Es war ihre erste Demo und sie war gespannt, was sie erwartete.
Einige Leute waren schon auf den Schillerplatz gekommen, Parents for Future mit ihren Kleinkindern und Grandparents for Future, Jugendliche legten Flyer aus auf den Tischen und probten die Lautsprecheranlage. Ein Polizist hielt sich in Warteposition auf seinem Motorrad, zwei andere sprachen angeregt mit einem Veranstalter nochmal die Route des Demonstrationszuges durch.
Dann kamen die Banner und einzelne Fahnen. Und jetzt die Ansprache einer Dame von Parents for Future. Besorgniserregend war die gesamte Lage in Deutschland, noch dazu die Situation vor Ort, in unserer Stadt. Gefordert war: Klimaneutrales Wohnen, ein Klimastadtplan, Energiewende mit Photovoltaik, Wind, Wasserstoff. Oder doch Atomstrom? Es gäbe viele Möglichkeiten, aber machen müsse man eben.
Nach der Ansprache formierte sich der Zug einer kleinen Gruppe. Zunächst kamen einzelne Jugendliche mit ihren Mikrofonen, dann die Banner und der Menschenzug. Und es wurde eingepeitscht: „Was wollen wir nicht? Kohle. Und was wollen wir? Öko jetzt! Handelt endlich, damit wir eine Zukunft haben!“
Viele Passanten schauten erstaunt, die Autofahrer etwas mürrisch, denn der Straßenverkehr wurde aufgehalten. Der Polizist auf seinem Motorrad fuhr stolz voran und schirmte die Gruppe der Demonstrierenden von den Autos ab.
Rose lief unmittelbar hinter dem Banner her, fand die ständig sich wiederholenden Durchsagen etwas laut, und schon waren sie auf der Sternkreuzung. Hier war eine Sitzblockade vorgesehen. Die ganze Gruppe legte oder setzte sich auf der Straße hin. Es war hart auf dem Asphalt, aber niemand kümmerte sich darum, dass er schmutzig wurde. Mehrere Polizisten sperrten die Kreuzung ab, und es gab einen Moment des Stillstands, etwa eine Minute, wo die Demonstrierenden ihre Parolen riefen und auf die Autofahrer schauten und die Autofahrer schauten auf die Sitzenden.
Weiter ging es in Richtung Fußgängerzone und an einer Schule vorbei. Gerade war Pause und viele Schüler standen auf dem Schulhof. Sie wurden aufgerufen, mitzuziehen und etwa 100 Jugendliche folgten den Aufforderungen, um nach zehn Minuten wieder zu ihrem Unterricht zurückzukehren. Doch es bildete sich ein harter Kern der Demonstrierenden, die danach aus etwa 50 Erwachsenen bestanden und einige von ihnen, die eifrig die Parolen riefen.
Zuletzt kam ein junges Pärchen aus der alternativen Szene hinzu und drängte sich an das Banner. Von den bürgerlichen Schülern wenig beachtet hatten sie etwas, dem sich nachfolgen und an dem sie sich im wahrsten Sinne des Wortes festhalten konnten.
Schon war der Demonstrationszug wieder nach einer Stunde am Schillerplatz angekommen und es gab die Schlussansprache. Jeder der Teilnehmenden hatte sich irgendetwas erhofft, wenigstens ein Zeichen zu setzen, und dann wurden die Banner eingerollt, die Lautsprecheranlage abgeschaltet und die Demo löste sich auf.
Bei lauen Lüften ging Rose an diesem Globalen Klimastreiktag nachdenklich nach Hause. Die kleine Wohnung war ihr Zuhause als Studentin, zweckmäßig eingerichtet, mit preiswerten selbstmontierten schwarzen Möbeln, Ballettpostern und Architekturaufnahmen an den Wänden und einem Kleiderschrank voller Second-Hand-Klamotten.
