Eine der Neonröhren in der Pathologie flackerte in schnellen Abständen. Dr. Heidman bemerkte es nicht. Entweder seine Augen waren zu alt geworden um diese Frequenz wahrzunehmen, oder er war mit den Jahren dem gegenüber abgestumpft, wie so vielem Anderen auch. Der afrikanische Flüchtling, der auf seinem Seziertisch lag, bemerkte dieses Flackern verständlicherweise auch nicht. Zum einen weil seine Augen tot waren, zum anderen weil Dr. Heidman ihn auf den Bauch gedreht hatte, um die bestialische Schädelfraktur am Hinterkopf in Augenschein zu nehmen. Wie sich nun zeigte war tatsächlich mehr Schädelfraktur als Hinterkopf vorhanden. Die Beamten, die den erschlagenen Flüchtling aus einem Parkgebüsch geborgen hatten, hatten erst auf einen Baseballschläger getippt, doch Dr. Heidman erkannte mit erfahrenem Blick sofort, dass die drei Einschläge für einen Baseballschläger zu schmal waren. Außerdem waren die Abbruchkanten der Schädeldecke zu steil nach innen gerichtet und einige Knochensplitter waren viel tiefer ins Gehirn eingedrungen, als es für so eine breite Waffe zu erwarten gewesen wäre. Es musste etwas Dünneres gewesen sein, vielleicht ein Rohr oder aber ein Schlagstock. Bei diesem Gedanken musste er unweigerlich zur Decke blicken über der mehrere Etagen von Beamten saßen, die ihm ohne Zweifel nahelegen würden Zweiteres in seinem Bericht nicht zu erwähnen.
Nach der Regierung Schill hatte man leider versäumt den Laden über ihm zu entnazifizieren und er wusste, dass man in diese Richtung nicht ermitteln würde, schon gar nicht weil man momentan wegen der gewaltsamen Niederschlagung von irgendwelchen linken Protesten genug schlechte Presse hatte.
Die drei Einschläge waren mit ungeheurer Kraft aber dennoch mit kontrollierter Präzision ausgeführt worden. Vermutlich brachte der erste das Opfer zu Fall, die zwei weiteren waren am Boden erfolgt, um sicherzugehen. Dr. Heidman vermutete, dass schon der erste Schlag letal gewesen sein musste. Ansonsten wies das Opfer keine Kampf- oder Verteidigungsspuren auf. Bei einem wahrlosen Totschlag durch irgendeinen rechten Mob hätte Dr. Heidman Blutergüsse von Fußtritten und dergleichen erwartet. Doch diese Tat war andere Natur, hierbei handelte es sich um gezielten und kaltblütigen Mord.
Nach einem weiteren Blick zur Decke und der unbemerkt flackernden Neonröhre, überlegte Dr. Heidman wie es nun in diesem Fall weitergehen würde. In den Etagen über ihm würde wohl kaum jemand die Motivation haben dieses Verbrechen aufzuklären. Es gab keine Indizien, keine Zeugen und der erschlagene Schwarzafrikaner hatte verständlicherweise noch nicht einmal irgendwelche Papiere bei sich. Folglich hatte er für „die da oben“ noch nicht einmal eine Identität und existierte weder im System noch im Gewissen einer Gesellschaft, in der zurzeit instrumentalisierte Ängste gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern vorherrschten.
Wie fast alle Pathologen hatte Dr. Heidman ein fachliches Interesse an der Idee des perfekten Verbrechens. Schon oft hatte er nach ein paar Gläsern Wein mit Kollegen über ausgeklügelte Möglichkeiten und intelligente Strategien spekuliert und immer wieder waren sie zu dem Schluss gekommen, dass eine Überführung des Täters möglich war, dass sie möglich sein musste. Doch nun hatte in seiner Stadt ein stumpfsinniges und kaltblütiges Monster das vollbracht, von dem Heidman gehofft hatte, dass es unmöglich wäre. Dieses perfekte Verbrechen zeichnete sich nicht durch einen hochkomplexen Plan oder ein intelligentes Verwischen der Spuren aus, seine Abscheulichkeit und seine Unaufklärbarkeit lagen in der einfachen Wahl eines Opfer, welches dieser Welt egal war.
Es würde noch einige Tage dauern, bis die Etagen über ihm das Verfahren einstellen würden, dann würde das Ausschlachten beginnen. Es ist durchaus üblich nicht identifizierbare Tote zu Organspendern zu erklären. Dr. Heidman durchfuhr der traurige Gedanke, dass irgendwo ein konservativer Maulheld, der gerne am Stammtisch über Flüchtlinge und Sozialschmarotzer schwadroniert, auf eine Spenderleber warten könnte. Vielleicht würde ihm genau die Leber des zu Tode geprügelten Flüchtlings das Leben retten. Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn ihr ein lebendiger Mensch nicht willkommen ist und als Schädling oder Gefahr angesehen wird, seine Organe jedoch mit offenen Armen in Empfang genommen werden?
„Willkommen in Hamburg“, murmelte Dr. Heidman, als er den Leichnam in das Gefrierfach zurückschob. Es gibt Tage, an denen überbietet diese Welt selbst den Zynismus eines altgedienten Pathologen.
Heidmans Eltern wurden ursprünglich in Ostpreußen geboren und waren selbst einmal als Flüchtlinge nach Hamburg gekommen. Schon damals gab es Ablehnung und Anfeindungen, die merkwürdigerweise immer von denen kamen, die den Krieg, das Leid und die Flucht erst verschuldet hatten. War es heute anders? Noch immer wetterten die Kleinbürger, die ehrgeizigen Mitläufer und die heimlichen Profiteure des ungerechten Leids am lautesten gegen Flüchtlinge.
Diese Stadt war einmal das Tor zur Welt gewesen, nun versuchte man das Tor zu verschließen und sich selber zur Festung zu machen, hilflos dem Ansturm des Leides gegenüber, welches man doch selbst verschuldet hatte.


