Ein unheiliger Abend

Als Gernot Grün in seinem Wagen saß und die A 620 in östlicher Richtung befuhr, tauchte der Wegweiser Richtung Paris im Scheinwerferkegel auf. Gernot lächelte und fühlte sich leicht wie eine Schneeflocke. Zufrieden ließ er die letzten Tage und Stunden vor seinem geistigen Auge Revue passieren.

„Grün! Haben Sie die Papiere von Silbermann, Korn KG und Brenkhaus endlich an den Versand rausgegeben?“
In Gernot Grüns Ohr klang die Stimme seines Chefs, als würde jemand neben ihm ins Klo kotzen.
„Sind im Moment raus, Herr Koppmann“, sagte er und versuchte locker zu klingen.
„Wie oft muss ich Ihnen denn noch sagen, dass die Ware noch heute rausgehen muss? Also geben Sie Gas, Mann.“ Koppmann legte verärgert auf.
„Tu ich, du Arschloch, tu ich“, sagte Grün.

Es war zwei Wochen vor Weihnachten und ab dem 22. begannen die Betriebsferien. Bis dahin mussten alle Kundenaufträge versendet sein, auch die, die ohne festen Liefertermin waren und deren Auslieferung auch im Januar und Februar noch Zeit gehabt hätten. Aber der Chef bestand darauf, dass alles noch im alten Jahr erledigt wird, um bei der Zentrale mit den aufgepeppten Umsatzzahlen noch im alten Jahr glänzen zu können.

Sklaventreiber, dachte Gernot Grün und drückte auf die Enter-Taste seines Computers. Nun waren die ach so dringenden Aufträge an den Versand raus und er konnte Feierabend machen. Schon wieder beinahe zwei Stunden nach dem offiziellen Schichtende. Zum dritten Mal diese Woche - und es war Mittwoch.
Es war jedes Mal dasselbe, ob vor den Betriebsferien im Sommer, oder vor Weihnachten, immer erreichte Koppmann bei seinen Mitarbeitern, dass sie die letzten Tage vorm Urlaub in schlechter Erinnerung behielten, denn er machte Stress ohne Ende. In allen Abteilungen fielen in dieser Zeit haufenweise Überstunden an, die selbstredend nicht bezahlt wurden.
„Ihr sollt nicht ständig fragen, was kann die Firma für mich tun, sondern, was kann ich für die Firma tun. Denn wenn’s der Firma gut geht, geht’s Euch gut.“
Mit dieser Phrase knüppelte Erwin Koppmann, Geschäftsführer der As-Tech GmbH, Niederlassung Saarbrücken, jedwede Kritik an diesen Missständen nieder.

Gernot Grün machte sich schon lange keine Illusionen mehr darüber, in dieser Firma mit dem Karrierefahrstuhl ein paar Gehaltsstufen nach oben fahren zu können. Seit vier Jahren war er nun Abteilungsleiter des Auftragsmanagements, und so wie es aussah, würde sich daran auch in naher Zukunft nichts ändern.
Anfang des Jahres präsentierte Koppmann Ortwin Homburger, den er von seinem Golf-Club her kannte, als neuen Chef des Qualitätsmanagements.
So zerplatzte Grüns Traum von diesem Posten wie eine Seifenblase und er fügte sich mutlos in sein Schicksal. Im Gegensatz zu seiner Frau Katrin, die jede erdenkliche Gelegenheit nutzte, ihrem Gatten vorzuhalten, was für ein Waschlappen er sei, und ob er sich schon einmal Gedanken darüber gemacht habe, wie sie bei seinem mickrigen Gehalt die Familie über die Runden bringen sollte.


