentar: Ich bin von der Intensität des Gelesenen sehr beeindruckt.
Deine Kommentaraufforderung jedoch lässt mich Abstand nehmen von einer weiteren - freiwilligen - Stellungnahme.
noé

Re: Blut auf deiner Zunge

Autor: Profan   Datum: 14.06.2014 13:28 Uhr

Kommentar: oh okay :) Vielen Dank^^

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