Sie hatte sich bewusst für Second-Hand entschieden, es war nicht nur eine Kostenfrage. In einem Vortrag hatte sie einmal gehört, dass Nicht-Bio-Baumwolle so von Pestiziden belastet sei, dass sie mindestens zehn mal gewaschen werden müsste, bis die Pestizide aus der Kleidung draußen wären. Und dann dieser Wasserverbrauch beim Herstellen von Baumwolle. Für ein Kilo Baumwolle werden 10.000 bis 17.000 Liter Wasser benötigt, in sehr trockenen Gegenden wie dem Sudan sogar bis zu 29.000 Liter Wasser. Damit war ihre Entscheidung gefallen, Second-Hand zu kaufen. Kunstfasern erzeugten Mikropartikel beim Waschen. Und sie trugen sich nicht so gut. Auch hatte sie von Nachrichten aus Afrika gehört, wo soviel Second-Hand-Kleidung landete, davon die Hälfte gut tragfähig, dass die dortige Textilindustrie keine Chance hatte, weitere Kleidung zu produzieren. Was konnte sie für Afrika tun? Nichts. Was konnte sie für ihr Land tun? Liebevoll strich sie über einen schwarzen Pullover im Schrank, den sie schon Jahre nicht mehr getragen hatte. Sie würde ihn zum Diakonieladen bringen und dort als Spende abgeben. Schließlich sollten andere etwas davon haben, die vielleicht nicht soviel Geld hatten. Sie hatte ein gutes Gefühl. Es würde ein weiteres gutes Gefühl sein, die Spende dann dort abzugeben und ein Dankeschön von den Ehrenamtlichen des Diakonieladens zu erhalten.
Nachdem sie Wasser für den Kaffee aufgekocht hatte, fiel ihr Blick auf die Unterlagen ihres Schreibtisches. Ach ja, Franz Exner. An der Uni hatte sie eine Vorlesung über ihn gehört. Sie studierte Geschichte, genauer gesagt auch Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. Und Franz Exner, ein Physiker, Koryphäe der Lehranstalt und Forscher, der vor etwa 100 Jahren gelebt hatte, ja, sie hatte auch ein Referat über ihn gehalten. Was nützt der völlig vergessene Franz Exner in der heutigen Zeit, fragte sich Rose. Er hatte den Zufall in die Naturwissenschaft gebracht. Es gab für ihn den Zufall und das Gesetz war ein Wahrscheinlichkeitsgesetz. Denn es konnte den Zufall nicht vorhersagen. Und die Welt war für ihn voller Zufälle.
Wir brauchen auch Zufälle und nicht nur logische und naturwissenschaftliche Berechnungen, um unsere Zukunft zu bestimmen, fand Rose.
Der Duft von Kaffee erfüllte den Raum, als es läutete. Es war Sven, der sie mit einem fast gehauchten Kuss begrüßte. – Und, warst du auf der Demo?
-Ja, waren phasenweise viele Kids dabei.
- Du bist blauäugig. Geht es dir jetzt besser?
- Ja, sagte sie mit einem bestimmten Gesichtsausdruck. - Magst du Kaffee?
Sie holte ihm auch eine bunte Tasse, schenkte ein und sie tranken schweigend. Dann sagte er:
-Du hälst dich an Exner und seinen Zufällen fest und siehst es als Lösung?
Sven hatte einen Blick auf ihren Schreibtisch geworfen.
- Warum?
Es überraschte sie immer, wie er ihre Gedanken lesen oder erahnen konnte. Sie überlegte einen Moment.
- Ach, das Ozonloch war doch auch ein Aufreger, und jetzt ist es phasenweise wieder zu.
- Ja, sagte Sven, aber es wird erst bis 2070 ganz geschlossen sein, und das Abnehmen geht auf den eingeschränkten Verbrauch von FCKW zurück. Nichts mit Zufall.
Er nahm sie in den Arm und beide hielten einen Moment inne.
-Das Glück im Innen und das Glück im Außen sind zwei paar Dinge, sagte sie.
- Lass uns einen Spaziergang machen, meinte Sven. Beide zogen ihre dünnen Jacken an und gingen hinaus.
Es war später Nachmittag, das Jahr viel zu trocken und eines der trockensten seit der Wetteraufzeichnung. Teilweise waren Heckenbüschel und Rasen verbrannt von der sengenden Hitze der vergangenen Tage.
-Siehst du das? fragte Sven und hielt ein vertrocknetes Heckenbüschel in den Händen.
-Ja, Sonnenbrand, warf Rose ein. Sie umarmten sich und liefen den Gehsteig entlang. Dabei neckten sie sich und jeder versuchte, den anderen vom Weg wegzuschubsen.
- Willst du mich loswerden? schnaubte Sven empört.
- Wozu, entgegnete Rose, ich werde dich sowieso wiederfinden.
Du meinst, es war Zufall, dass wir uns kennengelernt haben, aber hinter jedem Zufall verbirgt sich Gottes Wirken. Es war einfach göttlich.
