"Warum werd ich so bestraft,
Mit zwei Wochen Einzelhaft?
Womit hab ich das verdient,
Dass ich an Weihnachten alleine bin?"

Am 23. Dezember kritzelte Sandra diese Worte in ihr Notizbuch. Sie hatte ein komplettes Gedicht schreiben wollen, aber mehr fiel ihr zu diesem Thema nicht ein. Die Trauer war so groß, dass sie sich wie betäubt fühlte und unfähig, zu schreiben.

Wie jedes Jahr im Dezember waren Sandras Freundinnen zu ihren Familien gefahren. Zwei Wochen lang würden sie nicht an Sandra denken und ihr nicht einmal eine weihnachtliche SMS senden, geschweige denn eine Karte.

Ihre Familie hatte Sandra nie gewollt. Sie war kein Wunschkind gewesen und lebte, seit sie mit 18 aus dem Heim gekommen war, allein in der Anonymität einer Großstadt.

Auch der Verlag hatte über Weihnachten geschlossen. Nicht einmal Sandras Arbeitskraft war gefragt – jedenfalls nicht in den Weihnachtsferien. Das restliche Jahr über gab man der fleißigen Schriftstellerin durchaus das Gefühl, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein.

Aber über Weihnachten war es stets, als wäre sie plötzlich unsichtbar geworden oder vom Erdboben verschwunden. Es war, als käme sie einmal im Jahr für zwei Wochen in Einzelhaft.

Bisher hatte Sandra über die Feiertage immer ihr Handy und ihren PC abgestellt, damit sie nicht sah, dass ihr niemand schrieb. Ihre Wohnungsklingel hatte sie auch deaktiviert und für gewöhnlich zwei Wochen nichts gegessen. Stattdessen waren Weinen und das Hören trauriger Musik ihre alljährliche Feiertagsbeschäftigung gewesen.

Dieses Jahr sollte jedoch alles anders kommen.

Sandra klammerte sich weinend an ihren Füller. Die Tränen kullerten auf das Papier, sodass die Worte verschwammen. Die Verse, die die Autorin gedichtet hatte, wurden erst zu unleserlichem Kauderwelsch, und dann sah es aus, als stünde da etwas anderes:

"Warum werd ich so belohnt,
Mit Freude, die hier wohnt?
Womit hab ich das verdient,
Dass meine Familie mich liebt?"

Überrascht betrachtete Sandra das Blatt, auf dem sich ein völlig neuer Text gebildet hatte. Die Wörter "Familie" und "liebt" im selben Satz zu lesen, war äußerst ungewohnt für die verstoßene Tochter. Nichtsdestotrotz ließ sie den Text so. Sie würde ihn in das Manuskript für ihren nächsten Gedichtband einfügen, denn die Leser mochten derartigen Kitsch.

Jetzt wollte sie aber zunächst einen kleinen Spaziergang machen. Sie würde in den Wald gehen, wo sie nichts von dem ganzen Weihnachts- und Familiengedöns mitbekäme, das ihr alljährlich auf die Nerven ging. Eilig schnürte sie ihre dicken Winterstiefel und hüllte sich in Jacke, Schal und Mütze. Dazu trug sie die schwarzen Handschuhe, die ihre Mutter ihr gestrickt hatte, als sie sie einmal im Jugendwohnheim besucht hatte. Warum hatte ihre Mutter ihr eigentlich Handschuhe geschenkt?

Draußen sog Sandra gierig die kalte Luft in ihre Lungen. Die Kälte betäubte den seelischen Schmerz, den die Einsamkeit in ihr ausgelöst hatte. Sie rieb sich die Hände und marschierte flotten Schrittes durch den verschneiten Wald. Zuerst begegnete ihr niemand. Dann aber fielen ihr andere Spaziergänger und ein paar wild entschlossene Jogger auf, die den Temperaturen trotzten. Hatten die auch keine Familie, oder waren sie ernsthaft freiwillig hier draußen?

