Studium der Medizin kann sich sehr in die Länge ziehen. Doch nun stand ich da gestern Abend, im Beisein meiner Eltern und meiner Freundin Barbara und nahm mein Zertifikat entgegen. Der lang ersehnte Doktortitel. Bis zum darauf folgenden Morgengrauen schien ich geistig abwesend zu sein, denn meine Gedanken planten ohne große Gegenwehr meiner Gefühle mein komplettes zukünftiges Leben als Arzt. Würde ich ein guter Arzt sein? Einer, der nicht sorgenlos harte Medikamente verschreibt? Einer, der sich Zeit nimmt für seine Patienten, egal ob in einem Krankenhaus oder in einer privaten Praxis?

Barbara riss mich aus meiner Grübelei heraus und befahl mir, mit ihr zusammen die Nacht in München zum Tag zu machen.

„Auszugehen ist das, was du jetzt brauchst, Roman. Feiern wir, was du erreicht hast. Wenn wir ausreichend Getränke intus haben, präsentiere ich dir noch eine Überraschung, die deine Eltern und ich für dich geplant haben.“

In einer der größten Locations im Münchner Osten pumpten abwechselnd Electro Bässe und Latinoklänge durch die Halle. Meine Leute wussten, was mir gefällt. Zwischenzeitlich begann eine Happy Hour und drei meiner Studienkollegen brachten einen Mojito nach dem anderen an unseren Tisch. Es folgten unzählige Toilettenbesuche, auf denen ich feststellen konnte, dass Drogen allgegenwärtig sind. Ich wurde angequatscht, blockte aber ab. Die beiden Halbwüchsigen kümmerten sich nicht großartig darum, dass ich beim Händewaschen live dabei war, als sie mehrere Pillen gleichzeitig einwarfen und mit einer Alkoholmischung herunterspülten. Nun kamen sie wieder, meine Arztgedanken: Selbstverschuldete Drogenopfer. Das könnten bald meine Patienten sein.

Ich wischte diesen Satz schnell aus meinem Kopf und kam gut gelaunt zu meinen Leuten zurück, die während meiner Abwesenheit ein großes und selbst geschmücktes Kuvert auf dem Tisch postiert hatten.

„Überraschung, Roman!“, dröhnte es von allen Seiten, ich freute mich über soviel Aufmerksamkeit und umarmte meine Freundin.

„Los, aufmachen“, flüsterte sie mir ins Ohr.

„Es ist etwas ganz besonderes nur für uns Zwei. Nur soviel, wir werden noch einige Locations kennenlernen.“

Nun wurde ich wirklich neugierig. Der Umschlag war mit Palmen dekoriert und mit dem weißen Sand, der darauf klebte, musste es sich um irgendeine Form von Urlaub handeln. Ich öffnete es langsam und sah mich permanent freudestrahlend zu allen anderen um. Alle Freunde und Bekannten hatten bereits einen Kreis um mich gebildet und machten einen nervöseren Eindruck als ich selber.

Tatsächlich zog ich zwei Flugtickets nach Rio de Janeiro und eine luxuriöse Hotelbuchung für zwei Wochen am Zuckerhut heraus.

„Ich fliege natürlich mit!“, lachte Barbara. Sie ließ mich wissen, dass sie sich extra Jahresurlaub genommen hat.

„Ohne dich wäre ich auch nicht geflogen, Engerl! Und du brauchst mich auch für deine Shopping Tour in Rio. Irgendwer muss ja die ganzen Einkaufstaschen tragen.“

Sie sah mich verliebt an und erklärte mir stolz, dass ihr Koffer für kommenden Samstag bereits fertig gepackt in ihrer Wohnung bereitsteht. Selbst Impfungen an den zwei folgenden Tagen waren seitens meiner Eltern bereits angesetzt worden.

Flughafentreiben ist Aufbruchstimmung in die große weite Welt. Deshalb war ich auch in meiner Freizeit oft im Erdinger Moos. Nicht nur, um die Architektur des Münchner Flughafens zu bewundern. Es gab Geschäfte, Outlets und das Wuseln der Menschen aller Herren Länder und Kulturen. Manchmal machte es den Eindruck, für manche sei es ein Kampf, rechtzeitig zum Flieger zu gelangen, davor noch etwas zu essen und immer ein Auge auf die mitreisenden Kleinkinder zu werfen.

Diesmal musste ich selbst alles in time organisieren, aber vom Taxi über das Einchecken durch den Duty Free Bereich bis hin zu unseren beiden Plätzen in der Maschine lief alles glatt. Barbara legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Das Flugzeug war bereits freigegeben. Wir waren beide vor etlichen Jahren schon einmal in Nordamerika, aber meine Eltern wussten, dass wir von Südamerika, besonders eben Brasilien oft geschwärmt hatten.