-Ja, ja, diese Geschichte, lachte Sven, denn Rose erzählte sie öfters.
- Du hattest dich an acht Unis beworben, in ganz Deutschland....Und dann bist du ausgerechnet nach Stuttgart gekommen. Und ich bin an die nahe gelegene Uni gegangen. Es war eine Veranstaltung des Studium Generale, ein Vortrag über Architektur, wie er immer wieder stattfindet. Ich war noch nicht lange an der Uni, kannte kaum jemanden, bin alleine zum Vortrag gegangen. Dann habe ich dich gesehen und ich wusste, du bist es, für alles, ein Gefühl, nein, ich muss sagen eine Welle hatte mich erfasst und ich war selig. Der ganze Vortrag, ich habe ihn kaum mitbekommen, denn ich habe die ganze Zeit nur nach dir geschaut. Wie du deinen Körper hälst, wie du dich bewegst, dein Gesicht, deine Nase und deine Augen. Du bist einfach wunderschön.
In dem Vortrag ging es irgendwie um Statik und alles war Statik, mein ganzes Leben fühlte sich an, als ob es Statik bekäme. Es war so bedeutungsvoll.
Endlich war der Vortrag zu Ende und ich konnte dich ansprechen. Du standest noch mit einem Jungen zusammen, aber ich habe mich einfach dazwischengeschoben.
-Toller Vortrag, sagte ich zu dir, ich habe dich an der Uni noch nie gesehen, wo versteckst du dich denn? Ich hatte es aufgeregt zu dir gesagt, der Rest war Legende, unser erstes Gespräch, die vielen Treffen und jetzt sind wir zusammen.
-Es war Schicksal, sagte Rose bedeutungsschwer.
-Nein, es war Zufall, meinte Sven. Musst du dazu immer höhere Mächte bemühen?
-Es ist genauso wie beim atomaren Zerfall. Welches Atom kommt als nächstes? Da geht es auch mit Zufall zu. An diesem Punkt lachte Sven immer und ihre Diskussion brach ab.
Sie schwenkten auf den Rückweg ein. Dabei kamen sie an einem türkischen Lokal entlang. Die Coronabeschränkungen waren vorbei und das Schnellrestaurant war gefüllt mit Gästen. Einzelne standen an der Theke und warteten darauf, ihre bestellten Speisen abzuholen. Gegrillte Gerichte, köstliches Essen; ihre Eltern würden sie wieder einmal hierhin einladen.
-Ich habe noch Hackfleisch für Spaghetti Bolognese heute Abend, warf Rose ein. Sie vertrat die Ansicht, das menschliche Gebiss sei dies eines Mischköstlers und so wolle sie auch essen.
-Ich habe schon Hunger…, sagte Sven und sah sie zweideutig an.
Rose erinnerte sich an ihre zahlreichen Dates und dass sie sich in keinen dieser Männer verliebt hatte, nur in Sven.
Ein Date war ihr besonders in Erinnerung geblieben.
Sie hatte sich auf einer Online-Plattform angemeldet, das Profil ausgefüllt und ein Bild hochgeladen. Der Text sollte viele Männer ansprechen und sie wollte sich offen und unabhängig geben. Es gab einzelne Chats mit interessanten Männern, mit einem sogar zwei interessante Telefongespräche, bei denen er viel von sich erzählte. Dann kam das Date. Er lud sie nach Ulm auf ein Festival ein. Dazu holte er sie vom Bahnhof ab, zeigte ihr die Stadt und das Fischerviertel, das mit seinen Brücken und Wasserverläufen, Lokalen und blühendem Blumenschmuck an den Hauswänden besonders war. Dann ging es mit einem Shuttlebus zum Festival auf die Burg, die größte gut erhaltene Festungsanlage in Deutschland, wie ihr Stadtführer betonte. Es ging durch edle Villenviertel. Oben angekommen war die Band schon aufgestellt. Ihr Partner für diesen Tag holte eine Thermoskanne aus seinem Rucksack und zwei Blechtassen mit wegklappbaren Henkeln und goss Bio-Kaffee ein. Er kaufe nur Bioprodukte, versuchte ihr Partner für diesen Tag Punkte bei ihr zu machen. Es koste natürlich, aber er kenne sich mit den Bioläden gut aus, wolle ihr, wenn sie zusammenseien, auch ein Bio-Baumwollstück aus der Boutique kaufen. Dass er das schon bei seiner Ex gemacht habe, erfreute sie weniger.
