1. Kapitel

Es war einmal an einem kalten Dezembertag im eisigen Norwegen, als die Kälte klirrte und der Frost die Regentonne neben dem, aus kräftigem Holz gebauten, Blockhaus zufrieren ließ. Ein kleines Mädchen stand am Fenster in der warmen Stube und schaute hinaus. Die Stube war gediegen und niedrig, das Herz des alten Hauses. In der Ecke brannte warm der Kamin, vor dem Tischchen, Sessel und Sofa standen. Und der Duft von frischen Brötchen, welche die Mutter gerade buk, duftete aus der Küche herüber. Das Mädchen mochte vielleicht fünf oder sechs Jahre alt sein. Leicht auf den Zehenspitzen stehend, die kleinen Arme auf die breite hölzerne Fensterbank gestützt, schaute sie hinaus, die blauen Kinderaugen erwartungsvoll in die Ferne gerichtet. Ihre Apfelwangen glühten vor Eifer. Die Füßchen streckten sich noch etwas weiter und sie beugte sich vor um vielleicht einen Blick zu erhaschen. Draußen war es still. Wann kam der Schnee? Jedes Jahr wartete sie auf ihn, wartete, dass sich die kahle weite Landschaft weiß färbte. Wann kam er nur endlich? Sie träumte von den watteweichen Flocken, die herabschweben, die Erde bedecken und die abgeschiedene Gegend in eine weiße Traumlandschaft voller Kristalle und Luftschlösser verwandeln würden. Schon lange sehnte sie sich danach, denn sie liebte den Schnee über alles. Früher hatte Mams sie mit ihrem Bettchen ans Fenster gestellt, als sie noch zu klein war alleine hinauszuschauen. Sie hatte so gerne gesehen wie die dicken weißen Flocken am Fenster vorbeirauschten. Doch nun hatte es schon mehrere Jahre keinen Schnee gegeben.

Ihre Mutter summt beim Backen. „Mami backt eh am besten“, denkt sie. Der himmlische Duft lockt die anderen Kinder herbei, Kinderstimmen erschallen laut in der Küche. Lieschen erschrickt, als sie plötzlich aus ihren Träumen gerissen wird. Ihr Bruder Jonas schlendert ins Zimmer, ein frisches Brötchen in der Hand. „Na “, fragt er seine kleine Schwester kauend, „Was machst du da?“ „Man spricht nicht mit vollem Mund!“, sagt Lieschen vorwurfsvoll. „Ach du“, erwidert er. „So klein und schon soooooo weise.“ „Ha, ha, witzig“, entgegnet Lieschen, „wenn du Augen im Kopf hättest, würdest du sehen, dass ich aus dem Fenster geschaut habe.“ Sie wendet sich ab.

Ihre neunjährige Schwester Marie kommt in die Stube. Sie hat die letzten Worte mitgehört. „He! Lass sie doch!“, sagt sie tadelnd zu Jonas. „Das war aber nicht die richtige Antwort“, beschwert er sich scherzhaft. „Sie wartet auf den Schnee“, sagt Mariechen seufzend. „Wie jedes Jahr“, ergänzt Torben, der Älteste, der soeben die Stube betreten hat, die Haare voller Sägemehl. Er hält ebenfalls eines von Mams leckeren Brötchen in der Hand. „Ich mach´ Pause. Willst du auch eins?“, fragt er Lieschen und hält ihr ein zweites Brötchen hin. Doch bevor sie antworten kann, funkt Jonas dazwischen: „Nee, sie ist doch mit Warten beschäftigt.“ Er grinst. „Wie blöde, wo doch jeder weiß, dass es dieses Jahr eh wieder keinen Schnee geben wird.“ Da laufen Lieschen auf einmal Tränen in die Augen und sie läuft weg. „Toll hast du das gemacht“, schimpft Marie, „so einfach ihre Hoffnungen zu zerstören!“ Sie ist empört. Jonas zeigt wenig Reue. „Aber das ist doch logisch!“, verteidigt er sich. „Man merkt doch, dass du erst zwölf bist“, meint Torben zustimmend. Dann geht er wieder, denn er muss das Holz weiter machen.