Gernots Zug war im Bahnhof Völklingen eingetroffen. Den Rest seines Heimweges legte er zu Fuß zurück, vorbei an der Hochofengruppe des Weltkulturerbes Völklinger Hütte, die nun, in der Dämmerung, von mehreren farbigen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Möglicherweise ging man bei den Verantwortlichen davon aus, dass Rost durch buntes Licht schöner wird.
Während er den knappen Kilometer Fußweg hinter sich brachte, erhellte sich für den Bruchteil einer Sekunde seine Miene, bei dem Gedanken daran, dass in nicht mal zwei Wochen sein Urlaub begann, und er Firma und Chef für ein paar Tage vergessen konnte.
So süß, dieser Gedanke sein Hirn auch durchflutete, so sauer stieß ihm Sekunden später auf, dass er die meiste Zeit seines Urlaubes mit den Personen verbringen musste, die er ebenso sehr wie seinen Chef verachtete: seine Frau und seine Kinder.

Katrin war ständig im Kaufrausch und machte ihm Vorwürfe, dass er nicht genug Mumm habe, um bei Koppmann mehr Gehalt herauszuholen.
Maike, seine sechzehnjährige Tochter, ging und kam, wie es ihr passte und kleidete sich nach Gernots Meinung, wie eine Bahnhofsnutte. Ihre Klamotten entblößten mehr, als sie verdeckten.
Und Benni, der dreizehnjährige Sohn, war so faul, dass seine Mitschüler ihm den Spitznamen „Karies“ verpassten. Er war zweimal sitzengeblieben und hatte drei teuer bezahlte Nachhilfelehrer zur Verzweiflung gebracht. Außerdem fraß der Junge täglich den Kühlschrank leer und bewegte sich nur, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren.
Gernot quälte deshalb seit Jahren der Verdacht, dass er in Wahrheit gar nicht der leibliche Vater der beiden ist. So bescheuerte Gene kamen in seiner Familie nicht vor.

Als er an diesem Nachmittag sein Wohnzimmer betrat, fielen ihm sofort die drei Einkaufstaschen auf, die den Couchtisch zierten. Alle drei mit den Namen der teuersten Boutiquen der Umgebung. Von seiner Frau und den Kids war nichts zu sehen. Der Gedanke an die vielen Euros, die Katrin für den Inhalt dieser Taschen eingetauscht hatte, ließ seinen ohnehin erhöhten Blutdruck einen Tick höher steigen. Er seufzte entmutigt, und ging in die Küche, um sich ein Abendbrot zu machen. Wie immer, wenn der Groll an Gernots Seele nagte, bekam er Hunger. Hätte er geahnt, dass Katrin, außer ihren kostspieligen Klamotten, noch eine weitere unangenehme Überraschung für ihn parat hatte, wäre er vom Bahnhof aus schnurstracks in die nächste Kneipe gegangen und hätte sich dort in aller Seriosität volllaufen lassen.
Da aber Hellsehen eher nicht zu Gernots Fähigkeiten zählte, saß er an dem kleinen Küchentisch und kaute auf seinem Salamibrot, als er jemanden die Treppe herunterkommen hörte.
„Hallo!“ sagte Katrin als sie die Küche betrat. Einen Begrüßungskuss bekam Gernot schon lange nicht mehr. „War oben und hab aufgeräumt.“
„Du meinst du hast deine neuen Klamotten weggeräumt.“
„Das auch. Hatte ja keine anständige Bluse mehr. Keine Gute. Für die Feiertage.“
Als Gernot noch darüber nachdachte, ob er zum tausendsten Mal die Kosten ansprechen sollte, sagte Katrin: „Sag mal, der Koppmann, der hat doch nicht wieder geheiratet? Der lebt doch noch alleine, oder?“
„Was hat das nun mit deinen neuen Blusen zu tun?“ fragte Gernot perplex.
„Nichts“, antwortete Katrin. „Ich dachte nur, es wäre doch gar keine schlechte Idee, wenn du deinen Chef an Heilig Abend zum Essen einladen würdest.“
„Was?“ Gernot sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte und scheppernd auf den Fliesen landete. Hätte Katrin gesagt: „Ich habe Rattengift in deine Salami getan“, Gernot wäre nicht geschockter gewesen.
„Nun krieg dich wieder ein und denk mal nach“, sagte Katrin und setzte sich zu Gernot an den Tisch, nachdem der seinen Stuhl wieder hingestellt hatte.
„Vor einem halben Jahr ist er geschieden worden und wird Weihnachten wohl alleine verbringen müssen. Dann wäre es doch mehr als eine menschliche Geste, wenn er wenigstens den Heiligabend mit Bekannten verbringen könnte. Außerdem würde sich so eine soziale Tat günstig auf deinen Status in der Firma auswirken.“
„Ach, daher weht der Wind“, antwortete Gernot. „Ich soll also schleimen und buckeln, damit die liebe Katrin noch mehr Geld in die Boutiquen tragen kann.“
„Du bist ein Idiot. Dir wäre es wohl lieber, ich würde mich gehen lassen und mich wie eine Schlampe in schäbigen, fleckigen Klamotten und mit fettigen Haaren auf dem Sofa rumfläzen.“
„Ich weiß“, seufzte Gernot. „Es hat keinen Sinn mit dir über Geld und Kleidung zu diskutieren.“
„Gut, dass du dich daran erinnerst.“
„Du verlangst von mir, dass ich mit einem Menschen, den ich zum Kotzen finde, meinen Tisch und mein Essen teilen soll? Und das auch noch an Weihnachten?“
„Mensch, überleg doch mal. Du opferst drei oder vier Stunden und könntest Jahre davon zehren. Koppmann würde dich mehr respektieren, was sich in Zukunft positiv auf dein Gehalt auswirken könnte. Was ist daran auszusetzen?“

