5. Aufzug, 7. Auftritt

Im folgenden Auftritt soll die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen zweiten, parallel verlaufenden Handlungsstrang gerichtet werden. Während Odoardo im Palais weiterhin auf seine Tochter wartet, wird die Gräfin Orsina in der Stadt eine Revolte entfachen. Vom Betrug des Prinzen gekränkt, wird sie das Volk in einer entflammenden Rede mobilisieren, in welcher es an motivierenden Ausdrücken wie Freiheit und Gerechtigkeit wahrhaft nicht mangeln wird. In der Zwischenzeit ist Odoardo im Beisein seiner Tochter und wird ihr vom Tod Appianis, von den Intrigen und Ungerechtigkeiten des Prinzen erzählen. Emilia, vom Vater förmlich zum Selbstmord gedrängt, wird im Angesicht dieser vermeintlich ausweglosen Situation ihre Welt und deren Regeln in einem tiefgreifenden Monolog in Frage stellen. Derweilen sammelt sich das Volk vorm Balkon des Prinzen. Die Forderungen nach Reformen oder Abdankung wird er ablehnen. Das Volk wird das Schloss stürmen und der Prinz wird, zusammen mit Marinelli, in letzter Sekunde fliehen. Am Ende werden sowohl der Tod Emilias, als auch der weitere Verlauf der Revolte und das Schicksal der beiden geflüchteten im Unklaren bleiben.

Bühnenbild: Die Bühne ist während der Szene zweigeteilt. Die rechte Hälfte zeigt einen Saal des Schlosses, in dem Emilia und Odoardo aufeinandertreffen. Die Linke Hälfte zeigt den Vorplatz des Schlosses bzw. den Marktplatz im Stadtzentrum, am Schluss eine Kutsche in voller Fahrt. Die Bühnenhälfte, in der gespielt wird, ist jeweils erleuchtet, die andere liegt im Dunkeln.

(Die Gräfin Orsina passiert soeben die Tore des Schlosses. Vor diesem verläuft eine Straße. In der einen Richtung liegt ihr Anwesen, in der anderen die Stadt.)
Orsina: Wagt es dieser lächerliche Duodezfürst mich wegen einer Bürgerlichen zu verlassen. Frechheit! (bleibt stehen und schaut nachdenklich auf die Straße.) Odoardo mag nicht der beste Freund des Prinzen sein, jedoch besitzt er leider einen zu großen Untertanengeist, als das er den Prinzen erstechen würde. Das macht die Bestrafung des Prinzen also fraglich. Nein, ich muss selbst handeln, aber wie? Welche Möglichkeiten bietet mir die Welt, um dem Schurken Gonzaga seine gerechte Strafe zukommen zu lassen? (Denkt nach. Währenddessen lässt sie ihren Blick umherstreifen. ) Heureka! (Ihr Blick fällt auf die Stadt). Guastalla hat Jahrhunderte lang die Willkür seiner Fürsten ertragen müssen. Ich denke, dass die Zeit mittlerweile reif genug für einen Systemwechsel ist. Lohnt die Mühe denn überhaupt? (Denkt kurz nach) Ja, sie lohnt es. Diese Schmach, zugunsten einer Bürgerlichen versetzt zu werden, würde mich zum Gespött aller Fürstenhöfe machen. Lieber fege ich dieses ganze System hinweg. Haben denn die Aufklärer nicht Recht? Es ist im äußersten Maße ungerecht, dass die armen Untertanen der Willkür und den Gesetzen eines volksfeindlichen Despoten unterworfen sind. Kutscher!
Kutscher: Wünscht eure allergnädigste Durchlaucht zu ihrem Schloss zurückzukehren?
Orsina: Noch nicht, (wendet sich von ihm ab und spricht zum Publikum) denn zunächst werden wir noch für Gerechtigkeit in Guastalla sorgen.