Lieschen läuft zu ihrer Mutter in die Küche. „Mami?“, ruft sie weinerlich. „Ja mein Schatz?“ Ihre Mutter steht an der Arbeitsfläche und hat soeben das letzte Blech mit Brötchen in den Ofen geschoben. Sie trägt immer ihre lange hellblaue Schürze beim Backen. Jetzt dreht sie sich zur Seite, sieht Lieschens Gesicht, kniet sich hin und nimmt sie in die Arme. „Na, was hast du denn?“, fragt sie sanft. „Jonas hat gesagt, dass es keinen Schnee mehr gibt. Stimmt das?“ Lieschen sitzt ein dicker Kloß im Hals. „Nein das stimmt ganz und gar nicht. Dein Bruder hat wohl mal wieder Unsinn verzapft. Es schneit ganz bestimmt bald“, sagt Mama tröstend und wischt ihr behutsam die Tränen vom Gesicht. Daraufhin läuft Lieschen wieder zum Fenster in der Stube und wartet. Sie wartet während ihre Mutter das Haus sauber macht. Und sie wartet auch noch, als ihre Mutter abends im Fenster eine Kerze anzündet. „Für all die Leute“, sagt sie immer. Doch Lieschen weiß es besser. Vor drei Jahren ist Daddi, ihr Vater, zu einer langen Reise aufgebrochen.

Er hatte als Händler in dem einzigen, etwas entfernten, Dorf gearbeitet. Er verdiente aber immer weniger, weil die meisten Leute aus der einsamen Gegend wegzogen. Als er dann ein Angebot von einem Reisenden bekam, musste er aufbrechen. Seitdem hatte Mama alleine auf die Familie aufgepasst. Ein Jahr später kam ein Bote, welcher der Familie mitteilte, dass ihr Vater verschollen sei und wahrscheinlich nie mehr zurück kommen würde. Torben hatte es ihr einmal erzählt, aber Lieschen wollte es nicht glauben. Obwohl Mams sehr traurig war, blieb ihre Liebe ungebrochen und sie kümmerte sich mit Herz und Güte um ihre Kinder, wie seit jeher. Nur etwas einsamer war es seitdem draußen auf dem Land geworden.
Eines Tages, ja eines Tages würde ihr Vater zurückkommen, daran glaubt sie fest.

„Lieschen!“ Erschrocken dreht die Kleine sich um. Sie steht immer noch am Fenster. Draußen ist es längst dunkel. „Komm“, ruft Mutter leicht vorwurfsvoll. „Es ist schon spät und du musst jetzt ins Bett. Die anderen schlafen schon.“ Lieschen sagt nichts, steht mit hängenden Armen da und guckt ganz traurig. Da nimmt Mutti sie in die Arme und trägt sie rüber ins Schlafzimmer. Währenddessen murmelt Lieschen leise: „Aber ich muss doch noch auf den Schnee warten. Mami, warum kommt er nicht?“ Mams streicht ihr beruhigend übers Haar und bringt sie zu Bett. Dann setzt sie sich an ihre Bettkante und erzählt mit leiser Stimme, um die anderen nicht zu wecken: „Der Schnee kommt nun nicht mehr jedes Jahr, wie es früher einmal war. Er kommt nur, wenn es kalt genug ist, denn nur so mag er es. Aber auf der Erde ist es mit der Zeit wärmer geworden, und so mag der Schnee nicht jedes Jahr zu uns kommen.“ „Ich möchte aber so gerne, dass er kommt“, flüstert Lieschen. „Dieses Jahr wird er bestimmt kommen“, tröstet Mams. „Und nun schlaf´ gut, mein Liebes “, sagt sie und steckt Lieschens Bettdecke zurecht. Und Lieschen fallen vor lauter Müdigkeit die Augen zu, so lange hat sie gewartet. Der Mond steht einsam am Himmel und scheint durch das Fenster lächelnd auf das schlummernde kleine Mädchen hinab. In der Ferne hallt die Glocke der kleinen Kirche des Dörfchens von weither über die kahle Landschaft.