Bald setzte die Band ein mit Soul und Pop-Songs. Die Kehle der Sängerin war untrainiert und kratzig vom Zigarettenkonsum, erst nach einigen Liedern wurde ihre Stimme geschmeidiger.
Ihr Partner für den Tag sprach wenig, denn die Musik war zu laut. Viele Biergartenbänke waren gefüllt mit Jüngeren und Älteren. Dann wischte er mit den Händen mit. Es sah seltsam aus und erinnerte an einen Scheibenwischer, weil er die Finger abspreizte, im Takt hin und her wedelte, als wolle er damit Tische und Fenster reinigen.
-Wollen wir mal tanzen? meinte ihr Gastgeber.
Sie ließ sich nicht zweimal bitten, wurde von ihrem Gegenüber dafür überrascht angesehen. Auf einer freien Kiesfläche gab sie Freestyle, von den anderen Gästen kaum beachtet. Sie tanzte mit ihm maßvoll. Es kamen aber trotzdem keine Gefühle auf, der Mann war zu fremd, die anderen Besucher als vermeintliche Beobachter der Szene waren auch nicht hilfreich.
Zuletzt zeigte er ihr noch ein paar Drehungen, bevor sie mit dem Shuttlebus wieder zurückfuhren. Sie warfen einen vermeintlichen Blick auf das beleuchtete Ulm in der Abenddämmerung. Wo waren die romantischen Gefühle geblieben? Sie kamen nicht.
Es folgten nur noch Chat-Schreibereien. Treffen wir uns nochmal, wann hast du Zeit? Und dann kam das Angebot: Treffen wir uns abends bei dir, ich bringe CD´s mit Musik mit und wir tanzen bei dir. Ich zeige dir auch noch ein paar Schritte.
Sie hatte ein ungutes Gefühl. Abends war keine Stadtführung mehr möglich. Er wollte gar nichts mehr anschauen. Mit ihr reden? Fehlanzeige. Kein einziges Telefonat. War schon alles gesagt, alles besprochen, alles abgecheckt? Sie war enttäuscht und sagte den Tanzabend ab und dass sie nichts mehr von ihm hören wollte. Definitiv.
Die beiden waren bei Roses Wohnung angekommen. Die frische Luft und die Bewegung hatten gut getan, denn ansonsten war viel Sitzfleisch für die beiden Studenten notwendig.
Nachdem sie gemeinsam gekocht und gegessen hatten, wollte Rose tanzen. Paartanz natürlich. Ihre Körper fühlten sich weich und warm an, während Pop-Musik aus dem Radio drang. Gerade lief der Song „Bridge over troubled Water“ von Simon & Garfunkle.
-Weißt du, meinte Sven begeistert, ich möchte am liebsten mit dir durch mein ganzes Leben tanzen.
Es wurde Nacht.
Sven mochte Roses Haut. Sie war samtweich, wenn er sie streichelte und anfasste. Wie sie das hinbekam, wusste er nicht. War es die gelegentliche Pflege mit Körperlotion oder das gelegentliche Waschen nur mit Wasser? Es blieb ihm ein Rätsel. Er liebte ihren Körper.
Am nächsten Tag regnete es. Nach dem gemeinsamen Frühstück kehrten die beiden Studenten an ihre Arbeit zurück. Der Tag wurde von einem Telefonat Roses mit ihrer Mutter unterbrochen.
-Du warst auf einer Demo?, fragte ihre Mutter aufgeregt. Ist das nicht gefährlich?
- Nein, entgegnete Rose, das ist nicht so wie in früheren Jahren. Es war harmlos und völlig gewaltfrei. Das war nicht Stuttgart 21. Es gab keine Neo-Nazis und auch keine Klimaschutzgegner auf der Kundgebung. Alles war überschaubar und friedlich.
Ihre Mutter war nicht beruhigt und ermahnte sie.
-Pass bloß auf.
Der Sonntag stand unter dem Zeichen von ungetrübtem Sonnenschein. Rose und Sven wollten mit einem befreundeten Paar zum Wandern gehen. Claudia und Martin holten sie ab.
Sie fuhren mit dem Auto los und wollten die Tour Lauterburg-Ruine Rosenstein-Sedelfelsen und die Höhle Finsteres Loch erwandern.