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(Einige Minuten zuvor im Palast. Odoardo wartet in einem Saal auf seine Tochter)
Odoardo: Armes Emilchen, in der Blüte ihrer Jahre der Tugend beraubt zu werden. Was soll ich tun? Sie einfach mitnehmen kann ich nicht, der Prinz wünscht sie aus offiziellen Gründen am Fürstenhof zu behalten, ihn zu töten (holt Dolch heraus, sieht ich kurz an) fehlt mir der Mut (lässt ihn fallen). Was soll ich denn bloß tun, lieber Gott? Wer spricht da? Woher kommt diese Stimme? (Dreht sich schnell zu einer Seite) Was spricht sie? (Dreht sich zur anderen Seiten)Sie töten? (Zum Publikum) Mein liebes Emilchen im Namen der Tugend zu töten? (Denkt nach)Wieso denn ich? Wieso nicht einfach fliehen? (laut)Soll sie doch jener vor der Untugendhaftigkeit bewahren, der sie hineinzustürzen versucht hat, (wütend)seine allergnädigste Durchlaucht selbst!

(Emilia kommt in den Saal hinein)
(Während sie zum Vater läuft, schaut dieser sie mit tränenden Augen an und das Orchester spielt schwermütige Musik)
Emilia: Vater!
Odoardo: Emilia!
Emilia: Wie? Du hier, mein Vater?--Und nur Du?--Und meine Mutter? nicht hier?--Und der Graf, nicht hier? Und du so unruhig, mein Vater?
Odoardo: Und du so ruhig?
Emilia: Und dich erstaunt es? Ist also bereits alles Verloren? (Pause, beide sehen sich an) Dennoch sollte dich meine Ruhe nicht überraschen. Ruhe sollte man immer bewahren.
Odoardo: Selbst wenn der Graf tot ist?
Emilia: Appiani? So hatte Mutter doch Recht. In ihren tränendurchflossenen Augen schien ich die Wahrheit zu erkennen, als sie vorhin zu mir sprach. So sag, wo ist sie hin?
Odoardo: Auf dem Weg zur Stadt. Sie erwartet uns bereits.
Emilia: Was hält uns dann noch an diesem Ort. Lass uns gehen Vater, lass uns dies hinter uns lassen.
Odoardo: Du verkennst die Lage, Emilia. Nirgendwo hin kannst du gehen. Der Räuber hält dich in seinem Unterschlupf fest, unter dem Vorwand einer gerichtlichen Untersuchung hält er dich fest.
Emilia: Der Prinz?
Odoardo: Der Prinz Emilia, der Prinz ist der Urheber deines, unseres Unglücks.
Emilia: Wieso sollte er?
(schnelleres Sprechtempo)
Odoardo: Am Morgen sprach dich der Prinz in der Messe.
Emilia: Ja, aber..
Odoardo: Mit einer Vertraulichkeit! Mit einer Inbrunst!
Emilia: Es stimmt Vater, es stimmt!
Odoardo: Und am Nachmittag stirbt dein zukünftiger Gemahl vor den Toren von Dosalo.
Emilia: Vater!
Odoardo: Es war Mord Emilia, Mord. Er liebt dich, er konnte es nicht ertragen, dich in den Armen eines anderen Mannes zu wissen!
(Normales Sprechtempo)
Emilia: Warum nicht fliehen.
Odoardo: (Überhört es) Zu Grimaldi wird er dich bringen.
Emilia: Darf dieser Depot alles, war er möchte?!
Odoardo: Wohin ist deine Ruhe Emilia?
Emilia: Aber was nennst du ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man nicht sollte? Dulden, was man nicht dürfte? Was soll ich tun, Vater? Was soll ich tun? (Emilia sinkt zu Boden)
(Dramatischer Akkord.)
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(Währenddessen sitz Orsina in ihrer Kutsche auf dem Weg zur Stadt. Sie wendet sich an die Zuschauer.)
Orsina: Hat Emilia dieses Schicksal verdient? Nein. Ist ihr Schicksal gerecht? Ja. Denn gerecht ist, was der Staat befiehlt, und der Staat ist Hettore.