2. Kapitel

Mitten in der Nacht wachte Lieschen plötzlich auf. Da draußen war ein Geräusch. Stapfende Schritte? Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, schob die dicke Bettdecke zurück und suchte mit ihren kleinen Füßen den Boden. Sich langsam durch die Dunkelheit tastend, ging sie zum Fenster. Draußen ums Haus war es still, nur das leise Brausen des Windes in der Ferne war zu hören. Angestrengt versuchte sie draußen etwas zu erkennen. Da schien etwas Weißes zu verschwinden. Ja, da war etwas, etwas Helles. Schnell lief sie zum anderen Fenster. War der Schnee dort? War er hier gewesen und wollte sie besuchen, aber sie hatte es nicht bemerkt? Sie musste ihm doch sagen, wie sehr sie ihn vermisste, ihn bitten zurückzukommen. Und die weißen dichten Flocken, die vom Himmel fielen, die vermisste sie auch so. „Bleib hier, Herr Schnee. Wir brauchen dich doch!“, flüsterte Lieschen angestrengt, doch er schien sie nicht zu hören. So beschloss sie ihm zu folgen. Sie zog ihren dicken Wollpullover an, den Parka darüber und die kleinen Pelzstiefel an die Füße. Wenn der Schnee sie nicht besuchte, sprach ihrer Meinung nach nichts dagegen, ihn einmal zu besuchen. Sie zog noch ihre Mütze über und schlich aus dem Haus. Es war ziemlich dunkel, doch der Mond schien zwischen den Wolken und verteilte sein fahles Licht auf der flachen Landschaft. Der Wind wehte sanft. Beruhigt stapfte sie los. Doch bald wurde der Wind stärker, er pustete und brauste, wehte Hagelkörner mit sich fort. Er pfiff wie toll ums Haus, doch keiner der älteren Geschwister wachte auf. Bald darauf schwand die Silhouette ihrer kleinen Gestalt im dichten Nebel.

Jonas dreht sich beunruhigt im Schlaf herum. Er schwitzt ein bisschen. Eine Haartolle fällt ihm in die Stirn.

Die Kleine lief weiter und immer weiter. Sie wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Doch sobald sie etwas näher herankam, entfernte sich das helle Licht weiter. Der Wind wurde immer stärker, je weiter sie ging. Wenige Stunden später taumelte sie im brausenden Tosen des Sturms hin und her. Lieschen wurde ganz kalt und sie fing an zu zittern. Sie konnte kaum noch etwas erkennen und kam nur noch langsam voran, aber sie gab nicht auf. Obwohl der Sturm stark war und Hagelkörner peitschend hin und her wirbelte, ging sie weiter. Sie hatte Mühe gegen die heftigen Böen anzukämpfen. Plötzlich stieß sie mit dem Kopf gegen einen Eisblock, der wie mitten aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war. Ihr wurde schwindelig, der Boden kam ihr entgegen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Die Zeit schien still zu stehen.

Als sie wieder aufwachte, hatte der Sturm sich gelegt. Die Landschaft war ganz weiß, strahlend weiß der Himmel und der Boden. Aber es war kein Schnee. Sie befand sich auf einer glatten und völlig leeren weißen Ebene. Der Horizont endete scheinbar im Nichts und Nebel. Lieschen war nicht mehr kalt. Tatsächlich war ihr ganz warm. Verwirrt schaute sie sich um. Wo war nur der Eisblock hin, der vorhin so unerwartet aufgetaucht war? Sie hatte keine Ahnung mehr, wo sie war. Sie streckte die Hände nach dem Boden aus. Es fühlte sich so hart an wie Eis, aber er war nicht kalt. Seltsam. Unentschlossen wo sie hingehen sollte, ging sie ein paar Schritte. Wo war denn der Schnee nur? Der Wunsch ihn wiederzusehen, brannte so stark in ihr, dass er sie von innen wärmte. Sie sah in den Himmel. Und dann auf einmal sah sie etwas, das sich aus dem eintönigen Weiß herauslöste und glitzernd zu ihr herabschwebte. Lieschen streckte die Hände aus und schaute erstaunt zu, wie die größte Schneeflocke, die sie je gesehen hatte, sich flauschig auf ihren Armen niederließ. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie auf die riesige weiche Flocke in ihren Händen. Sie fühlte sich an, als hätte sie Watte in den Händen und war geformt wie ein Eiskristall, und wie sie funkelte! Wo sie nur herkam? Lieschen ging weiter. Als sie ein Weilchen guten Mutes gegangen war, erblickte sie im Nebel einen riesigen Torbogen, welcher heller war als die Umgebung. Ihre Augen suchten ein Gebäude oder Ähnliches, zu dem der große Bogen gehören mochte, doch sie konnte nichts finden. Vorsichtig ging sie näher heran. Das Innere im Torbogen schien zu leuchten. Es zog sie magisch an. Schüchtern und zugleich neugierig, die große Schneeflocke in ihren Armen, trat Lieschen durch den weiten weißen Bogen.