Blutrot tauchte die Sonne in die Abenddämmerung, während man uns gekochten Lachs mit den üblichen Beilagen servierte. Dem Buch, das ich in der Hand hielt, eine Art Autobiographie von Charles Bukowski, konnte ich nach weniger als einer Stunde nicht mehr folgen und nickte ebenso wie Barbara ein, was wohl eher hilfreich war bei einem bevorstehenden Jetlag.

Rio de Janeiro, 2 Uhr morgens Ortszeit:

Glücklicherweise war im Arrival des Terminals ein Kaffeeautomat angebracht. Nicht weniger begeistert davon waren alle anderen Fluggäste der Maschinen aus London, Madrid und Frankfurt. Ich befand es für gut, mich selber in die Schlange zu begeben und Barbara den Belt beobachten zu lassen. Das Gepäck war innerhalb von 20 Minuten eingesammelt. Durch eine genaue Ortsangabe in den Unterlagen meiner Eltern gelang es uns auch, nach einer weiteren Stunde wohlauf in einem der wohl exklusivsten Hotelanlagen dieser Stadt anzukommen. Die Wolken um den mächtigen Berg, der seit jeher mit seiner Jesusstatue das Wahrzeichen Rio´ s bildete, konnten unsere Vorfreude über das Nightlife und alle anderen Sehenswürdigkeiten nicht im Geringsten trüben. Als die Sonne über Brasiliens Küstenmetropole hervortrat, standen wir beide am Balkon der Suite und bewunderten die vielen kleinen Details unserer Unterkunft. Kleine weiße Kacheln mit blauer Bemalung im spanischen Stil verzierten die Brüstung und neben die fast antiken Nachtkästchen hatte man uns einheimische Köstlichkeiten zum Vorkosten bereitgelegt, um Appetit auf noch mehr zu bekommen.

Nach einen ausgiebigen Bruch in der Lobby wollten wir den berühmtesten und wohl längsten Strand einer Großstadt besuchen, um nach dem Sonnenbad eine angesagte Party in einem Club namens „Viper´ s“ aufzusuchen. Der Abend in diesem zweistöckigen Etablissement galt als Vorbote zum anstehenden Karneval in Rio, der hierzulande jedem die Realität zu vergessen verhalf. Tatsächlich erlebten wir eine Show der Superlative und fühlten uns teilweise underdressed. Barbara strahlte übers ganze Gesicht und überredete mich, noch länger zu bleiben als geplant war. Ich konnte mich durch die Auswahl an richtig guten Cocktails schnell damit anfreunden. Die Stimmung war bereits vor 21 Uhr besser als in München an Silvester. Mit viel Gelächter und Beifall schafften wir beide es auch noch, Karaoke zu performen. Beide konnten wir nicht ein Wort portugiesisch, durch eine Mischung meiner Spanischkenntnisse, Englisch und Gebärdensprache kämpften wir uns dennoch aufs Podium und gaben Robbie Williams´ und Nicole Kidman´ s „Something stupid“ zum Besten.

Dieser Abend endete wie er enden musste. Die Nachdenklichkeit überfiel mein Gemüt wie nach jedem Ausgehen seit meiner Jugend und Barbara erwähnte im Abstand von 5 Minuten immer wieder, dass sie müde sei und das Bett in unserem Loft auch am morgigen Abend noch auf seine Stabilität geprüft werden könne. Ich lachte darüber nicht, denn wir standen zu diesem Zeitpunkt schon etwa eine viertel Stunde an der Hauptstraße. Nicht ein einziges Taxi war in Sichtweite. Der Fußweg zu unserem Exklusivhotel betrog nach meinen Berechnungen mehr als 4 Stunden.

„Wir sind hier nicht in München, mein Engel. Weißt du, wo wir sind? In einer Stadt mit 11 Millionen Einwohnern.“ Meine Laune war verflogen, nur Barbara schien relaxed zu bleiben und zog ihre Schuhe aus, um wie in einem Hollywoodfilm der amüsanten Art barfuss über den immer noch erhitzten Asphalt zu tänzeln. Einige Minuten später hatte ich sie soweit, loszumarschieren. Als Orientierung diente uns der Zuckerhut und die Copacabana, an deren Fuße sich unsere Bleibe befand.