(Dramatischer Akkord.)
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(Marktplatz: Verkaufsstände, laute Rufe und viele Menschen Prägen das Bühnenbild.)
(Orsina steigt auf dem Marktplatz aus. Während sie aufs Podium zugeht, bemerken zwei Passanten ihre Ankunft.)
Passant 1: Ist das nicht die Gräfin Orsina, die Geliebte des Prinzen?
Passant 2: Kann schon sein.
Passant 1: Was treibt sie sich den hier beim Pöbel `rum? Das entspricht doch sonst nicht ihrer Würde.
Passant 2: Möglicherweise steht ihr Besuch mit dem Verhalten Claudia Galottis in Verbindung.
Passant 1: Sie kam vor kurzen in Eile aus Richtung Dosalo. Sicherlich ist hat`s der Prinz mal wieder zu weit getrieben.
Passant 2: Was soll`s, letzten Endes werden wie immer wir, die dummen Steuerzahler, als Untertanen, die Fehler seiner Durchlacht ausbaden müssen. Da schadet es sicherlich nicht der Gräfin zuzuhören, vielleicht kann sie ausnahmsweise etwas Licht in die Staatsgeschäfte des Prinzen bringen.
(Orsina ist auf Podium gestiegen. Sie verlangt Aufmerksamkeit und die Requisiten des Marktplatzes werden zur Seite geräumt. Die Menschen sammeln sich vor der Gräfin, dem Publikum halb zugewandt. Die Geräuschkulisse ebbt ab. Die Gräfin spricht zu den Zuschauern. )
Orsina: Delenda Karthago, wie schon Cato der Ältere in Bezug auf die Feinde des Volkes zu sagen pflegte, so sage ich nun delenda domitatio tyranni! Kant beschrieb den Menschen als vernunftbegabtes Wesen. Wo bleibt eure Vernunft, dass ihr alle blind umherwandert und einen Mord vor der eigenen Haustür nicht einmal bemerkt, obwohl der Verbrecher direkt neben euch haust? Vor wenigen Stunden entschloss sich der Prinz zu einem Coup ohne gleichen. Den Grafen Appiani und seine Braut, die tugendhafte und unschuldige Emilia Galotti, lockte er bei Dosalo in einen Hinterhalt. Seine Männer überfielen die Kutsche des Paares und ermordeten schließlich den armen Appiani im Angesicht seiner Geliebten. Emilia, die arme, rettete sich nach Dosalo vor den vermeintlichen Räubern. In die Falle lief das unschuldige Wesen. Doch damit nicht genug, entreißt er den angesehen und gutherzigen Eltern deren einziges Kind vor ihren Augen. Mit welcher Begründung? Er ist der Prinz, er ist niemandem Rechenschaft schuldig. Er braucht sich lediglich einen Grund auszudenken, und sei er auch noch so banal, niemand wird es jemals wagen, diesen in Frage zu stellen.
Aufklärung ist die Maxime, selber zu denken. Doch die Furcht vor der angedrohten Gefahr ließ in euren Augen die Untätigkeit wünschenswerter erscheinen und ihr entschlosst euch, das Denken zu lassen. Darum beutet euch der Prinz aus, darum werden die Träume der Aufklärer von Freiheit und Recht sich in Guastalla nie erfüllen. Wer sich zum Wurm macht, soll nicht klagen, wenn er getreten wird!
Viele von euch sehen sich als Teil einer gebildeten Gesellschaftsschicht, mit Recht. Folgerichtig erkannte aber schon Voltaire, dass je mehr einer weiß, desto mehr bezweifelt er. Eure Bildung ließ euch weiter in der Untätigkeit beharren. Sie nahm euch die Entschlusskraft und ließ euch weiterhin jeden Tag schön Steuern zahlen, damit der Prinz, in Selbstverständlichkeit seines Amtes, sich ein wundervolles Leben leisten konnte. Eure Untätigkeit ließ die Dekadenz und Willkür des Prinzen siegen, denn Gesellschaftlich ist kaum etwas so erfolgreich, wie Dummheit mit guten Manieren.