© Karsten Stapelfeldt


9 Lesern gefällt dieser Text.











Beschreibung des Autors zu "Willkommen in Hamburg"

Leider beruht die Grundidee zu diesem Text auf einer wahren Begebenheit.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Willkommen in Hamburg"

Re: Willkommen in Hamburg

Autor: noé   Datum: 20.03.2014 20:14 Uhr

Kommentar: Karsten, das ist so erschütternd, wie pragmatisch und humorvoll und fotografisch genau und sarkastisch Du diese Geschichte bearbeitet hast. Zum Gänsehaut kriegen. Und zum Applaudieren. Aus sehr unterschiedlichen Gründen.
Nur eine Frage: In dem Zustand der Leiche wird doch kein Organ mehr für Spenden entnommen, da dient die leblose Hülle doch höchstens noch Medizinstudenten als "Übungsobjekt" und/oder die Einzelteil zu wissenschaftlichen Studien (auch das wieder makaber...)?
noé

Re: Willkommen in Hamburg

Autor: Karsten Stapelfeldt   Datum: 20.03.2014 23:18 Uhr

Kommentar: Wie lange nach Eintritt des Todes man Organe noch zu Transplantationszwecken nutzen kann weiß ich nicht genau. Generell gilt natürlich, dass die Chancen steigen je "frischer" das Organ ist. Aber grade bei Leber und Niere ist es auch nach längerer Zeit noch möglich, sofern ausreichend gekühlt wird.

lG Karsten

Re: Willkommen in Hamburg

Autor: noé   Datum: 20.03.2014 23:22 Uhr

Kommentar: Direkt nach Ableben, ja, aber nicht, wenn schon der Zersetzungsprozess begonnen hat, wie das wohl ist, wenn eine Leiche zwischen Büschen hevorgezogen wird...
...egal...
noé

Re: Willkommen in Hamburg

Autor: Ellena V. Schürer   Datum: 26.05.2014 17:27 Uhr

Kommentar: Toll geschrieben. Aber mit der tiefgekühlten Leber und den Nieren geht das wirklich nicht mehr. Aber, in Formalin eingelegt, sicher willkommen zum Sezieren für Studenten. LG Verena

Kommentar schreiben zu "Willkommen in Hamburg"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.