Weiter stapfte sie durch den Schnee. Es wurde immer später, und die Sonne war einem sichelförmigen Mond gewichen, der nur wenig Licht spendete. Sollte sie zurück nach Hause gehen? Nein, beschloss sie, zu Hause wäre ihr nur bewusst, wie allein sie war. Hier im Wald konnte sie die Natur genießen und ihre sorgenvollen Gedanken einfach ausblenden. Also straffte sie die Schultern und ging energisch weiter.

Auf einmal fühlte sie einen dumpfen Schmerz, der ihren gesamten Kopf durchzuckte. Sie fiel unsanft zu Boden und begann, panisch zu schreien, weil Blut durch ihr Gesicht strömte. Sie zitterte, weinte und schaute immer wieder auf ihre Hände, in der Hoffnung, das Blut würde verschwinden, wenn sie es nur lange genug ansah. Aber es war keine Einbildung. Zitternd krümmte sie sich vor Schmerz und Angst. Sie war zu verwirrt, um irgendetwas zu tun. Hilfe rufen konnte sie auch nicht, weil sie ihr Handy nicht mitgenommen hatte.

Dann legte ihr jemand eine Decke um die Schultern, und zwei Paar Hände halfen ihr auf. "Alles in Ordnung?", fragte jemand. "Sie sind gegen einen Baum gelaufen."
"Sie bluten."
"Ich ... weiß nicht ... Ich ... oje ...", stammelte Sandra, der die Wucht des Unfalls die Sprache verschlagen hatte. Was war passiert?
"Sie müssen ins Krankenhaus."
"Ich ... oje ..." Sandra stand unter Schock, wie ihr selbst bewusst wurde. Anstatt die Hilfe der freundlichen Passanten anzunehmen, machte sie sich allein auf den Rückweg in die Stadt. Sie würde es schon schaffen, das Krankenhaus zu erreichen. Und wenn sie unterwegs verblutete, würde sie ohnehin niemand vermissen.

Sie taumelte, die schockierten Blicke der Leute ignorierend, und stürzte wieder und wieder. Nach jedem Sturz erhob sie sich erneut und quälte sich tapfer Schritt für Schritt vorwärts. Wie viel Zeit verging, registrierte sie nicht, denn sie hatte nur ein Ziel im Kopf: die Notaufnahme erreichen, bevor der Blutverlust sie in den Mantel der Ohnmacht hüllen würde. Das durfte nicht passieren! Sie hatte sich nie für einen Menschen gehalten, der am Leben hing, aber jetzt wollte sie plötzlich überleben. In diesem Augenblick spürte sie eine immense Kraft, die sie weiter vorwärts trieb.

Die Tür zur Klinik wurde automatisch geöffnet, als Sandra unter die Lichtschranke trat. Verzweifelt sah sie sich um. Ihr fehlten noch immer die Worte, doch sie brauchte keine. Eine Krankenschwester kam eilig auf sie zu und veranlasste, dass man der Verletzten ein Bett zur Verfügung stellte. "Warten Sie bitte noch etwas, der Arzt kommt gleich", hörte Sandra durch die Geräuschkulisse ihrer eigenen Schmerzensschreie. Wie peinlich, dachte sie. Wenn sie doch nur nicht so schreien müsste! Aber die Kopfschmerzen waren nicht auszuhalten, und es rann unaufhörlich neues Blut aus der Platzwunde an der Stirn.

Sie kramte in ihrer Tasche nach Tempos, doch was war das? Wie war ihr Handy in die Jackentasche gekommen? Sie hatte es doch zu Hause gelassen!

"Ahhh!" Eine neue schmerzhafte Woge schoss durch ihren Kopf, als sie ihn bewegte. Es fühlte sich an, als könnte er jeden Moment explodieren. Sie sah auch nicht mehr viel. Alles war verschwommen und drehte sich. War das das Ende?

Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf: Ihre Mutter, als sie noch jung gewesen war. Die Zwanzigjährige hielt ein kleines Mädchen in ihren Armen; Sandra. Sie küsste das Baby und sagte ihm, dass alles gut werden würde.