Als sie auf dem Parkplatz hielten, meinte Martin, es wäre ein wunderschöner Wald und gar keine Schäden an den Bäumen erkennbar. Die Aussicht auf das Tal war unvergleichlich und sie fingen an zu wandern. Der erste Teil führte durch einen dichten Wald.
-Weißt du, dass mehr Menschen im sogenannten Wald-Holz-Komplex arbeiten als in der Autoindustrie in Deutschland?, begann Sven. Das wusste niemand.
Am Vortag hatte es stark geregnet. Es gab überall rutschige Stellen.
-Die Wälder filtern unser Wasser, setzte Rose nach. Und dann war sie in ihrem Element.
-Das Wasser aus diesen Quellen schmeckt ganz anders als aus herkömmlichen Quellen. Und natürlich ist der Wald eine Kohlenstoffsenke. Er entzieht der Atmosphäre Kohlendioxid und bindet es, bis es beim Verbrennen von Holz wieder freigesetzt wird. Die Bäume benötigen Kohlenstoffdioxid, um wachsen zu können, das sogenannte Treibhausgas. Durch biochemische Vorgänge, der Fotosynthese, wird Wasser, Sonnenlicht und Kohlendioxid in Blättern, Zweigen und Stämmen gespeichert. Solange der Wald wächst, nimmt er mehr Kohlendioxid auf als er abgibt und bildet damit eine Kohlenstoffsenke.
-Stimmt, sagte Sven. Wir haben hier in Deutschland etwa ein Drittel der Fläche bewaldet. Laut Kohlenstoffinventur von 2017 speicherte der deutsche Wald über eine Milliarde Tonnen Kohlenstoff in der lebenden Biomasse.
Claudia war von den Zahlendimensionen beeindruckt. Martin wollte etwas beitragen.
-Die Bäume leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Erreichen der nationalen Klimaziele.
-Wie ist das mit Totholz?, fragte Martin.
-Etwa 33 Mio. Tonnen stecken im Totholz und etwa 62 Mio. Tonnen werden jährlich der Atmosphäre entzogen.
-Man könnte noch mehr mit Holz bauen, denn Beton hat eine schlechte Öko-Bilanz, meinte Rose.
-Es gab kürzlich eine Ausstellung in Göppingen über private neue Holzbauten in der Region. Das sind alles wertvolle Ansätze.
-Der Waldumbau ist wichtig, warf Sven ein. Das ist ein langwieriges Unterfangen. Was wir bemerken können, ist, dass im Schutz der noch vorhandenen Fichten- und Kiefernwäldern die Baumarten der Bergmischwälder, also vor allem Buchen, Tannen und Eichen heranwachsen. Dabei müssen die Standorte stimmen hinsichtlich Nährkraft, Wasserversorgung und dem Klima. Diese Naturverjüngung kann von alleine geschehen, durch Saat oder durch Pflanzung. Ein Waldumbauprogramm ist auf etwa 50 Jahre angelegt. Manche Bäume benötigen 70 Jahre, bis sie ausgewachsen sind und gefällt werden können.
-Dem Wald geht es schlecht, gab Rose zu bedenken, besonders der Waldzustandsbericht ist jedes Jahr eine Hiobsbotschaft. Stichwort Klimawandel: die Reihe von heißen, trockenen Sommern haben die Waldzustandsberichte der letzten Jahre als Ursache für die massiven Schäden in den deutschen Wäldern ausgemacht. Er sieht es als „große Aufgabe“, dass die Politik und die Forstwirtschaft die verbliebenen Wälder stabilisiert, die geschädigten Waldflächen wieder bewaldet und sie so gestaltet, dass sie wieder dem Klimawandel standhalten.
-In den Untersuchungen kommen auch Baumarten vor, die in anderen klimatischen Gegenden beheimatet sind. Etwa die Douglasie oder Zedernarten. Aber die Eiche schneidet noch recht gut ab.
-Weißt du, wieviel eine Douglasie an Geld bringt?, fragte Martin,
-Jede Menge, ist ein beliebtes Holz etwa für Schiffsinnenbau. Und sehr teuer. Das Holz wird auf dem Markt versteigert, soviel ich weiß.
-Schade, dass man nur mit Holz aus dem Wald Geld machen kann, sagte Claudia.
-Nein, mit Wild auch, warf Martin ein. Wenn ich da an Reh- oder Wildschweinbraten denke…
-Ja, das Schalenwild, ergänzte Sven. Ist auch ein Problem für die Wälder. Schalenwild nennen sie die jagdbaren Paarhufer. Sie sind der schwerwiegendste Schadfaktor. Bedeutungsvoller als Borkenkäfer, nadel- und blattfressende Insekten und Mäuse zusammen.
