Die Schafsköpfe

Auf einer satten, schönen Weide standen vor einigen Jahren wohlgenährte und gesunde Schafe. Sie bewegten sich wenig und kauten ihr Gras in aller Ruhe. Sie waren schön anzusehen und viele Menschen machten Fotos und bewunderten den friedlichen Anblick. Es gab auch ein schwarzes Schaf, aber auch das war satt und zufrieden und so störte sich niemand an ihm. Der Hütehund hatte wenig zu tun. Meist lag er faul in der Sonne und nur wenn der Schäfer ihn rief, lief er zu ihm und ließ sich kraulen. Im Lauf der Zeit hatte der Schäfer ein sehr gutes Auskommen mit seiner Wolle. Er konnte sich Holz kaufen, um sich ein Haus zu bauen. Er fand eine Frau und wurde Vater. Die Schafe sorgten mit ihrer Wolle dafür, dass sein Wohlstand sich mehrte. Eines Tages ersetzte er das Holzhaus durch ein Haus aus Stein. Er zog einen Zaum um die Schafe und genoss sein Leben in vollen Zügen. So verging Jahr um Jahr und die Schafe merkten kaum, wie ihre Welt sich veränderte. Es wurde kühler, der Wind nahm von Jahr zu Jahr zu und das Gras wuchs nicht mehr so schnell wie vorher. Die Schafe bemerkten es nicht, ganz behutsam schlich die Veränderung sich ein. Nach und nach wurde die Zahl der Schafe größer, die abends mit hungrigem Magen schlafen gingen. In einer kühlen Vollmondnacht wisperte das schwarze Schaf: „Hey, Kollegen, knurrt euch auch der Bauch?“ Die anderen antworteten sofort: „Oh ja, wir waren schon lange nicht mehr richtig satt.“ „Wir sollten uns eine neue Weide suchen“, bemerkte das schwarze Schaf. „Wie willst du denn über den Zaun kommen?“, fragte ein alter Bock unwirsch. „Wenn wir alle dicht zusammen bleiben, dann können wir den Zaun vielleicht umrennen“, antwortete das schwarze Schaf. Die anderen seufzten nur. „Du warst schon immer anders“, sagte der Schafsbock mit den meisten Nachkommen. Das schwarze Schaf steckte den Kopf zwischen seine Vorderläufe und bemühte sich, Schlaf zu finden. Am nächsten Morgen wurde kein Wort mehr über die nächtliche Unterhaltung gesprochen. Nur hin und wieder konnte das schwarze Schaf beobachten, dass eines der anderen Schafe sich verstohlen dem Zaun näherte. Dann hob der fette alte Hütehund kurz den Kopf und knurrte heiser. Das genügte, um die Alleingänger wieder in die Herde zu treiben. Am Abend, als es dunkel war, begannen die Schafe zu flüstern. „Hey, Schwarzer, hast du gesehen, wie gefährlich es war, sich dem Zaun auch nur zu nähern?“ Das schwarze Schaf hob den Kopf. „Der fette Hund könnte niemandem etwas antun, sehr ihr das denn nicht? Der Schäfer und sein Hund sind viel zu faul und bequem geworden.“ Die anderen antworteten mit einem unwilligen Grunzen. „Wir können auch hier bleiben und hungern“, sagte das schwarze Schaf gereizt aber niemand schien es zu hören.
Eine Weile wurde nicht mehr über den Hunger und einen Ausbruch gesprochen. Erst als der Winter einbrach wagte das schwarze Schaf einen neuen Versuch. „Woher wissen wir eigentlich, dass wir treu und brav aushalten müssen?“, fragte es in die grasende Runde. „Ach, du schon wieder“, meckerte ein Schaf. „Iss lieber, sonst bleibt nichts mehr für dich übrig.“ „Wir können ohnehin schon lange nicht mehr satt essen. Nur unsere Wolle, die sollen wir fleißig Jahr für Jahr hergeben. Der Schäfer könnte uns mit seinem Geld Futter kaufen.