Gernot schwieg und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank.
„Von nix kommt nix“, sagte Katrin und räumte Gernots Teller und Besteck in die Spülmaschine. „Du investierst ein paar Stunden eines einzigen Abends und das könnte der Wendepunkt in deinem Leben sein. Also, pass morgen eine gute Gelegenheit ab und lade ihn ein.“
„Und wenn er wieder liiert ist?“
Katrin verdrehte die Augen: „Dann lädst du eben beide ein. Wo ist das Problem?“
Gernot schaute prüfend in seine Bierflasche und trank sie leer. Dann nickte er und gab wie immer nach.
„Also gut. Wer weiß, vielleicht hast du ja Recht?“
„Ist der Papst katholisch?“

Und so nahm das, was Katrin ahnungslos „Wendepunkt des Lebens“ nannte, seinen Lauf.

Am darauffolgenden Tag bekam Gernot tatsächlich die Gelegenheit, Koppmann alleine und in entspannter Stimmung zu erwischen. Am Kaffeeautomaten auf dem Flur unterbreitete er seinem Chef mit klopfendem Herzen und schwitzigen Händen die außergewöhnliche Einladung. Der zeigte sich nicht lange überrascht, und sagte zu. Koppmanns Erinnerung an Grüns attraktive Ehefrau mag dazu beigetragen haben. Er sei ja alleine und er freue sich, Weihnachten mal bei einfachen Leuten feiern zu können.
Für diese Klassifizierung hätte ihm Gernot liebend gern seine einfache Faust auf die arrogante Nase gesetzt.

Der Advent schritt voran und schon zeigte der Kalender den 24. Dezember, als Gernot an jenem Morgen erwachte. Spätestens nach der ersten Tasse Kaffee und einem gedanklichen Überblick über den zu erwartenden Tagesablauf stellte er fest, dass sich seine Laune irgendwo zwischen Keller und Erdmittelpunkt einzupendeln schien. Bei dem Gedanken daran, dass er sich nicht nur den ganzen Tag über mit Katrin, Maike und Benni herumschlagen musste, sondern als Krönung des Ganzen auch noch Koppmann den Abendtisch mit ihm teilen würde, stellte sich bei Gernot ein heftiges Magenkneifen ein. Gerade als er überlegte, ob er heute Morgen nicht erst mal einen Spaziergang machen sollte, um sich zu beruhigen und Kräfte zu sammeln, tauchten Maike und Benni auf und lächelten ihn an. Gequält griente Gernot zurück und griff reflexartig zum Portemonnaie. Wenn die beiden ihn anlächelten, war das keine freundliche Geste, sondern Bettelei.