Wenige stillgelegte Ampeln in Richtung Ozean später ging es abwärts. Die Straße machte eine Neige und schien etwa 50 Meter weiter zu Ende zu sein. Wir sahen Hütten und nahmen zur Kenntnis, dass in diesen Behausungen noch Lichter brannten. Die geteerte Straße brach abrupt ab. Als ich einige Kinder in zerrissen Kleidern um diese Uhrzeit erblickte, fühlte ich mich ganz und gar overdressed, im Gegensatz zur Ankunft im Karnevals Metier namens „Viper´ s“. Ich wusste aus den Nachrichten schon vor dem Flug, dass Brasilien, insbesondere Rio, von einer schweren Regenzeit heimgesucht wurde. Leider bekamen Barbara und ich ein Szenario zu sehen, welches sogar in der aufreißerischen Boulevard Presse Europas untertrieben wurde, um Themen wie Fußballertransfers und Castingshowgewinner aufrecht zu erhalten.

Zwischen Nacht und Tag gab es hier keinen Unterschied mehr. Der Kampf ums Überleben herrschte 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr.

Ein Alter klammerte plötzlich an meinem Arm und strich voller Bewunderung über den Soff meines Hemdes.

„Ich sammle hier den Müll auf. Für 5 Kilo Wertstoff bekomme ich 50 Reals. Damit kann ich meinen Leuten zu Trinken für einen Tag kaufen.“

Die Kinder spielten mitten in der Nacht Fußball. Der Traum, ein Großer zu werden, steht bei 1:1000000. Hier stand er bei 1:1, denn sie waren alle wie Ronaldo und Roberto Carlos. Zumindest hatten sie diese Vorstellung. Kein Mensch dieser Welt sollte ihnen diesen Traum wegnehmen. Der Regen und die darauf folgende Flut hatte ihnen ohnehin schon alles genommen. Die brasilianische Regierung gab keinen Cent Beihilfe. Schäbige Lehmhütten, in denen bis zu fünfzehn Leute ihr Zuhause fanden, gaben den Wassermassen in den letzten Tagen nach. Eine Schlammwelle hatte die Slums fast dem Erdboden gleichgemacht. Ich schämte mich und auch Barbara wollte nicht sagen, wo wir untergebracht waren. Seuchen und Krankheiten breiteten sich noch schneller aus als vor den Unwettern.

Barbara und ich hörten uns im Kerzenschein die Menschen an. Sie hatten nichts, dennoch luden sie uns ein, mit ihnen zu essen von den letzten Resten, die sie hatten. Wir hielten uns dezent zurück. Noch in derselben Nacht beschloss ich, am nächsten Tag erste Hilfemaßnahmen auf Grund meines medizinischen Know-Hows einzuleiten.

Der Sturm durch mein Gehirn hatte sich längst aufgetan und begann zu toben. Ich hatte Medizin studiert, um Menschen zu helfen, die krank sind. Krank aus dem Schicksal heraus. Erneut wurde mir klar, dass ich Menschen helfen wollte, die unverschuldet in bittere Not geraten sind. Die Selbstzerstörer aus Europa wollte ich mehr denn je meinen unzähligen Kollegen in der Heimat überlassen.

Meine Weltstadt mit Herz, München, bereitete mir in den Monaten nach meinen Erlebnissen in Brasilien keine großen Schwierigkeiten, eine professionelle Internetpräsenz aufzuziehen, junge Ärzte mit Mut und Biss zu rekrutieren, um in Rio ein Hilfecenter ins Leben zu rufen. Professionelle Versorgung mit Mitteln gegen Seuchen, die wir hierzulande nur noch aus dem Mittelalter kennen, waren nun vorhanden. Weder Barbara, welche jetzt deutschen und englischen Sprachunterricht in den Slums abhielt, noch ich scheuten uns, mit anzupacken, wenn es darum ging, die Ghettos zu neutralisieren.

Eine Gleichheit auf der Welt wird es niemals geben, aber die Lebensumstände in Rio de Janeiro konnten wir elegant entspannen. Die Sonne ging auf über dem Zuckerhut.

„Wir spielen jetzt Fußball! Danach gehen wir gemeinsam essen“, sagte Juan zu mir, während ich seiner Mutter das Blut abnahm.

„Ich werde heute nicht mehr ausgehen, Juan. Ich habe mich satt gesehen. Reden wir über das Leben heute Abend. Ihr kennt nämlich den Sinn dahinter“, antwortete ich ihm und bereitete die Infusion für den nächsten Patienten vor.


© Roman Reischl


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Kommentare zu "Der Sinn dahinter"

Re: Der Sinn dahinter

Autor: noé   Datum: 05.06.2014 23:16 Uhr

Kommentar: Ich vermute mal, wenn man so etwas erlebt, kann man gar nicht anders, als helfen zu wollen.
Mir ginge es so.
noé

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