Für einen Moment sah sie nichts als ein weißes Strahlen um sich. Dann auf einmal fand sie sich in einer riesigen himmlischen Halle wieder, deren Wände, Säulen und die Deckenbögen scheinbar aus Eis waren. Alles war von strahlendem Schneeweiß und durchzogen von eisigem Blau. Unzählige funkelnde Treppen zogen sich durch den vorderen Teil der Halle und an den Wänden entlang. Sie führten zu hunderten elegant geformten Türen und Höhleneingängen, mit Eiszapfen verziert. Mit staunenden Augen ging sie andächtig über den marmornen eisblauen Boden.
„Hallo?“ rief sie schüchtern. Niemand antwortete. Sie rief nochmal und ihre Stimme hallte von den Wänden wieder. Da klingelte ein Zwitschern durch die Luft und ein kleiner blauer Vogel landete unweit von Lieschen auf einem Treppengeländer. Er pfiff und bedeutete ihr mit einer fedrigen Geste ihm zu folgen. So flatterte er aufgeregt vor ihr her. Sie kamen zu einem Tor an der Seite der Halle. Als Lieschen hindurchging, war der blaue Vogel verschwunden. Sie blickte in einen Saal, in dem eine lange Tafel aufgebaut war, welche gänzlich aus Eis bestand und lange Eiszapfen bildeten die Tischbeine. Darauf standen mehrere Flaschen, die eine saphirblaue Flüssigkeit zu enthalten schienen und einige silberne Kelche. Um die Tafel herum standen Stühle wie Eisskulpturen, mit hohen, spitz zulaufenden Lehnen, von glitzernden Schneeflocken geschmückt.
Daran versammelt hatten sich einige exotische Persönlichkeiten, die in eine Unterhaltung vertieft waren. Manche von ihnen trugen Umhänge aus fließenden Stoffen, andere dicke Pelze über ihren langen Gewändern. Lieschen am nächsten saß eine wunderschöne Dame in einem traumhaften Kleid, welches ganz weiß war und mit vielen glitzernden Schneeflocken verziert. Um ihre Schultern lag ein weißer Pelzmantel. Auf dem Kopf trug sie einen schmalen silbernen Reif, der ihr langes weißes Haar zusammenhielt, das in Wellen um ihre Schultern tanzte. Außerdem war auch ihre Haut ziemlich hell, so wie die der meisten Anwesenden, außer einem Herr am Kopf der Tafel. Dieser war komplett in einen gerade herunterhängenden, stahlgrauen Kapuzenumhang gehüllt, der sein Gesicht zur Hälfte verdeckte. Es sah aus, als wäre es aus Stein gemeißelt.
Da machte ein Zwitschern die übrige Tischgesellschaft auf den Neuankömmling aufmerksam. Der blaue Vogel war wieder da. Lieschen sah, wie er über den Tisch schwebte. Eine rundliche Dame mit duftiger Frisur, deren Kleid sehr dick und fluffig war und komplett aus einer Art plüschigen Watte zu bestehen schien, sowie der Herr rechts von ihr, in einem langen Gewand in eisblau und weiß, über dessen Rücken sein glattes weißes Haar fiel, wandten sich nun ebenfalls um. Einen Moment herrschte Stille. „Oh, ein Mensch!“, zwitscherte eine Frau, die anmutig geformte Blätter in zartem Hellgrün auf ihrem blass lavendelfarbenen Kleid trug. Über ihren Schultern lag ein dicker fuchsroter Pelzumhang und ihr Haar war von einem hellen Goldblond. Dann stand die Frau im Schneeflockenkleid auf und schwebte zu Lieschen herüber. „Hallo Lisa,“ sagte sie freundlich, „wir haben dich schon erwartet.“ Die Gesellschaft lächelte ihr zu und der Frau im wolkigen Kleid stand sogar der Mund offen vor Staunen, wie ein O. Ausgenommen mal der Herr in Grau, der machte ein grantiges Gesicht. Lieschen grüßte leise zurück.

