Es war wie früher


Es war am Nachmittag des Heiligabend. Der junge Mann schmückte den Weihnachtsbaum in dem großen Wohnzimmer des Einfamilienhauses. Im Hintergrund lief der Plattenspieler mit der Musik von Bing Crosby, Liedern wie „Santa Claus“ oder „White Christmas“. Genau wie früher. Sein Vater war Englischlehrer und liebte amerikanische Weihnachtslieder. Und die wurden früher immer während des Baumschmückens gespielt.
Auch der Baumschmuck war noch der gleiche wie früher. In jedem steckte ein kleines Stück Erinnerung an die Kindheit: Da waren die zwanzig Kerzenhalter für die Wachskerzen, neunzehn vergoldet und nur einer aus Silber. An die Spitze des Baumes kam der große Strohstern. Dann war dort viel selbst gebastelter Baumschmuck: Kleine Sterne und Tannenbäume, die der junge Mann selbst als Kind gebastelt hatte, aber auch Fröbelsterne aus glitzerndem Papier, die noch älter sein mussten. Sie hatte es schon immer gegeben. Vielleicht hatte sie seine liebe Mutter einmal gebastelt, als er noch klein war. Dann waren da noch die vielen kleinen Holzfigürchen, die seine Mutter immer so geliebt hatte: Kleine Puppen mit Spielzeug, ein Schaukelpferd, eine Holzeisenbahn und kleine Engelchen. Der junge Mann achtete darauf, dass auch ja all die geliebten Figürchen, die ihm schon in seiner Kindheit so viel Freude bereitet hatten, wieder ihren Platz am Baum fanden: Der kleine Weihnachtsmann, der kleine Schneemann, der Holzengel mit der kaputten Nase. Alles sollte so sein wie früher, als er mit seiner Familie gemeinsam Weihnachten gefeiert hatte. Schließlich kamen noch bunte Weihnachtskugeln dazu - sie waren vergleichsweise neu, er konnte sich noch an Weihnachtsbäume ohne die Kugeln erinnern. Am Ende dann kam das Lametta. Der junge Mann gab sich Mühe, es seinem Vater gleich zu tun, der jeden Lamettastrang einzeln und nicht büschelweise über die Zweige gehängt hatte, auch wenn dem jungen Mann dazu eigentlich die Ruhe fehlte.
Schließlich war alles bereitet: Das Sofa an die Wand geschoben, so wie es früher immer gemacht wurde, damit mehr Platz zum Spielen im Wohnzimmer war; die Fensterbänke und Tische dekoriert, der Baum geschmückt. Der junge Mann war glücklich
Draußen fing es mittlerweile an dunkel zu werden. Der junge Mann ging durch die Straßen der kleinen Stadt Richtung Kirche. Es war ruhig geworden und es fuhren nur noch sehr wenige Autos auf den Straßen. Durch die Fenster der Einfamilienhäuser konnte man die brennenden Weihnachtsbäume und andere Weihnachtslichter sehen. Der junge Mann war kein Kirchgänger, aber heute war Heiligabend und es war seine Kirche, die Kirche, die er von klein auf kannte und die ihm vertraut war. Und es gab noch denselben Pastor, der ihn getauft und konfirmiert hatte. Der junge Mann liebte es, die alten Weihnachtslieder bei Orgelmusik zu singen. Dann fühlte er sich zurückversetzt in die Zeit der Weihnachtsfeste, als er noch ein Kind war.
Nach dem Gottesdienst trat vor der Kirche eine ältere Frau mit langem weißen Haar, eine Nachbarin, begleitet von ihrem Ehemann, zu dem jungen Mann. Ob er nicht heute am Heiligen Abend zum Essen kommen möchte, damit er Weihnachten nicht alleine feiern müsse. Der junge Mann lehnte freundlich und dankend ab, er werde dieses Weihnachten nicht alleine sein.