Die Schmerzen verstärkten sich weiter, und Sandra spürte eine Panikattacke herannahen. Sie schaltete ihr Mobiltelefon an und tippte eine SMS, die sie an ihre Mutter schicken wollte. Weil ihr Blick vom Blut getrübt war, konnte sie nicht viel erkennen, aber sie musste unbedingt noch etwas loswerden! Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer, aber sie tippte weiter und klickte auf "Senden". Jedoch gab es in der Klinik kaum Empfang.
"Verflucht!", brüllte sie und versuchte es ein zweites und ein drittes Mal. Den Schmerzen zum Trotz erhob sie sich und hielt das Handy etwas von sich weg. Nachdem sie abermals auf "Senden" gedrückt hatte, fielen ihr die Augen zu.

Es war schon Vormittag, als Sandra von einem nervigen Klingelton geweckt wurde. Dröhnende Schmerzen pulsierten in ihrem Schädel, aber das Blut war weg. Jemand hatte ihre Wunde versorgt und ihr Gesicht sauber gewischt. Sie starrte auf das Display ihres Handys. Eine Träne rollte über ihre Wange, als sie die SMS erblickte:

"Wir lieben und vermissen dich auch.
Komm doch an Heiligabend zu uns.
Mama und Papa"

Ihre Kopfverletzung war nicht allzu schlimm. Man verordnete ihr Ibuprofen und zwei Wochen Bettruhe.

Am 24. Dezember, einen Tag nach dem Unfall, lag Sandra, eingehüllt in eine flauschige Wolldecke, auf dem Sofa ihrer Eltern. Neben ihr stand ein prächtig dekorierter Weihnachtsbaum, und es duftete nach frisch gebackenem Kuchen und Zimt. Während ihre Eltern in der Küche zugange waren, fügte Sandra ihrem Gedicht eine dritte Strophe hinzu:

"Warum hab ich nicht gesehen,
Wie sehr meine Mutter mich liebt?
Womit hab ich es verdient,
Dass es eine zweite Chance für uns gibt?"


© Varia Antares


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Beschreibung des Autors zu "Zwei Wochen Einzelhaft"

Diese fiktive Geschichte handelt von der jungen Frau Sandra, die glaubt, von niemandem geliebt zu werden. Daher zieht sie sich immer mehr zurück.

Als ihr einen Tag vor Heiligabend ein Unfall widerfährt, wird ihr jedoch eines klar: Sie selbst hat auch schon lange niemandem mehr ihre Liebe gezeigt.

In der Notaufnahme um ihr Leben bangend tippt sie mit letzter Kraft eine SMS, die sie an ihre Mutter schicken will.

Wie wird diese reagieren? Und wird Sandra lange genug leben, um die Antwort lesen zu können?

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Eine Familie und Freunde zu haben, ist ein Segen, für den wir dankbar sein sollten. Meiner Meinung nach sollten wir unseren Eltern, Freunden und unserem Partner oder unserer Partnerin sagen, wie sehr wir sie lieben. Wenn wir es nicht tun, könnte es nämlich irgendwann zu spät sein.

In diesem Sinne: Viel Liebe, Licht und Harmonie für euch alle! Ich hoffe, ihr habt jemanden, mit dem ihr Weihnachten verbringen könnt. Genießt die Zeit, erholt euch gut und denkt positiv.

Alles, alles Gute für euch!!!

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Kommentare zu "Zwei Wochen Einzelhaft"

Re: Zwei Wochen Einzelhaft

Autor: Verdichter   Datum: 22.12.2017 22:22 Uhr

Kommentar: Was für eine schöne und sinnreiche Geschichte!

Re: Zwei Wochen Einzelhaft

Autor: Varia Antares   Datum: 22.12.2017 22:29 Uhr

Kommentar: Vielen Dank!

Ich wünsche Dir schöne Feiertage. :-)

Re: Zwei Wochen Einzelhaft

Autor: Piscium   Datum: 24.12.2017 15:15 Uhr

Kommentar: Schöne Geschichte, das Gute erkennen bei nicht optimalen Startbedingungen!

Re: Zwei Wochen Einzelhaft

Autor: Varia Antares   Datum: 24.12.2017 21:14 Uhr

Kommentar: Danke!

:-)

Ich hoffe, Du hattest ein tolles Weihnachtsfest heute.

LG
Varia

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