Unser lange schon heimgegangener Oheim hat in ungelenker Schrift niedergeschrieben, wie er als Kind das bedeutendste kirchliche Fest im Jahreskreislauf erlebte. Ich fand die schon vergilbten Blätter im Nachlass meiner Mutter:

Der Advent begann und machte unsere Herzen weit. Bald würde es Weihnachten sein. Der erste Dezembertag zog auf. Von den Bergen im Osten brach die Dämmerung durch. Die Geschwister schliefen noch. Ich wartete am offenen Fenster, bis das Dunkel dem Morgen gewichen war. Noch drei lange Wochen, dann würde die längste Nacht des Jahres anbrechen. „Erst wenn die Wintersonnenwende kommt, kann es Weihnachten werden“, haben die Alten gesagt. Diesen gewichtigen Satz hörte ich jedes Jahr von meinem Vater. Er schaute öfters gedankenvoll zum Bannwald hinauf. In jedem Jahr stieg er am 21. Dezember allein durch den Schnee in unseren Wald zum „großen Stein“ hinauf. Ich war gerade sieben geworden und bat ihn inständig, ihn begleiten zu dürfen. „Das wirst du wohl nicht ganz verstehen, Biubl, aber du darfst mit mir gehen. Musst morgen recht früh aufstehen.“ Ich wusste, wo sich der „große Stein“ befand. Er lag breit und tief in der Erde zwischen knorrigen Lärchen. Ich half dem Vater, den Schnee wegzuräumen. Wir betrachteten ihn schweigend. Noch vor Sonnenaufgang steckte Vater Haselnussstäbe in zwei der fünf Löcher, die unsere Ahnen einst in den Stein gebohrt hatten. Als um halb neun am Horizont die Sonne durchbrach, trafen sich für einige Augenblicke die Schatten der Stäbe in einer geraden Linie. Es war ein magischer Moment; er markierte exakt den Zeitpunkt im Jahreslauf, an dem die Sonne den kürzesten Bogen am Firmament ausführt. Von nun an würde sie jeden Tag wieder stärker werden und neues Leben hervorbringen. „Dieser Stein hat unseren Vorfahren die Sonnenwenden und den richtigen Zeitpunkt für die Aussaat im Frühjahr angezeigt. Hier hat es wohl einen alten Kult gegeben. Weihnachten wurde von den ersten Christen auch auf diese Zeit festgelegt. Auf unserem Hof haben schon vor Tausenden von Jahren Menschen gelebt. Es ist ein Stückchen Erde, das uns Menschen Kraft gibt und in seinen Bann zieht. “ Ich verstand nicht, was der Vater mit dem seltsamen Wort „Kult“ sagen wollte. Aber mich ergriff an diesem uralten Stein ein tiefes Geheimnis aus längst vergangener Zeit, so als wäre ich Zeuge eines unsichtbaren Geschehens geworden, eines „Kultes“ der Ureinwohner auf unserem Hof. Ich spürte, dass sich auch das Leben unserer Familie in eine ferne Vergangenheit zurück verband. Mich ergriff ein mächtiger Schauer, der kalte Morgenwind trieb ihn mir bis in die beklommene Kinderseele. Ein seltsamer Stolz, ein Gefühl des Glücks erfasste mich, denn der Vater hatte mich nun in das Geheimnis dieses Ortes eingeführt. Langsam stapften wir den alten Hohlweg zum Hof zurück.
In der Nacht zum 24. Dezember war viel Schnee gefallen. Im Haus hörte ich schon die Geräusche der morgendlichen Arbeit. Heiliger Abend. Feierlichster, geheimnisvollster Tag des ganzen Jahres! Meine ältere Schwester, die Marie, die sich mit ihren vierzehn Jahren schon recht erwachsen benahm, rief mich: „Bub, geh schnell die Hebamme holen, es ist soweit.“ „Mutter?“, fragte ich nur. Ich eilte ins Dorf hinunter. Ein Pferdegespann kam mir nach. Der Kutscher ließ mich aufsteigen. Das Haus der alten Hebamme stand gleich neben der Kirche. „Ein bisschen weit zu euch hinauf ist es schon, noch dazu am Heiligen Abend, mein lieber Bub.“ Ich solle mit den anderen Geschwistern die Stallarbeit fertig machen, trug mir der Vater auf. Als ich endlich wieder in die Stube durfte, ging ich auf Mutter zu und sah ein ganz kleines Kindlein an ihrer Brust. „Mamme“, flüsterte ich ihr ins Ohr, „wir wollen ihn Joseph heißen, wie der heilige Joseph von der heiligen Maria. Er hat sie doch beschützt in Bethlehem im Stall.“ Mutter lächelte. Ich wusste, es war ihr Einverständnis. „Wenn der Vater auch will“, sagte sie nur. Mutter blieb im Bett, als wir uns zum Räuchern anschickten. „Ein uralter Brauch“, sagte der Vater über die Raunächte. Er ging betend voraus, durch jeden Raum, und zuletzt zu Mutter in die Stube. „Für die Mutter und das Kindl“, sagte der Vater. Die Mutter lächelte. Mit dem geweihten Wasser und dem Kräuterduft aus der Räucherpfanne wurde mein Brüderchen ein erstes Mal in die Geheimnisse der Weihnacht auf unserem Hof eingeführt. Es schlief tief und fest in seiner Wiege neben der Mutter.


© Laurin


3 Lesern gefällt dieser Text.





Beschreibung des Autors zu "Geburt am Kräuterhof Hauser vor 100 Jahren"

Weihnachtsgeschichte, in welcher der prähistorische Kalender- oder Sonnwendstein von Wielenberg in Südtirol eine Rolle spielt. Dieser Stein zeigt durch Schattenwurf exakt die Sonnenwenden sowie den Zeitpunkt von Aussaat und Ernte an. Nähere Infos unter www.kraeuterhof.it

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Geburt am Kräuterhof Hauser vor 100 Jahren"

Re: Geburt am Kräuterhof Hauser vor 100 Jahren

Autor: Uwe   Datum: 17.12.2014 0:04 Uhr

Kommentar: Laurin, wunderbar!

Kommentar schreiben zu "Geburt am Kräuterhof Hauser vor 100 Jahren"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.