„Muss noch Geschenke kaufen“, sagte Benni, dem es fremd war, in ganzen Sätzen zu sprechen, und streckte seine Wurstfinger aus. In seiner engen Daunenjacke sah er aus wie ein Rollbraten mit Beinen.
Gernot seufzte und zog ein paar Scheine aus der Börse.
Maike sagte nichts. Das hatte wahrscheinlich den Grund, dass die dicke Schicht Schminke in ihrem Gesicht so lange nicht bewegt werden durfte, bis sie ihre endgültige Konsistenz erreicht hatte.
Als beide das Geld eingesteckt hatten, drehten sie sich wortlos um und verließen das Haus. Den größten Teil der fünfzig Euro, die jeder von ihnen einheimste, würden sie wieder bei der alljährlich stattfindenden Schlussparty des Saarlouiser Weihnachtsmarkts in Dinge umsetzen, an die Gernot gar nicht denken mochte. Voriges Jahr hatte Benni so viel Alkohol intus, dass er vom frühen Nachmittag bis zur Bescherung das Klo besetzt hielt.
Wie kann man nur Alkohol an Kinder verkaufen? Gernot schüttelte innerlich den Kopf. Die Welt ist schlecht. Umsatz geht über Gesundheit. Aber was sollte er tun? Die Kids sind heutzutage zu selbständig und respektlos, als dass sie sich von den Alten noch etwas sagen ließen.
Er beschloss, sich aus dem Haus zu schleichen, um nicht noch von Katrin mit Aufgaben bedacht zu werden, auf die er gut verzichten konnte. Im letzten Jahr fiel ihr am heiligen Morgen ein, dass unbedingt die Fenster noch geputzt werden mussten und sie dazu keine Zeit habe, da sie einen Termin im Nagelstudio habe.
Katrin war bis jetzt weder zu sehen noch zu hören. Als Gernot heute früh aufstand, war ihr Bett leer gewesen. Möglicherweise war sie auf dem Dachboden und checkte die Restbestände an Dekomaterial. Und so huschte er zur Garderobe, schnappte sich Schal und Mantel und schloss die Haustür leise hinter sich. Das Garagentor stand offen und der Wagen war weg. Dann ist Katrin wohl noch zum Supermarkt. Auch gut, dachte er und machte sich auf den Weg zum Leinpfad hinunter, um ein wenig an der Saar spazieren zu gehen. Die frische, klare Winterluft würde ihm helfen, seine Nerven zu stärken, um den Abend locker und selbstsicher zu überstehen.

