Der Sylvesterkarpfen…


Es war der 27. Dezember, gegen vierzehn Uhr, als Vater Herbert Schönborn von seiner Arbeit kam.
Beim späten Mittagessen, an dem seine Frau Jutta und seine beiden Kinder Max und Sophie teilnahmen, erzählte Herbert von seiner Arbeit.
Während des Gespräches kam die Sprache auf Vorarbeiter Fritz Heller.
Heller berichtete Herbert unter anderem, dass es auch in diesem Jahr
bei ihm zu Hause einen Sylvesterkarpfen gibt.
Der Vorarbeiter meinte, seine Frau bereitet den Karpfen so lecker, so
dass man sich alle seine „ fünf Finger“ ableckt.
Vater Herbert meinte: „ Mutter kannst du uns nicht auch einmal einen Karpfen zu Sylvester zubereiten?“
„Ja, ja Mutti“ riefen beide Kinder, „ das wäre schön!“
Mutter Jutta sagte: „ Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Karpfen zubereitet.“
„Mutti, Mutti“ riefen Max und Sophie „ das schaffst du!“
Am nächsten Tag brachte Herbert einen Spiegelkarpfen mit.
Die Freude der Kinder über den Karpfen war riesengroß. Jutta meinte:
„ Wenn das bloß gut geht.“
Max meinte: „ Das Gesicht des Karpfens sieht Opa Willis Gesicht ähnlich, wollen wir den Karpfen nicht Willi nennen?“
Alle waren mit dem Vorschlag von Max einverstanden, man nannte den Karpfen von Stund an, Willi.
Der Karpfen wurde in die gefüllte Badewanne gesetzt.
Einen Tag vor Sylvester sollte der Karpfen von Herbert geschlachtet werden. Vater Herbert nahm den Karpfen aus der Badewanne, jedoch dieser schlüpfte aus seinen Händen. Der Karpfen schlängelte sich jedoch geschwind unter den Spiegelschrank. Das war für den Karpfen ein gutes, sicheres Versteck. Was sollte man jetzt bloß tun?
Die ganze Familie Schönborn war nun im Einsatz! Herbert versuchte
mit einer hölzernen Wäschezange den Karpfen hervor zu ziehen, aber das gelang nicht. Max und Sophie gaben fortlaufend Vorschläge, die jedoch nicht fruchteten. Jutta hielt in ihren Händen eine Blechschüssel bereit. Sie sagte mehrmals vor sich hin: „ Jedes Mal, wenn ich mich auf
meinen Mann höre, passiert irgendetwas.“
Herbert meinte: „ Hebt doch mal alle den Spiegelschrank ein wenig an!“
Gesagt, getan! Urplötzlich war ein Splittern, ein Dröhnen und Krachen
zu hören.
Der obere Aufbau vom Schrank hatte sich gelöst, und war auf die
Fußbodenkacheln gestürzt.
Der gesamte Fußboden war mit Glasscherben, Holzstücken, Körperpflegemitteln und flüssigen Substanzen übersät. Nun war guter Rat teuer!
Alle Vier beseitigten den Unrat, der fünf große Eimer ausfüllte.
Herbert kam auf die Idee, mit einem Föhn sein Glück zu versuchen.
Er stellte den Föhn auf die höchste Stufe, und er blies heiße Luft unter
das Schrankteil. Siehe da, der Karpfen kam hervorgerutscht.
Sophie sagte: „ Papa, der Karpfen schnappt so komisch nach Luft.“ Herbert setzte den Karpfen wieder in das kühle Nass.
Max sagte weinerlich: „ Der Karpfen liegt ja wie tot auf der Seite.“ Herbert meinte ärgerlich: Der erholt sich wieder!“
Die Kinder schauten in Abständen ständig nach dem Karpfen. Nach Stunden schwamm der Karpfen wieder in der Badewanne.
„ Morgen schlachte ich den Karpfen“ sagte Vater Herbert.
„ Das geht nicht, das geht wirklich nicht,“ sagte Jutta „ wir müssen erst die aufgetauten Rouladen essen.“
Jutta verzögerte durch ihre Aussagen das Schlachten des Karpfens, Tag für Tag hinaus, was ihren Kindern recht war, und gefiel.
Am dritten Januar kam der Heizungsmonteur Meyer, denn der Heizkessel war bei Schönbons defekt. Nach erfolgreicher Reparatur
fragte Jutta den Monteur, ob er nicht einen Karpfen wolle?
„Ja, ja“ meinte der Monteur, „ da habe ich einen schmackhaften Karpfen in Blau!
Mutter Schönborn wickelte den Spiegelkarpfen in ein nasses Handtuch ein, und übergab den Karpfen, dem vor Glück strahlenden Monteur.
Diese Übergabe konnte in aller Ruhe geschehen, denn ihr Mann war arbeiten, und ihre Kinder in der Schule.
Herbert , Sophie und Max vermissten den Karpfen.
Herbert konnte seinen Ärger nicht unterdrücken und sagte: „ Jutta,
du handelst oft kopflos und unüberlegt, als fehlen dir einige Windungen
im Gehirn!“
Jutta begann zu weinen, und die Kinder schauten bedeppert drein.
Herbert murmelte vor sich hin: „ Was mach ich nur, was mach ich nur?
Ich habe Hochwürden Langrock am Dreikönigstag zum Karpfenessen
eingeladen.“
Pünktlich gegen Mittag traf Hochwürden bei Schönborns ein. Frau Schönborn hatte Entenbraten vorbereitet, und dazu sollte es Rotkohl und
Thüringer Klöße geben. Als Hochwürden Langrock von dem zubereiteten
Essen erfuhr, schnalzte er mit der Zunge, und strich sich über seinen
rundlichen Bauch.
Er sagte zu Jutta: „ Meine Eltern hatten den Schlossteich vom Gut Albrechthof gepachtet, und da gab es häufig Karpfen.
Langrock meinte danach scherzhaft: „ Ich glaube, ich bestehe zu einer
Körperhälfte aus Karpfen.“
Hochwürden Langrock war ein Spaßvogel. Mit seinen Sprüchen, Zitaten und Anekdoten war er bei allen Gemeindemitgliedern gern gesehen.
Es kam sehr oft vor, das Hochwürden Langrock bei allen Festlichkeiten
von seinen Gemeindemitgliedern eingeladen wurde.
Nach dem Tischgebet, sprach Hochwürden Langrock immer die gleichen Worte: „ Gott hat uns zu unserem Wohle viel geschaffen, Vater im Himmel wir danken dir!“
Über den Spiegelkarpfen wurde nicht mehr gesprochen!

Wir können nur hoffen, dass der Karpfen dem Heizungsmonteur Meyer
geschmeckt hat!


© Jürgen


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Kommentare zu "Der Sylvesterkarpfen..."

Re: Der Sylvesterkarpfen...

Autor: Michael Dierl   Datum: 30.12.2021 18:48 Uhr

Kommentar: Eine sehr schöne Geschichte könnte fast real sein! Toll geschrieben, sehr plastisch erzählt.

lg Michael

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