„Ich bin Frau Schneeflocke“, stellte die Dame sich vor. „Dann gehört das bestimmt Ihnen“, meinte Lieschen und reichte ihr die große Flocke in ihren Armen. „Ja. Danke, dass du sie mir zurückgebracht hast.“ Sie lächelte einladend und stellte dann die Übrigen vor. „Das ist Frau Wolke,“ sie deutete auf die Frau im bauschigen Kleid, „Rechts von ihr sitzt Herr Eiszapfen“, der Herr im eisblauen Gewand neigte würdevoll den Kopf, „Dies ist Frau Frühling,“ die Frau, die vorhin gezwitschert hatte, lächelte Lieschen freundlich an, „aber sie ist nur zu Gast hier. Und der Herr am Ende der Tafel ist Herr Frost“, beendete sie die Runde. Lieschen nickte zu jedem, als hätte sie sich das schon so gedacht. „Also,“ überlegte die Dame, „nach der langen Reise bist du bestimmt hungrig und müde. Setz dich doch zu uns.“ Da fiel Lieschen auf, dass ein Platz an der Tafel leer war. „Wo ist denn Herr Schnee?“, fragte sie. „Der ist leider verreist“, sagte Frau Schneeflocke. „Er wollte unsere Runde für eine Weile verlassen.“ Sie klang traurig. „Aber so lange er weg ist, darfst du ruhig auf seinem Platz sitzen.“ Ein wenig betrübt setzte Lieschen sich an die Tafel.
„Na, mach dir keine Sorgen, er wird schon wiederkommen“, sagte Frau Schneeflocke beruhigend. „Jetzt bekommst du erst mal was zur Stärkung, dann sehen wir weiter.“
Frau Frühling war zwischendrin aufgestanden und hatte Teller mit Obst und Brot geholt, die sie nun vor Lieschen auf den Tisch stellte. Dazu servierte sie ein warmes karminrotes Getränk, das nach Beeren schmeckte. Nachdem Lieschen satt war und sich rund herum wohlfühlte, redeten sie wieder über Herr Schnee. „Diese ganze Sache ist nicht so einfach“, seufzte Frau Wolke. „Ja, Herr Schnee kommt immer seltener in unsere Runde zurück“, stimmte Herr Eiszapfen zu. „Der ist sich zu fein dazu seine Heimat zu besuchen. Der schneit lieber woanders“, grummelte Herr Frost. „Jetzt verzapf´ doch nicht so einen Unsinn!“, tadelte Frau Schneeflocke ihn. „Er hat seine Gründe, das er sich lieber woanders aufhält.“ „Aber ohne ihn könnt ihr es doch nicht schneien lassen“ meinte Lieschen traurig. „Das stimmt“, bestätigte Frau Wolke. „Aber du kannst uns helfen“, sagte Frau Schneeflocke. „Ja?“ fragte Lieschen zweifelnd. „Du kannst uns helfen ihn zurückzuholen.“ „Kann sie?“ murmelte Herr Frost dazwischen. „Ruhe jetzt!“ Frau Schneeflocke blickte in die Runde, „Herr Schnee wird zurückkommen, wenn er spürt, wie sehr sich die Menschenkinder das wünschen. Deine Liebe, Lisa, ist besonders groß. Und da du alles dafür tun würdest, damit es wieder schneit, kannst nur du Herrn Schnee überreden heimzukehren. Wenn er deine Sehnsucht spürt, wird das sein Herz für alle Kinder erwärmen.“

Mit großen Augen blickte Lieschen zu der gütigen Frau auf. „Wird es tatsächlich wieder schneien?“ Frau Schneeflocke nickte. „Ja mein Kind“, beantwortete Frau Wolke die Frage. „Aber nun ist es schon spät und du bist sehr müde. Komm, ich zeig dir ein weiches Bett, wo du schlafen kannst.“ Sie stand auf, wobei sie kurz Mühe hatte mit ihrem dicken Kleid zwischen den Stühlen hindurch zu gehen, nahm Lieschen bei der Hand und führte sie zu einem gemütlichen Zimmerchen. In dessen Nische stand das weichste und schönste Bettchen, dass Lieschen je gesehen hatte. Und so fiel sie gleich in tiefen Schlummer.