-Ich habe einmal gelesen, dass es bei den Jägern ein Bambi gar nicht geben darf, sagte Claudia. Sie dürfen keine Muttertiere erschießen, das ist im Jagdrecht Deutschlands eine Straftat. In diesem Fall kann man sämtliche waffen- und jagdrechtlichen Erlaubnisse verlieren und eine Geld- oder sogar Freiheitsstrafe erhalten.
-Wisst ihr, wie hoch der Schaden durch dieses Schalenwild ist? fragte Sven. Es wird geschätzt auf jährlich eine Milliarde Euro. Das Wild verhindert teilweise eine Waldverjüngung, weil es die Samen und Keimlinge äst, denn es gab millionenfache Anpflanzungen, aber es wuchs einfach nichts. Zudem beschädigt das Wild die Rinde der Bäume, wodurch sie Fäule bekommen und das Holz weniger wert ist.
-Soviel ist uns das Wildbret, die Trophäen und die Walderlebnisse wert., sagte Claudia.
Vor ihnen lief ein Pärchen, das Zigaretten rauchte.
-Wisst ihr, dass Waldbrände in Deutschland fast ausschließlich durch Menschen, zumeist durch Brandstiftung entstehen? Es gibt nur äußerst selten natürliche Waldbrände durch Blitzschläge, und aktive Vulkane, die ausbrechen könnten, haben wir in Deutschland nicht, sagte Sven.
-In anderen Teilen der Welt gehören Waldbrände zum Ökosystem, Samen geht bei der Hitze auf und platzt, bei uns nicht, sagte Rose.
-Waldbrände sind bei uns grundsätzlich vermeidbar und sollten es auch sein, sagte Sven energisch.
-Wir sind sehr schnell in der Waldbrandüberwachung, sagte Martin. Wir entdecken Waldbrände innerhalb von zehn Minuten nach der Entstehung und sind meistens schon innerhalb einer Stunde so weit, einem Waldbrand Einhalt zu gebieten, bevor er eine Fläche von einem Hektar erreicht. Was wir in den letzten Jahren an Bränden gesehen haben, waren Ausnahmen gewesen. Es waren frühere Truppenübungsplätze betroffen, auf denen wegen der Munitions-belastung grundsätzlich nicht gelöscht werden darf. Nur deshalb wurden diese Waldbrände so groß.
-Nicht zu vergessen die Borkenkäfer, sagte Rose. Sie hatte eine Führung im Stadtwald von Göppingen mitgemacht und war sehr engagiert.
-Der Borkenkäfer ist einer von den „rindenbrütenden Insekten“, führte sie aus.
-Es gibt da auch verschiedene Arten, aber der Borkenkäfer heißt so, weil er zumeist unter der Borke lebt und seine Larven legt. Dabei zerstören diese Insekten die Nährstoff- und Wasserversorgung des Baumes, was ihn absterben lässt. Die Weibchen können bis zu dreimal pro Jahr Eier legen und haben mehrere „Geschwisterbruten“. Nach ungefähr sechs Wochen sind die Nachkommen unter idealen Bedingungen geschlechtsreif. So kann ein Weibchen es innerhalb von einem Jahr auf etwa eine Viertelmillion Nachkommen bringen.

Es gibt etwa 110 verschiedene Borkenkäferarten. Höchstens 20 davon neigen zu Massenvermehrungen, aber auch die anderen können bedeutsam sein und große Schäden verursachen. Die Nadelbäume können sich mit Harz wehren. Um das harz produzieren zu können, benötigen die Bäume allerdings viel Wasser und eine hohe Luftfeuchtigkeit. In heißen und regenarmen Jahren können die Bäume nicht genug Harz produzieren. Dann befallen die Borkenkäfer die Bäume, denn sie können diese an ihren chemikalischen Mustern erkennen.
In einigen Gegenden unternimmt man gar nichts gegen den Borkenkäferbefall. „Der Wald soll sich selbst reparieren“. Dann setzt man auf andere Witterungsverhältnisse, sodass sich die Bäume wieder erholen können. Anderswo werden die befallenen Bäume entfernt, damit sich der Borkenkäfer nicht mehr so leicht ausbreiten kann.
-Du warst kürzlich auf einer Demo für Fridays for Future. Wie alt ist diese Bewegung eigentlich?, fragte Claudia.