“ „Futter kaufen, das hat es noch nie gegeben. Er braucht sein Geld für sich. Erst kürzlich hat er einen Wagen und zwei Pferde gekauft, damit er nicht mehr zu Fuß gehen muss.“ „Das kann er nicht machen, wir ernähren ihn mit unserer Wolle“, murrte ein junges Mutterschaf. „das Futter hier ist so ärmlich, dass mir die Milch wegbleibt.“ „Ach, er kann alles, er hat den Hund“, klang es aus einer anderen Ecke. „Aber seht ihr denn nicht, dass der Hund ihm gar nicht mehr gehorcht? Der ist doch schon viel zu träge, um uns wirklich gefährlich zu werden. Und der Schäfer ist so oft unterwegs, wir müssen nur den richtigen Moment erwischen.“ Das schwarze Schaf begann sich zu ereifern. „Ihr habt Angst vor einem schlaffen Köter und seinem trägen Herrn.“ Ein junges Schaf lachte. „Klar, weil wir Schafe sind. Schafe haben nun mal Angst vor Hunden und ihren Herren. Das weiß doch jedes Kind.“ „Also ich hab keine Angst. Und mich hat auch keiner danach gefragt. Bin ich etwa kein Schaf?“, fragte das schwarze Schaf. Jetzt erhob sich ein lautes Murmeln unter den Schafen. „Ich hab auch keine Angst.“ „Alles ist besser als hier zu hungern.“ „Wir haben den Zaun nicht gebaut, dann können wir ihn einreißen.“ So verging der Tag mit hitzigen Debatten und am Ende stand ein Plan. In der kommenden Nacht wollten die Schafe sich ihren Weg in die Freiheit bahnen. Und so kam es auch. In einer festen Formation, Seite an Seite gepresst, begannen die Schafe, den Zaum einzurennen. Er war stärker als gedacht und durch ihren Lärm weckten sie ihren Schäfer und seine Familie auf. Der holte sofort sein Gewehr, als er sah, was geschah. Außerdem gab er dem Hund Befehl, die Schafe zur Räson zu bringen. Der alte Hund bellte und fletschte die Zähne, doch wie vereinbart stellten sich ihm vier starke Schafe in den Weg. Er fügte ihnen hässliche Fleischwunden zu doch schließlich erschöpfte er sich und blieb einfach liegen. Der Schäfer sah das und zielte mit seinem Gewehr direkt auf die Herde. Indessen waren die Schafe so weit, dass der Zaun genug Löcher für die Flucht hatte. Ohne Ziel und ohne Plan rannten sie, bis die Gewehrschüsse immer leiser wurden. Sie ruhten erst aus, als der frühe Morgen anbrach. Dann versorgten sie die verwundeten Schafe. Nach einer Weile fiel ihnen auf, dass das schwarze nicht zu sehen war. Sie riefen und suchten und plötzlich sahen sie es auf einem Hügel in der Ferne. Es graste und sah zufrieden aus. „Er sucht sich eine neue Herde“, sagten sie sich. Er hat seine Arbeit hier getan. Von diesem Tag an wurde den jungen Schafen diese Geschichte erzählt. Und am Schluss der Erzählung stellte jedes Schaf den Satz: „Ein Schaf kann nicht wählen, ob es weiß oder schwarz ist. Aber ein Schaf kann entscheiden, kein dummes Schaf zu sein.“


© Stefanie Glaschke


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Beschreibung des Autors zu "Die Schafsköpfe"

Diese Geschichte beschreibt nichts Neues. Sie ist eine Geschichte über ein altes Thema, nur mit meinen eigenen Worten erzählt. Vielleicht regt sie gerade in dieser Zeit dazu an, sich mit dem alten und wichtigen Thema des Widerstands und des Mutes wieder neu zu befassen.




Kommentare zu "Die Schafsköpfe"

Re: Die Schafsköpfe

Autor: StefanieGlaschke   Datum: 27.02.2014 17:19 Uhr

Kommentar: Auf diesem Weg sage ich mal DANKE für die freundlichen "gefällt mir". Ich freue mich sehr darüber

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