Wirklich genützt hatte der Spaziergang nicht. Koppmann kam pünktlich nach der Bescherung um 19 Uhr, und brachte einen Strauß Blumen für Katrin mit und für Gernot eine schmale Schachtel mit 3 Zigarren, das Stück zu Zweieurofünfzig. Für Maike und Benni hatte er je eine Ritter-Sport-Vollmilch.
Du Geizkragen, dachte Gernot, das sieht dir ähnlich. Hätte er geahnt, dass Koppmann gerne Whisky trank, hätte er seinen Vorrat rechtzeitig aus der Hausbar entfernt.
Eine Stunde nach dem Essen verschwanden Maike und Benni, die wider Erwarten früh zu Hause und relativ nüchtern waren, zu Freunden und die zweite Flasche Jack Daniels aus Gernots Beständen.
Katrin und Erwin waren sich äußerst sympathisch und saßen, sich angeregt unterhaltend, Backe an Backe auf dem Sofa. Gernot ertrank seinen Frust in süffigem Spätburgunder. Derweil flirteten Katrin und Koppmann so ungeniert, als wäre der Gastgeber gar nicht anwesend. Die Situation empfand Gernot ebenso peinlich, wie ärgerlich. Er konnte den Beiden nicht länger zusehen, also nahm er sein Glas und trat ans Fenster.
Es hatte zu schneien begonnen und Gernot fand, das sei ein guter Grund ein wenig frische Luft zu schnappen und den im Licht der Straßenlaternen tanzenden Schneeflocken zuzusehen.
Der Abend schien irgendwie aus dem Ruder zu laufen, aber er hatte keinen Plan, wie er das jetzt noch ändern könnte. Aber vielleicht hatte Katrin ja Recht, und sein Chef würde ihm in Zukunft etwas mehr Beachtung und Respekt angedeihen lassen, wenn er sich heute Abend bei den einfachen Grüns wohl fühlte.
Gernot zog die Zigarrenschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes und zündete sich eine an. Die können ja nix dafür, dass ein Idiot sie gekauft hat. Er drehte sich um und durchquerte das Wohnzimmer, ohne dass Katrin und Koppmann Notiz von ihm nahmen. An der Garderobe griff er sich seine Strickjacke und ging vor die Haustür. Die eisige Luft und der Tabakrauch bewirkten ein Schwindelgefühl, an dem wohl auch der Alkohol nicht ganz unbeteiligt war. Dem Schwindel folgte ein verdächtiges Unwohlsein im Magen. Gernot hielt es für besser, wieder ins Haus zu gehen und sich mal ein paar Minuten aufs Bett zu legen. Er drückte den Rest der Zigarre an der Hausfassade aus und warf ihn in die Mülltonne.
Als er wieder ins Wohnzimmer trat, fand er es leer. Ungläubig schaute er sich um. Die beiden Turteltäubchen waren entflogen. Doch da ließ ihn ein unterdrückter Schrei aufhorchen. Es waren Stimmen zu hören und Gekicher. Und es schien, als kämen die Geräusche aus dem Gäste-WC.
Gernot stand vor der verschlossenen Tür und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Vorsichtig legte er seine zitternde Hand auf die Türklinke und drückte sie herunter. Abgeschlossen!
Da drin vergnügten sich seine Frau und sein Chef, soviel war klar. Und als Gernot sich bückte, und durch das Schlüsselloch blinzelte, sah er Koppmann auf der Kloschüssel sitzen und Katrin auf dessen Schoß. Eine eisige Faust umschloss sein Herz. Er ging zurück ins Wohnzimmer, öffnete die letzte Jack-Daniels-Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Und dann noch einen.

Gernot war nicht der Mann, der seinem Nebenbuhler das Nasenbein zertrümmerte. Gernot litt und trank.
Da er sich vor einer peinlichen Begegnung fürchtete, zog er es vor, in sein Bett zu verschwinden. Hier war er überflüssig.
Kaum, dass er auf seiner Matratze lag, begann sich alles um ihn zu drehen. Das ging so lange, bis er sich übergeben musste. Er schaffte es aber nicht mehr aus dem Bett, und so landete das Erbrochene auf dem Fußboden vor seinem Nachttisch.
Kurz darauf war er eingeschlafen.

Als Gernot erwachte, wusste er im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Aber ihm war, als hätte in ein Geräusch geweckt. Er setzte sich auf und verspürte Übelkeit. Dazu kam noch der beißende Gestank seines Mageninhaltes neben dem Bett. Er knipste die Nachttischlampe an und schaute auf den Wecker. Die grünen Leuchtziffern zeigten 3 Uhr17. Er war allein im Zimmer, und sofort viel ihm wieder ein, was gestern Abend passiert war. Vorsichtig rutschte er ans Fußende und stellte überrascht fest, dass er noch vollständig angezogen war. Er öffnete die Schlafzimmertür und lauschte auf den Flur hinaus. Ein Haus, in dem alle Bewohner schlafen, hört sich anders an.