- Die Gründerin Greta Thunberg tauchte am 20. August 2018 zum ersten Mal vor dem Schwedischen Reichstag auf, um vor der Klimakrise zu warnen. Die Diskussion ist mindestens 30 Jahre alt. So lange ist es etwa her, dass die Wissenschaft den Zusammenhang zwischen den von Menschen gemachten Treibhausgasemissionen und den global steigenden Temperaturen zweifelsfrei nachgewiesen hat. Bereits in den 1990er Jahren warnte Al Gore vor dem „climate change“. Es gibt einen Film dazu, „An inconvenient Truth“, er wurde von Millionen Menschen auf der ganzen Welt gesehen. Darin spricht Al Gore über die Erderwärmung und ihre Folgen. Dafür wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet und erhielt zusammen mit dem Weltklimarat den Friedensnobelpreis.
Laut Weltklimarat käme es bis zum Jahr 2100 zu einem Temperatur-anstieg von bis zu 5 Grad, sollten die Treibhausgasemissionen weiter steigen.
-Ist es schon zu spät?, fragte Claudia.
-Das Klima reagiert langsam, warf Sven ein.
-Wir können die Erderwärmung auf 1,5, Grad halten, heute liegt sie bei 1,2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, bekräftigte Rose.
Die Treibhausgase bauen sich sehr langsam ab, aber in dem Moment, indem wir keine Treibhausgase mehr ausstoßen, würden die natürlichen Senken der Atmosphäre Treibhausgase entziehen. Das heißt: Meere, Moore, Wälder und so weiter würden die Gase binden, und der Gehalt von Kohlendioxid in der Atmosphäre würde allmählich verringert. Wir würden also tatsächlich unter eine Erderwärmung unter 1,5 Grad kommen. Dies ist das Ziel, das auf dem Pariser Klimagipfel vereinbart worden ist.
Dieses Klimaziel von 1,5 Grad ist sehr wichtig, denn ein höherer Anstieg hätte zur Folge, dass der Meeresspiegel ansteigt und niedrig gelegene Küstengebiete und Deltas überflutet werden. Zudem gäbe es mehr Salzwassereintrag, Überflutungen und eine Schädigung der Infrastruktur.
Es gäbe größere Anpassungschancen und die Küstenökosysteme zu renaturieren und die Infrastruktur zu stärken.
Zuletzt hängt es davon ab, ob wir als diejenigen, die für den Klimawandel verantwortlich sind, unser Verhalten ändern und andere davon überzeugen, mitzumachen. Keine Verbrennung fossiler Energieträger, eine Kohlendioxid-Bepreisung, klimaschädliche Subventionen abbauen oder andere Maßnahmen.
Es helfen uns dabei Zufälle. Etwa beim Atomausstieg. Der Reaktorunfall in Fukushima hat dazu beigetragen, dass wir in Deutschland aus der Kernenergie ausgestiegen sind. Auf den anderen Tag haben wir ein paar Atomkraftwerke abgeschaltet, und es ist nichts passiert. Am nächsten Tag sind nicht die Lichter ausgegangen.
Zudem sind wir mit den erneuerbaren Energien weit gekommen. Im Jahr 2021 haben wir schon 50 Prozent unseres Stroms durch erneuerbare Energien gewonnen.
Der Wald roch feucht. Sie waren kurz vor der Höhle Finsteres Loch und es lag ein steiler Hang vor ihnen, durchwachsen mit Wurzelwerk, nass und rutschig vom Regen des vergangenen Tages.
Claudia strauchelte mehrmals, lief aber mit raschem Tempo den Hang hinunter.
-Es wäre besser, du hättest Wanderstöcke wie wir, sagte Rose.
Und dann passierte es. Sie stürzte und rollte seitwärts ein langes Stück den Hang hinunter und an Rose und Sven vorbei. Immer wenn sie aufschlug, gab es einen dumpfen Klang, als würde etwas bollern.
Rose versuchte, sie aufzufangen, da blieb Claudia liegen. Die Brille hatte eine Blutspur in ihrem Gesicht hinterlassen, die freien Arme zeigten Schürfungen vom Aufschlagen auf dem Wurzelgeflecht. Sie wirkte völlig apathisch und geschockt.
Sven holte Verbandszeug aus seinem Rucksack und klebte notdürftig die blutenden Stellen ab.
-Da kann man jetzt viel falsch machen, sagte er zu Rose.