Nachdem er aus der Kirche zurückgegehrt war, gegen sieben Uhr abends war es dann soweit: Der lang ersehnte Besuch kam. Lächelnd und voller Freude traten seine lieben Eltern, sein Bruder und seine geliebten Großeltern in die Eingangsdiele. Der junge Mann drückte sie minutenlang vor Freude. Es war wie früher.
Sie traten gemeinsam in das Weihnachtszimmer und es gab das obligatorische „oh“ und „ah“ seiner Mutter und Großmutter beim Anblick des brennenden Tannenbaums.
Der junge Mann setzte sich ans Klavier und spielte Weihnachtslieder. Am liebsten mochte er „Oh Tannenbaum“. Beim Singen der Strophe „Die Hoffnung und Beständigkeit, gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit“ rannten ihm Tränen der Rührung über die Wange. Danach spielte er traditionell das Lieblingslied seiner Großmutter, „Am Weihnachtsbaume, die Lichter brennen“. Besonders festlich und stimmungsvoll wurde es, als „Stille Nacht“ und „O du Fröhliche“ erklangen, so wie früher.
Dann sagte sein Bruder noch ein kurzes Gedicht auf. Sein Bruder war zwar älter, aber er war behindert und geistig auf dem Stand eines zwölfjährigen Jungen. Deshalb war er immer voller Weihnachtsfreude wie ein Kind in diesem Alter.
Schließlich wurde es Zeit für die Bescherung. Der junge Mann hatte schon vor Wochen und Monaten ganz besondere Geschenke für seine Lieben besorgt, wann immer ihm im Laufe des Jahres etwas passendes unter die Augen kam. Es bereitete ihm große Freude zuzusehen, wie das Papier langsam entfernt wurde und sich seine Lieben über die Geschenke freuten. Ein Buch, eine Weihnachtskerze, ein gerahmtes Foto, einen Kalender. Für seinen Bruder gab es eine Spielzeugbahn. Die Augen blitzten wie die eines Kindes, und er machte sich sofort daran, die Bahn rund um den Tannenbaum aufzubauen und damit zu spielen. Weihnachten mit seinem behinderten, ja zurückgebliebenen Bruder war etwas ganz besonderes. Es war wie ein Kinder-Weihnachtsfest. Es war wie früher. Dem jungen Mann machte es nichts aus, dass er keine Geschenke bekam. Für ihn war es viel schöner, andere zu beschenken.
Nach der Bescherung wurde dann wie immer gegessen. Die Erwachsenen begaben sich nach nebenan ins Esszimmer, wo der junge Mann bereits die Tafel gedeckt hatte. Nur sein Bruder spielte weiter im Weihnachtszimmer, dazu lief im Hintergrund der Plattenspieler mit Weihnachtsliedern. Zum Essen gab es Karpfen mit Kartoffeln, Meerrettig und flüssiger Butter, so wie früher. Der junge Mann hatte den Vormittag genutzt, alles so weit vorzubereiten, dass es nur noch kurz erwärmt werden musste.
Für den jungen Mann war das Essen im Kreise seiner Lieben der Höhepunkt, der schönste Moment des Heiligen Abend. Lange blieben sie am Tisch sitzen, auch wenn gar nicht so viel gegessen wurde. Es wurden Geschichten von früher erzählt, sich der alten Weihnachtsfeste erinnert, Anekdoten aus den Familienannalen aufgefrischt und viel gelacht. Dabei betrachteten sie den Bruder, wie er voll zufriedener Glückseligkeit mit seiner Spielzeugbahn vor dem Tannenbaum spielte.
Endlich konnte der junge Mann sich auch mit seinem Großvater unterhalten. Sein Großvater war sehr alt und hatte bereits im Weltkriege gedient. Der junge Mann war früher zu jung, um die geschichtlichen Hintergründe zu verstehen. Nun war er erwachsen und interessierte sich sehr für die Vergangenheit. Er lauschte den Erzählungen der beiden Großeltern, ihren Geschichten vom Krieg, von Not und Vertreibung, von den schicksalsschweren Stunden des Heimatlandes im letzten Kriege. Sich hierüber noch einmal mit seinen Großeltern, besonders mit seinem Großvater zu unterhalten, noch einmal ihre Lebensgeschichte hören zu dürfen, davon hatte der junge Mann lange und voller Sehnsucht geträumt. Er sah in die liebevollen, starr blickenden Augen seiner Großmutter. Er fühlte sich wohl in dieser Runde und war im Herzen dankbar und glücklich. Es war wie früher.
Nach dem Essen gab es traditionell einen bunten Teller mit vielen Pralinen und Schokolade. Für seine Mutter hatte er extra Pfefferminz in Schokolade gekauft, dies hatte sie am Heiligen Abend immer so gerne gegessen.
Die Weihnachtspost wurde geöffnet, auch dies immer ein Moment großer Freude: Da war der traditionelle Brief von der Familie N., ganz entfernten Verwandten. Es gab jedes Jahr eine Karte mit „Ein frohes Fest“ auf der Vorderseite und „wünscht Familie N.“ im Karteninneren. Nichts weiter, kein Wort über das vergangene Jahr. Jedes Mal hatte sein Vater dann mit verzeihendem Humor die Frage gestellt, wozu diese Karte überhaupt geschrieben wurde. Und dann war da die Weihnachtskarte von seinem Onkel, die immer voller Inbrunst geschrieben wurde, und mit ebenso vielen Rechtschreibfehlern. Mit verzeihendem Schmunzeln wurde dies in jedem Jahr aufs Neue verlesen. Und dann das übliche Weihnachtspaket der entfernten Verwandten aus Übersee - immer mit ganz besonderen Spezialitäten.
Danach wurden traditionell noch einige der alten Filme mit dem Vorführapparat angesehen, die sein Großvater vor vielen Jahren gedreht hatte. Gemeinsam erinnerte man sich in Dankbarkeit der alten Zeiten. Auch wurde noch ein wenig Ferngesehen. Zum Ritual gehörten die Weihnachtsfilme „Wir sind keine Engel“ oder „Ist das Leben nicht schön“, je nach dem, was gerade gesendet wurde.
Manchmal waren sie früher noch in die Mitternachtsmesse gegangen, aber heute war es einfach zu gemütlich und zu schön, all die Lieben so nahe bei sich zu haben, als noch einmal in die Kälte hinaus zu gehen.

Um diese Zeit kam die Nachbarin mit dem langen weißen Haar von der Mitternachtsmesse zurück, begleitet von ihrem Mann und einer anderen älteren Dame. Sie blickten auf das Einfamilienhaus. Die Nachbarin sagte zu der älteren Dame: „Schade, dass der arme junge Mann heute nicht zu uns gekommen ist. Er ist immer so nett und höflich, und er tut mir so leid. Es ist traurig, dass er so alleine ist. Seine Eltern und sein Bruder sind bei einem Unfall ums Leben gekommen und seine Großeltern sind auch schon lange tot. Er ist immer so allein.“

Doch der junge Mann lag zufrieden und glücklich in seinem Bett und dachte noch einmal an den zauberhaften Abend, den er im Kreise seiner Lieben erlebt hatte. Gern hätte er seine Lieben für immer bei sich behalten. Gern hätte er ihnen noch länger zugehört, gerne noch länger mit ihnen gelacht und sich der alten Zeit erinnert. Es war ein wunderschöner Weihnachtsabend. Alles war so gewesen wie früher.

Ralf Seeck


© Ralf Seeck


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Beschreibung des Autors zu "Es war wie früher"

Eine besinnliche Weihnachtsgeschichte

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