Nur wenige Menschen begreifen, wie nützlich es ist, dass man, um in der Welt sein Glück zu machen, niemals erröte und alles wage. Was sollst du also tun, Volk von Guastalla. Befreie dich von deinen Fesseln und erhebe dich gegen das Tyrannengeschlecht, welches dich seit Jahrhunderten schon knechtet. Lasst uns Gerechtigkeit schaffen, gemeinsam. Der Prinz soll für sein Vergehen, nicht nur das jüngste, sondern für seine gesamte Willkürherrschaft einstehen. Brecht das marode absolutistische System, damit der Staat eine Verfassung habe. Denn von nun an soll in Guastalla nichts ohne den Willen seiner Bürger geschehen.
Lasst allen Hass und Wut aus euren Herzen raus. Erinnert euch: Wer ist Schuld an eurem Elend?
Masse: Der Prinz!
Orsina: Wer lässt euch Tag für Tag für sein Wohlergehen schwitzen und bluten, ohne je etwas im Gegenzug dafür zu tun?
Masse: Der Prinz!
Orsina: Wollt ihr in Guastalla für Emilia Galotti Gerechtigkeit schaffen?
Masse: Ja!
Orsina: Wollt ihr einen Rechtsstaat und eine Verfassung?
Masse: Ja!
Orsina: Soll die Gewalt hinfort vom Volke ausgehen, wie es die Aufklärer fordern?
Masse: Ja!
Orsina: Seid ihr bereit dafür zu kämpfen und, wenn nötig, sogar zu sterben, um euren Kindern eine bessere Zukunft zu geben?
Masse: Ja!
Bürger 1: Auf zum Schloss!
Bürger 2: Nieder mit dem Tyrannen
(Die Menschen verlassen die Bühne links, vorbei an der Gräfin.)
(Takte der Marseillaise.)
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(Im Schloss)
Odoardo: Bewahre deine Tugend, Emilchen.
Emilia: Sie bewahren, wie sollte ich sie bewahren Vater?
Odoardo: Deine Tugend ist über alle Gewalt dieser Welt erhaben.
Emilia: Aber nicht der Verführung! Vater. Gewalt heißt nichts, Verführung ist die wahre Gewalt! Vater, ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Ich erinnere mich noch gut an meinen letzten Besuch dort: Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! So soll ich dennoch meine Tugend und Unschuld bewahren?
Odoardo: Mehr den Je!
Emilia: Reich mir den Dolch, Vater!
Odoardo: Bist du von Sinnen, Emilia?! Du möchtest das ich dir den Dolch gebe, als handele es sich um eine bloße Haarnadel. Verkennst du, das dies eine Waffe, ein Mordwerkzeug ist. Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.
Emilia: Und nur eine Unschuld! (Greift nach dem Dolch.)
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(Auf der linken Bühnenhälfte wurde auf der rechten Seite der Balkon von Dosalo aufgebaut. Von links her stürmt das aufgebrachte Volk zum Fuße des Balkons des Prinzen. Hinter der Masse, unbemerkt, steht Orsina und beobachtet mit Zufriedenheit das Schauspiel. Der Balkon sowie ein Fenster des Schlosssaales trennen die beiden Bühnenhälften)
(Takte der Marseillaise.)
Bürger 2: ´Raus mit dem Prinzen.
Alle: ´Raus mit dem Prinzen! ´Raus mit dem Prinzen!
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(Im Schloss.)
Odoardo: (Nimmt ihr den Dolch aus der Hand.) Aber Emilia. (Sieht ihr in die Augen.)
