Eines Tages baute der Staat grosse Röhren, so hoch wie Fabrikhallen und so lange wie grosse Bahnhöfe. Die Menschen strömten bei Wind und Wetter in diese Röhren und blieben darin stehen. Aus einem Lautsprecher ertönte immer dieselbe Stimme. Die Menschen hörten der Stimme zu. In den Röhren war es dunkel, einige fürchteten sich, andere waren einfach nur angespannt, was kommen würde. Die Menschen kamen nicht freiwillig, irgendjemand hatte ihnen gesagt, dass sie in den Röhren erscheinen müssten, sonst würde etwas Schreckliches passieren, mit ihnen, ihrer Familie, ihren Bekannten oder ihrem Freundeskreis. Einige kamen noch als Menschen aus den Röhren, andere hatten den Verstand abgegeben oder verloren und bewegten sich wie Tiere oder gaben merkwürdige Sätze von sich.

Eines Tages wurde ein Mann bewusstlos unweit der grössten Röhre im Land gefunden. Man hatte ihn in dieser Gegend noch kaum gesehen. Er schrie um Hilfe. Wie es der Zufall wollte, erkannte die Frau, die den Mann gefunden hatte, die Stimme des Mannes. Es war dieselbe Stimme, die man auch immer wieder in den Röhren hören konnte. Soll ich ihn liegen oder sterben lassen, dachte sie zuerst. Aus lauter Angst, es könnte herauskommen, wenn sie ihm nicht geholfen hätte, schrie sie in alle Richtungen, bis andere Menschen herbeieilten und den Mann in Sicherheit brachten. Die Frau sah den Mann nie wieder.

Doch jedes Mal, wenn sie aus lauter Angst in einer der Röhren stand und die Stimme des Mannes hörte, fragte sie sich, warum sie nicht mutiger gewesen war. Und sie hörte die Stimme des Mannes, dessen hilfloses Gesicht sie nie vergessen konnte, noch lange in ihren Ohren. Und als sie Jahre später wieder einmal eine Röhre verlassen hatte, brach sie zusammen und war sofort tot. Wie Augenzeugen berichteten, soll ihr Gang dem von aufrechten Menschen geglichen haben.


© René Oberholzer


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