Gegenüber dem Schlafzimmer war das Gästezimmer. Und wer immer sich dort als Gast einquartiert hatte, schlief nicht. Gernot pirschte sich zur Tür und drückte leise die Klinke. Im Schein, der mit einem Wäschestück gedimmten Nachttischlampe, erkannte er Katrin und Koppmann, ganz dem Liebesspiel hingegeben. Das tat ihm einen Stich ins Herz.
Er zog die Tür zu und stand mit hängenden Schultern im dunklen Flur. Seine Gedanken, die sich verzweifelt vom Alkoholnebel zu befreien versuchten, rasten chaotisch durch seinen Schädel. Er wollte sich an seinen Peinigern rächen. Und zwar noch in dieser Nacht.
Jemand fingerte mit einem Schlüssel an der Haustür herum. Gernot, nun aus seinen düsteren Gedanken aufgeschreckt, ging zur Treppe, die nach unten führte und lauschte. Endlich wurde die Haustür geöffnet und gleich darauf zugezogen. Das Licht wurde eingeschaltet. Maike kam nach Hause. Sie schwankte und ihr Lippenstift war verschmiert. Gernot ging ein paar Stufen hinunter und beobachtete wie seine Tochter in die Küche wankte und eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank nahm. Sie sieht aus wie eine Schlampe und sie ist eine Schlampe, stellte er fest. Ihr Rock, wenn man den kurzen Stofffetzen so nennen konnte, verdeckte kaum ihren Hintern und aus ihrem Dekollete quollen ihre Brüste.
Man sollte die ganze Brut im Fluss ertränken, wie kleine Katzen. Gernots stiller Zorn nahm bedrohliche Formen an. Er ging wieder hinauf, um im Schlafzimmer darüber nachzudenken, auf welche Art er Rache nehmen konnte, für die Schmach, die seine Familie ihm antat.
Neben dem Gästezimmer, in dem man, den Geräuschen zufolge, weiterhin der Fleischeslust frönte, lag Bennis Zimmer. Vorsichtig öffnete Gernot die Tür. Benni saß schlafend auf seinem kleinen Sofa. Die Schreibtischlampe war eingeschaltet und warf ein schwaches Licht auf seinen übergewichtigen Körper. Am Boden, neben Bennis Fuß, lag eine selbstgedrehte, noch qualmende Zigarette, die bereits ein Loch in den alten Teppich gebrannt hatte. Gernot hob sie auf und roch daran. Das schien nicht bloß Tabak zu sein. Angewidert drückte er sie im Ascher aus. Benni hatte seine Jacke noch an. Unter seinem Kinn war sie mit Erbrochenem besudelt. Als Gernot der scharfe, saure Geruch in die Nase stieg, drehte sich augenblicklich sein Magen um, und zwar so schnell und heftig, dass er es nicht mehr aus der Tür schaffte.
Er wischte sich mit seinem Hemdsärmel den Mund ab und ging benommen in sein Schlafzimmer. Dort öffnete er das Fenster und sog die frische Nachtluft in seine Lungen. Die Luft war so eisig, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Aber das lag nicht nur an der Kälte.

Eine boshafte Nüchternheit verdrängte die letzten Alkoholschwaden in Gernots Hirn und mit einem Mal war ihm klar, was er zu tun hatte. In weniger als zwanzig Minuten hatte er alle Dinge, die für ihn lebensnotwendig waren, in einer Sporttasche verstaut und im Kofferraum seines Wagens deponiert. Danach ging er in den Keller und manipulierte mit einer Rohrzange die Gaszufuhr zum Heizkessel. Aus seinem Werkzeugschrank nahm er den Heißluftfön, legte ihn auf den Boden und schaltete die höchste Gebläsestufe ein. Dann lief er die Treppe hoch zur Garderobe, zog seinen Wintermantel an, uns schloss die Haustür von außen ab.

Bevor Gernot Grün den Motor seines Wagens startete, zündete er sich eine Zigarre an, und fuhr mit heiterem Herzen in die verschneite, heilige Nacht.


© Rolf Ronck


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Beschreibung des Autors zu "Ein unheiliger Abend"

Diese Geschichte ist, wie der Titel bereits vermuten lässt, keine Weihnachtsgeschichtge im üblichen Sinne.
Zeigt sie doch, was geschehen kann, wenn die Gefühle innerhalb
einer Familie längst von Liebe in Abneigung umgeschlagen sind,
und ausgerechnet an Heiligabend das Fass zum Überlaufen gebracht wird.

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Kommentare zu "Ein unheiliger Abend"

Re: Ein unheiliger Abend

Autor: Uwe   Datum: 16.12.2014 22:54 Uhr

Kommentar: Nun ja...
dann warten wir halt Ostern ab.
Aber das u.a. fand ich sehr gut:
"In Gernot Grüns Ohr klang die Stimme seines Chefs, als würde jemand neben ihm ins Klo kotzen."

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