(Die ganze Bühne wird beleuchtet. Emilia Hört die Menschenmenge und begibt sich zum Fenster)
Emilia: Vor dem Schloss haben sich die Bürger der Stadt versammelt. Sie scheinen den Prinzen zu verlangen. (Vater kommt dazu. Beide Beobachten die Ereignisse.)
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(Der Prinz zögert und schickt Marinelli vor. Er bleibt im Hintergrund und beobachtet mit Sorge die Vorgänge.)
Marinelli: Mit welchem Recht betretet ihr das Schloss des Prinzen?! Dies hier ist sein Privates Eigentum, darum habt ihr es sofort zu verlassen, sonst drohen euch Konsequenzen!
Bürger 3 (tritt aus der Masse vor): Mit Verlaub, aber sie sind nicht in der Position, uns Anweisungen zu diktieren!
Marinelli: Der Prinz ist das rechtmäßige Oberhaupt des Landes Guastalla. Als Bürger und Untertanen seiner Majestät, seid ihr ihm Gehorsam schuldig. Ich wiederhole: Verlasst den Besitz seiner Majestät! Andernfalls habt ihr mit Konsequenzen zu rechnen.
Bürger 4 (tritt aus der Masse vor): In Guastalla wird nun das Volk, Kraft seinem natürlichen Recht, die Staatsgeschäfte übernehmen. Sie können dies entweder anerkennen und sich dem Willen der Mehrheit fügen, oder sie werden mit dem Konsequenzen klarkommen müssen.
Marinelli: Welch´ eine Frechheit! Dieser Straßenpöbel wagt es, die rechtmäßige Macht seiner Majestät in Frage zu stellen?! Die Macht, welche das Geschlecht der Gonzaga seit Jahrhunderten nach Gottes Willen ausübt! Glaubt Ihr, Ihr könnt gegen den Ratschluss des Allmächtigen aufbegehren? Glaubt Ihr, Gott habe dem Fürsten nicht auch die Macht in Hände gelegt, um seine Ordnung zu verteidigen? Hütet Euch, dass der Zorn des Fürsten nicht den des alttestamentarischen Gottes noch in den Schatten stelle.
Bürger 4: Was der Prinz von seiner Macht hält möchten wir von ihm persönlich erfahren. Wir hatten verlangt, mit ihm, und nicht mit einem seiner Bediensteten, zu sprechen.
(Der Prinz betritt den Balkon. Geht direkt zur Veranda, praktisch ohne von Marinelli Notiz zu nehmen.)
Bürger 5 (tritt aus der Masse vor): Prinz Gonzaga. Wir haben Ihnen eine Reihe von Forderungen vorzutragen, im Namen der Bürger von Guastalla. (Pause) Erstens, die Staatsentscheidungen in Guastalla werden in Zukunft durch gewählte Vertreter des Volkes getroffen. (Paukenschlag) Zweitens, wir verlangen eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, nach dem Ideen des Herrn Montesquieu. (Paukenschlag Drittens, für alle Bürger Gustallas sollen die gleichen Rechte und Gesetze gelten. (Paukenschlag) Sie sollen jeden Bürger vor Ungerechtigkeiten im Staate schützen. Ihre Aufgabe wird sich zukünftig darauf beschränken, nach dem Willen des Parlaments die Regierung zu führen und die Sicherheit der Bürger und der Grenzen Guastallas zu garantieren. (Paukenschlag) En Letztes noch: Sollten sie außerstande sein, ihre Aufgaben im Staate zu erfüllen, so wird das Parlament ermächtigt, sie ihres Amtes zu entheben und sie vor einem Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. (Paukenschlag)
Bürger 2: Wie entscheiden sie sich? Für oder Gegen das Volk?
Der Prinz: Ich werde mich kurz beraten. (Geht ab.)
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(Im Schloss)
Emilia: Kann es wahr sein, Vater? Wird dem Prinzen nun ein Strich durch die Rechnung gemacht? Es scheint, als ob Guastalla endlich seine Freiheit erlangt.
Odoardo: Noch hat der Prinz nicht eingewilligt.
