Die kleine Glocke ist traurig. Nur sie darf wieder nicht bimmeln. Alle anderen Glocken im Kirchturm schwingen wichtig hin und her, alle in ihrem eigenen Rhythmus und im eigenen Klang. „Wann endlich darf ich mitmachen?“ - „Du bist zu klein! Dein Klang ist zu hoch und zu fein.“ Die anderen Glocken nicken im Takt und schwingen weiter hin und her. „Ja, dein hoher Ton ist viel zu hell. Du hebst dich von uns ab. Und das geht nicht.“
Die kleine Glocke ist traurig. Was kann sie denn dafür, dass ihr Klang so hell und rein und klar ist! Soll ihr Lebenszweck einzig darin bestehen, im Glockenturm zu hängen und den anderen Glocken zuzusehen, wie sie majestätisch und wichtig im Glockenstuhl hängen? Und ihrem wahrlich prächtigen Zusammenspiel zu lauschen?
Nein. Das ist der kleinen Glocke zu wenig. Und so löst sich die kleine Glocke in der nächsten Nacht leise vom Gebälk.
Neugierig sieht sich die kleine Glocke um. Der Kirchplatz ist viel grösser als er vom Kirchturm her gewirkt hat. Sie kommt sich verloren vor. Sie wirft einen Blick hinauf zum Glockenstuhl und ist überrascht, wie klein ihre Glockengeschwister plötzlich wirken. „Die scheinen alle nicht grösser als ich zu sein!“ Und schon fühlt sie sich nicht mehr so klein. Frohen Mutes geht sie in die Nacht hinaus.
Am Friedhof hält sie inne. Sie zögert. Soll sie ihn betreten? Dort hinten entdeckt sie einen kleinen Glockenturm. Ja, sie will nachsehen, ob ihr Geläute dort gefragt ist. Die Glocke im Friedhof ist erstaunt: „Für diese Aufgabe muss man beherrscht und gefasst sein. Es braucht ein gesetztes Alter, um majestätisch und würdevoll und gleichwohl verhalten zu läuten. Wer hierhin kommt ist in Trauer. Du bist noch zu jung und unerfahren.“ Traurig verlässt die kleine Glocke den Friedhof.
Am Fluss sieht sie eine Glocke auf einem Schiff. „Was ist deine Aufgabe hier?“ Die Schiffsglocke erwidert freundlich: „In Sturm und Nebel muss ich läuten, damit andere Schiffe gewarnt werden und wir nicht miteinander kollidieren. Du bist zu klein und zu leise für diese Aufgabe, tut mir leid.“
Verzagt lässt sich die kleine Glocke am Flussufer nieder. Weshalb will niemand sie haben? Ja, sie ist jung und klein. Ja, sie hat einen hellen Klang und ist nicht die lauteste. Wenn es für sie keine Aufgabe gibt, weshalb hat man sie dann gegossen?
Trübsinnig schaut sie ins Wasser. Wenn niemand sie will, sieht sie keinen Sinn im Leben. Sie könnte ins Wasser gehen. Einfach auf den Grund sinken und für immer verstummen.
Auf dem Weg nähern sich zwei Kinder. Versehentlich stupst eines die kleine Glocke mit dem Fuss an. Sogleich ertönt ein feines helles Bimmeln. Erstaunt bücken sie sich und heben die kleine Glocke hoch: „Ei, wo kommt denn diese bezaubernde kleine Glocke her?“ - “Sie hat einen wunderbaren reinen hellen Ton!“ Die Kinder nehmen die Glocke mit zur Probe des Krippenspiels.
Das Halleluja des sechsköpfigen Engelschors fällt etwas mager aus. Es hätte noch Geigen und Flöten gebraucht. Aber die stehen nicht zur Verfügung. Plötzlich erinnert sich eines der Kinder an die Glocke, die sie heute auf dem Weg gefunden haben. „Wir könnten die Glocke benutzen. Die klingt so schön, wie für einen König gemacht! Wir könnten sie zur Verkündigung der Geburt des Jesuskindes einsetzen.“
Und so verschönert unsere kleine Glocke das Krippenspiel mit ihrem hellen reinen Klang. Direkt oberhalb der Wiege mit dem Jesuskind darf sie hängen! Und sie schwingt sachte hin und her. Sie ist glücklich, dass ihr heller Klang nicht so laut ist. Sie ist glücklich ob ihrer neuen Aufgabe. Wer hätte das gedacht: Die kleine Glocke läutet zum Willkomm des neugeborenen Königs!


© Pia Koch-Studiger


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