-Wir müssen die Rettung rufen.
Rose rief die 112 von ihrem Handy aus an. -Wir sind eine Wandergruppe und hatten einen Unfall im Gelände. Eine Frau hat sich mehrmals überschlagen und ist den Hang hinuntergerollt. Sie blutet im Gesicht und an den Armen, gab Rose durch.- Wir sollen hier bleiben, o.k. und warten. ja, unseren Standort haben Sie. Gut.
-Die Bergwacht kommt, meinte Rose zu den anderen. Sie gab Claudia noch eine silbernfarbene Sitzunterlage und legte eine Jacke um ihre Schultern.
- Setz dich bequem hin. Kannst du die Finger bewegen? Immerhin.
- Ich habe überall Schmerzen, jammerte Claudia.
- Wenn du überall Schmerzen hast, das kommt von den vielen blauen Flecken an deinem Körper. Wer weiß, ob etwas gebrochen ist, mach langsam, nicht aufstehen, bleib sitzen.
Sie harrten neben Claudia aus und trösteten sie.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis zwei Fahrzeuge mit Martinshorn den oben gelegenen Wanderweg entlangfuhren. Dann kamen einzelne Vertreter der Bergwacht herbei und eilten den Hang zur Verletzten hinunter. Ein Arzt untersuchte sie und legte frischen Verband an. Sie brachten eine Trage, dann fing Claudia an zu weinen.
-Mach ein Foto von mir auf der Trage, in dem Zustand, bat sie Martin.
-Du stirbst doch nicht, was soll das? Martin war tief bewegt.
Aber als sie auf die Trage gebettet worden war, fotografierte er sie. Es nahm ihn sehr mit. Vier Männer trugen sie nach oben zu den Wägen. Das dauerte nochmal eine halbe Stunde, bis sie in den Rettungswagen verfrachtet werden konnte.
Für die anderen ging die Tour weiter. Es stand der Besuch der Höhle auf dem Programm. Dabei war es Rose unheimlich, denn das Finstere Loch war auch rutschig. Es rann Wasser herab und die Steine waren glitschig. Sie konnten mit ihren Taschenlampen nur einen Lichtkegel vor ihren Füßen sehen. Der Boden war uneben und mit felsigen Brocken übersät. Die Decke war niedrig und nach einiger Zeit gab es einen Ausgang an der Seite, der vergittert war. Rose reichten die Eindrücke und sie wollte schnell wieder zurück ans Tageslicht und in den Wald. Wie würde es Claudia gehen?
Sie liefen weiter ein Stück durch den Wald. Das Sonnenlicht malte Sterne ins Laubdach, teilweise roch es nach Holz und sie machten ein Rucksackvesper und setzten sich auf einen abgesägten Baumstamm. Es gab belegte Brötchen, geschnittenes Obst und Gemüse und Wasser.
Dann rief Claudia bei Martin an. Es gehe ihr gut, sie hätte sich nichts gebrochen. Ihr Bruder würde sie nach Hause fahren. Martin war erleichtert. Dennoch hatte dieser Sturz eine große Erschütterung bei der Wandergruppe hinterlassen. Die Tour war gefährlich, besonders einen Tag nachdem es geregnet hatte und viele Stellen im Wald noch nass waren.
Sie sahen sich noch die Ruine Rosenstein an. Es führte eine schmale Hängebrücke hinüber. Am Brückengeländer hingen zahlreiche kleine Schlösser. An der Ruine angekommen, sahen sie das Schild „Betreten verboten“. Oben saß ein Pärchen auf der Mauer und genoss die Aussicht. Auch von unten war der Ausblick phänomenal. Für Rose bedeutete es Weite und alles hinter sich zu lassen.
-Schade, dass nur eine Wand steht, meinte Sven.
Sie machten sich auf den Heimweg zurück zum Parkplatz.
Nachdem Sven Martin abgesetzt hatte, fuhren sie nach Hause.
Es war später Nachmittag und sie tranken noch einen Kaffee in der Küche.
-Ich bin zufrieden mit den vergangenen Tagen. Wir haben über viel gesprochen, meinte Rose. Und dass man Hoffnung haben muss in dieser Zeit. Wir können einen Beitrag leisten.
Dann wurde es Nacht. Roses Haut roch nach Vanille, Svens Haut nach Buchenlaub. Ihre Gerüche vermischten sich nach und nach.


© Karin Schaffer


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