Emilia: Aber er wird. Das Volk ist aus seinem langen Winterschlaf erwacht. Die Menschen von Guastalla stehen entschlossen hinter ihren Zielen. Es wird Reformen geben, die Willkürherrschaft des Prinzen wird gestürzt werden. Jedermann hier wird frei sein und an dem neuen Staat ist es dann, allen diese Freiheit zu bewahren.
Odoardo: Was macht dich dessen so sicher?
Emilia: Die Menschen dort draußen sind alle Vernunftbegabte und tugendhafte Wesen. Es wäre gegen ihre Natur, würden sie anders reagieren.
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(Währenddessen tritt der Prinz, in Schweiß gebadet, an die Veranda des Balkons.)
Der Prinz: Ich lehne es ab, mich solch einer Bande von Räubern, Tagelöhnern und Volksverhetzern unterzuordnen!
Marinelli: (Tritt neben den Prinzen)Dann lasst uns fliehen, Herr! Hier sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher. (Beide laufen von der Bühne.)
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(Im Schloss.)
Emilia: Die Bürger werden ihm den Gehorsam verweigern. Seine gottgegebene Herrschaft wird fortan keinen Livre mehr Wert sein.
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(Vor dem Schloss)
Bürger 1:Tod dem Feind des Volkes! Tod, dem Prinzen!
Alle: Tod dem Prinzen!
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(Die Volksmasse klettert über die Veranda in das Schloss. Im Vordergrund stehen Emilia und ihr Vater, im Hintergrund zieht die Wütende Menge durch das Schloss.)
Emilia: Wie kann es sein, habe ich mich im Volke so sehr getäuscht? Wenn mich nicht der Prinz in die Untugendhaftigkeit reißt, so wird es dieser Pöbel alle Male. Gib mir den Dolch, Vater!
Odoardo: Du phantasierst, Emilia!
Emilia: Einst wohl gab es einen Vater, der, um seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum Zweiten das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von damals! Solche Väter gibt es keinen mehr!
Odoardo: Doch, meine Tochter, doch! (Gibt ihr den Dolch. Sie blickt ihn an, zögert jedoch.)
(Emilia tritt nach vorne, die wütende Menge verschwindet im Hintergrund.)
Emilia: Ist es wahr, was ich zu sehen glaube? Die einst so tugendhaften Bürger stürmen das Schloss und werden, wie der Prinz bei meiner Entführung, von den niedrigsten Instinkten geleitet. Wo ist ihre Tugend hin? Zusammen mit den Möbeln verbrannt? Oder besaßen sie gar niemals eine? War es lediglich der Anschein der Tugend, den ich wahrnahm?
Im Namen der Gerechtigkeit plündern sie?! Für die Ideen der Aufklärer brennen sie die Symbole des absolutistischen Systems nieder?! Tat der Prinz nicht eins dasselbe mit seinen Feinden? Ist etwa „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ ihre Devise?! Die Menschen haben die Dampfmaschine und das Thermometer erfunden, aber innerlich blieben sie bei Abel und Kain stehen?! Von Demagogen ließen sie sich verführen! Sie wurden mit Worten wie Gerechtigkeit, Freiheit und Volksherrschaft zu einem sinnlosen Opfergang überredet. Was ist denn gerecht? Das, was jeder Einzelne für gerecht hält? Es wäre Selbstjustiz und würde in Chaos und Anarchie enden! Freiheit, wovon? Nichts wäre törichter, als sich im Namen einer abstrakten und undefinierten Freiheit ins Schwert zu stürzen! Volksherrschaft?! Welche Garantien gibt die Geschichte für die Überlegenheit einer Volksherrschaft über die eines Einzelnen oder einer Gruppe? Hat die römische Republik letzten Endes nicht einen hundertjährigen Bürgerkrieg heraufbeschworen? Hat Peisistratos dem Volk Athens etwa nicht zur Blüte verholfen? Bezeichnete denn Platon die Herrschaft einer ausgewählten Gruppe nicht als die ideale Staatsform? Eine Volksherrschaft ist eine Staatsform wie jede andere. Sie hat Vorteile wie jede andere, aber es klebt auch Blut an ihren Händen, wie bei jeder anderen. Daher ist es sinnlos und untugendhaft, dieses Ziel als Rechtfertigung für untugendhaftes Verhalten zu sehen.