3. Kapitel

Als sie am nächsten Morgen durch das Gezwitscher des kleinen blauen Vogels geweckt wurde, konnte sie sich nur noch schwach daran erinnern, wie Frau Wolke sie durch zahllose lange Gänge und über viele der funkelnden Treppen geführt hatte. Langsam stand Lieschen auf und blickte sich um. Eigentlich wollte sie gar nicht aus dem Bett, so schön weich und bequem war es. Es lag schon ein wunderschönes Kleid und ein dazu passendes Pelzmäntelchen für sie bereit. Sie folgte dem Vogel, der schon die ganze Zeit aufgeregt zwitschernd um ihren Kopf herumgeflogen war. In einem großen Saal warteten die anderen bereits. Sie hatten einen großen Kreis gebildet, in dessen Mitte ein Eisblock stand. Frau Schneeflocke streckte ihre Hand aus und nahm Lieschen bei der Hand. Bescheiden trat sie in die Lücke zwischen Frau Schneeflocke und Frau Wolke. Alle reichten sich einig die Hände und schlossen konzentriert die Augen. Lieschen konnte die Kälte des Eises um sie herum spüren, doch sie spürte auch die Wärme, die durch die Arme der Anwesenden von einem zum anderen floss, wie durch eine Perlenkette. Lieschen konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihre Sehnsucht und schickte sie wie einen brennenden Strahl aus Feuer zum Himmel. Die in der Runde versammelten Herrschaften bündelten ihre Kräfte und riefen den Schnee mit einem breiten Strom aus kühlem Wind, der Lieschens Liebe wie ein Geist umwirbelte und sie weit in die Ferne trug.
Ein mächtiger Energiestrom floss durch den Kreis und Lieschen konnte spüren wie ein Schauder über ihren Rücken ging. Sie öffnete die Augen und sah, dass der Eisblock hell aufleuchtete und einen blendend weißen Lichtstrahl in den Himmel schickte. Die Herren und Damen im Kreis umgab ebenfalls ein leuchtender Schein. Es war so hell im Saal, dass sie die Augen schnell wieder schloss. Ein Flirren erfüllte die Luft. Sie ließen den Lichtstrahl zum Himmel schweben. Dann schwand die blendende Helligkeit und alle öffneten die Augen. Einen Augenblick war es still, dann erfüllte ein sanfter Wind, der aus dem Nichts zu kommen schien, den Saal und spielte mit Lieschens Haaren. Frau Schneeflocke lächelte ihr zu. Sie lösten die Hände voneinander und Herr Eiszapfen sagte leise, dass es vollbracht sei.

Die Herrschaften begaben sich an die Tafel. Sie schienen etwas erschöpft zu sein. Auch Lieschen war müde, sie war sogar sehr müde. Es war sehr anstrengend gewesen. Und nachdem sie etwas von dem wärmenden Beerengetränk getrunken hatte, fielen ihr fast die Augen zu. Frau Wolke tippte Lieschen sachte an und sagte: „Komm mein Kind, du musst dich ein wenig ausruhen. Außerdem wird es langsam Zeit sich zu verabschieden.“ „Ich muss schon gehen?“ fragte Lieschen gähnend. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war. „Jawohl. Schließlich möchtest du bestimmt wieder nach Hause. Aber keine Angst, du musst nicht laufen. Wenn du morgen aufwachst, wirst du wieder Zuhause sein. “ „Wir alle möchten dir unseren Dank aussprechen“, sagte Frau Schneeflocke. „Werde ich euch dann vergessen?“, fragte Lieschen etwas bestürzt. „Nein, mein Schatz. Du wirst dich an uns erinnern, als hättest du einen schönen Traum geträumt.“ Und nachdem Lieschen sich von allen verabschiedet hatte, brachte Frau Wolke sie zu Bett. „Nun schlaf´ gut.“ „Und der Schnee?“, fragte Lieschen. „Wir werden seine Antwort morgen erhalten“, erwiderte Frau Wolke.

Lieschen schloss die Augen und schlief ein. Im Traum schwebte sie in luftigen Höhen über ein riesiges Schloss aus Eis, einen tiefblauen See und über eine weite weiße Landschaft hinweg, zurück nach Hause. Und es war so schön, dass Tränen der Freude über ihr Gesicht liefen. Sie träumte, sie könnte fliegen.

