"Schön hast du das wieder dekoriert", sagte ich zu meiner Mutter, als ich an Weihnachten den gedeckten Esstisch zu Gesicht bekam. "Danke", sagte sie, "ich bin auch schon früh aufgestanden." "Wie geht es dir?", fragte ich. "Ich habe wieder so Schmerzen, gegen das Alter kann man leider nichts machen." "Das tut mir leid", sagte ich. "Kann ich dir noch bei irgendetwas helfen?" "Nein", antwortete sie. "Schön sieht die Krippe aus", sagte ich, "du hast sie wie immer mit viel Liebe hergerichtet." Ich begann in ein paar Magazinen zu blättern, die bei meiner Mutter direkt neben dem Herd herumlagen. Als ich wieder auf den gedeckten Tisch hinüberschaute, stellte ich fest, dass ein Gedeck mehr auf dem Esstisch lag. "Hast Du noch jemanden ausser uns eingeladen?" "Nein", antwortete sie. "Ist das Gedeck für Jesus, wie das in Polen der Brauch ist?", fragte ich. "Nein", antwortete sie. "Ist es für einen unerwarteten Gast?" "Nein", sagte sie, "dieses Gedeck ist für euren verstorbenen Vater."


© René Oberholzer


0 Lesern gefällt dieser Text.




Kommentare zu "Der unerwartete Gast"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der unerwartete Gast"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.