Zu hassen haben die Menschen gelernt! Gut, so hasst weiter, lasst es nicht schon beim Prinzen enden! Hasst seine Diener, die anderen Fürsten, hasst euch untereinander selber und hasst auch eure Familie! All sie verdienen es gehasst zu werden, denn auch sie taten fehl!
Aber ist Liebe nicht Sinnvoller als Hass und Friede wertvoller als Krieg? Der Mensch führt während seiner kurzen Existenz unzählige Kriege. Weshalb? Habgier und Dummheit lassen Völker bluten und untergehen. Seine Genialität vergeudet der Mensch indem er versucht, dem Nachbarn immer überlegen zu sein. Schiffe hat er gebaut, um sie mit Kanonen zu bestücken. Die Wirtschaft entwickelte er, um seine Heere zu versorgen oder dem Nachbarn zu schädigen. Ist es nicht sinnvoller Leben zu retten als zu vernichten?! Friede ist der Schlüssel zur Entwicklung, der Friede! Wird eine dieser modernen Dampfmaschinen friedlich eingesetzt, so vermag sie, viele hundert Menschen am Leben zu erhalten, viele hundert potentielle Forscher und Philosophen. Auf einem Kriegsschiff eingesetzt, vernichtet sie das Leben vieler hundert guter Matrosen und Kapitäne. Homo homini lupus, sonst nichts.
So sage denn, Vater, ist es denn nicht vernünftig, sich angesichts solch eines Übermaßes an Gewalt und Untugend das Leben zu nehmen, um das wertvollste in einem, die Tugend selbst, zu bewahren? (Sie hebt den Dolch.)
Odoardo: Halt ein, Emilia! Wenn nun ein jeder, dem die Tugend etwas gilt, den Freitod wählte, wir würden nimmermehr das Licht auf Erden sehen. Bedenke, ist es nicht unsere Pflicht, der Tugend gegen alle Widerstände treu zu bleiben?
Emilia: Oh, Vater! (Sinkt zu Boden, Licht geht aus)
(Dramatischer Akkord.)
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(Licht geht an. Der Prinz und Marinelli sitzen sich in einer Kutsche gegenüber. Die Kutsche rast in voller Fahrt durch die Landschaft.)
Der Prinz: Vom Pöbel aus meinem Schloss vertrieben und des Hab und Gutes Beraubt. Marinelli, sie werden sich für diese Katastrophe zu verantworten haben, sobald wir in Massa eintreffen!
Marinelli: Ich glaube, ihr verkennt, dass ich in Eurem Sinne und nach eurem Wunsche handelte. Doch einerlei, viel dringender dürfte sein, den Pöbel für seinen Verrat zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Prinz: Dieses durchtriebene Weibsbild von Orsina, wie kommt sie bloß dazu, sich mit dem Pöbel zu verbünden.
Marinelli: Majestät, hört mich an, was die Orsina kann, vermögen wir schon lange!
(Er zieht einen Katalog der US-Firma Academi aus seinem Mantel. Darauf ist in fetten Buchstaben zu lesen: „Got pissed off with your subjects? – Rent a Mob!“)
(Marcia Religiosa aus der „Pate II“)
(Das Licht wird langsam abgeblendet)


© Pepito


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Beschreibung des Autors zu "Ein alternatives Ende von Lessings ''Emilia Galotti'' im Stile einer Episierung"

Was wäre wenn, Gotthold Ephraim Lessing das Ende seines Dramas "Emilia Galotti" Bertolt Brecht überlassen hätte. Schauen wir mal!

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