4. Kapitel

Als Lieschen am nächsten Morgen aufwachte, war sie wieder zu Hause in ihrem kleinen warmen Bett, kuschelte sich noch tiefer in die Decken und erinnerte sich an einen wunderschönen Traum, in dem sie zu einem Schloss aus Eis gereist war um nach Herrn Schnee zu suchen.

Während sie noch so döst, fällt ihr auf einmal etwas ein und plötzlich ist sie hellwach. Aufgeregt springt sie aus dem Bett und läuft in die Stube. Und da, vor dem Fenster tanzen Schneeflocken und es schneit kräftig. Die ganze Landschaft ist weiß bedeckt. Einen feierlichen Augenblick lang bleibt sie andächtig stehen. Dann saust sie ins Schlafzimmer zurück und weckt ihre Geschwister. „Aufstehen!“ „Los! Alle raus, guckt doch mal!“, ruft sie, hüpft wie wild durchs Zimmer und schmeißt einige Sachen um. „Hä?“, macht Torben, der als erster von dem Krach seiner kleinen Schwester aufwacht und blinzelt verschlafen ins helle Morgenlicht. Da die anderen einfach weiterschlafen, geht Lieschen schließlich von einem zum anderen und rüttelt sie alle wach. „Kommt, ihr müsst das sehen!“ „He!“ beschwert sich Jonas grummelnd über diese unsanfte Art des Weckens und dreht sich schimpfend weg. Auch Marie macht ihrem Ärger laut Luft, denn sie wollte ausschlafen. Dann aber fällt ihr der einzige Grund ein, warum Lieschen so aufgeregt sein könnte. Rasch steht sie auf und tappt im Nachthemd zum Fenster um selbst nachzusehen. Staunend steht sie da und kriegt den Mund nicht mehr zu. Während Torben, immer noch im Bett, laut dazwischen gähnt: „Was is´ eigentlich los?“

So viel Getöse bleibt natürlich nicht unbemerkt. Kurz darauf kommt die Mutter ins Schlafzimmer, „Was ist denn hier für ein Radau?“ „Mami“, ruft Lieschen und fällt ihrer Mutter in die Arme. „Mami, es hat geschneit, bitte Mami, kann ich raus gehen?“ Sie ist ganz aus dem Häuschen. „Tatsächlich mein Schatz?“ Jetzt wirft auch Mams einen Blick aus dem Fenster und verfällt in großes Staunen vor dem heftigen Schneegestöber da draußen. „Ich hab´s dir ja gesagt“, meint sie leise, „dieses Jahr kommt der Schnee bestimmt.“

Gleich nach dem Frühstück stürzen die Kinder nach draußen in den Schnee. Lieschen läuft, sich drehend und springend, durch die weite weiße Landschaft und malt Fußspuren in den Schnee, der im Sonnenschein glitzert. Der Himmel ist strahlend blau hinter der Wintersonne. Marie und Torben bauen einen Schneemann. Und Jonas formt Schneebälle und versucht die anderen abzutreffen. Mams beobachtet die Kinder vom Küchenfenster aus, wie sie vor dem Haus spielen. Kinderlachen dringt durch die Fenster herein und ab und zu ertönt ein dumpfes Plong, wenn Jonas mit einem Schneeball die Hauswand getroffen hat.

Es war Weihnachten.


© Robert Lier.scripts


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Kommentare zu "Das Märchen vom verlorenen Schnee (Vers. B)"

Re: Das Märchen vom verlorenen Schnee (Vers. B)

Autor: Sandro N   Datum: 13.01.2018 20:21 Uhr

Kommentar: Lieber Robert,
Schon lange hab ich mich schon auf diese Version der Geschichte gefreut.
Und ich muss sagen: Sie ist mindestens genauso gut geworden wie die davor. Vielleicht nicht ganz so dramatisch, aber dafür schön.
Wobei ich mich nicht so ganz entscheiden kann, welche mir besser gefällt. Die erste war sehr herzergreifend, die zweite hat ein Happy End....
Ich finde es gut, dass du zwei Enden geschrieben und hochgeladen hast, so kann jeder für sich entscheiden, wie die Geschichte endet.
Das hab ich letztes Jahr bei einem meiner Gedichte auch gemacht.

Alles in allem eine äußerst gelungene Geschichte.
Ich hab beide Versionen gelesen und sie haben mir beide sehr gefallen.
Danke für dieses Lesevergnügen!
Gruß, Sandro

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