Die Falle der Tradition
Es ist untersagt, sich einmal zu verlieben. Einem jungen Mann, der ins heiratsfähige Alter kommt, suchen die Eltern eine Braut aus. So lauten die Traditionen und ihre Vorschriften. Donnerstagsabends wird der Mann mit einer Braut auf seinem Bett überrascht. Beide wissen nichts voneinander. Manchmal kennen die Männer ihre zukünftigen Ehefrauen von einem Foto oder von einem raschen Blick auf der Straße. Aber selbst wenn beide sich durch das Aussehen gut kennen, erfahren sie dennoch nichts voneinander - als komplette Menschen mit Herz, Seele und Geisteshaltung.

Ihr erster Kontakt ist also für den Donnerstagabend vorgesehen. Donnerstagabends lernen sich die Braut und der Bräutigam kennen, sie haben Sex miteinander. Ich vermute, dass eine Beziehung, die auf eine solche Weise beginnt, weder eine dauerhafte Perspektive noch familiäre Werte wird aufweisen können.
Ich respektiere Traditionen, aber nicht jedwede und nicht blind. Wenn die Regeln der Tradition dem menschlichen Verstand nicht entsprechen, dann müssen wir darauf unbedingt verzichten.
Ali ist ein Freund von mir, und ihm ist es auf die oben beschriebene Weise ergangen. Er heiratete eine junge Frau, die er zuvor nicht kennengelernt hatte. Seine Mutter lud ihn zu Verwandten ein, und dort sah er sie zum ersten Mal. Sie gefiel ihm und er dachte, es wäre die Liebe.
Ein direkter Zwang seiner Eltern war es nicht, die Frau zu heiraten. Und doch traf er seine Entscheidung unter einem gewissen und indirekten Druck. Als er sie nach einigen Monaten heiratete, war sein Motiv dazu meiner Einschätzung nach nicht Liebe. Die Vorschriften der lokalen Tradition und die schlechten Umstände beider spielten die Hauptrolle hinter den Kulissen dieser Ehe.
Dass Ali sich so schnell für eine Heirat entschied, überzeugte mich nicht. Und doch fühlte ich, dass er nicht völlig unemotional war – auch, wenn das möglicherweise mit Liebe nichts zu tun hatte.
Dem Mädchen fiel die Einwilligung leichter; ihre Situation im elterlichen Zuhause war ihr unerträglich. Da nahm sie das Angebot an, denn es ermöglichte ihr einen Freiraum, den sie bei den Eltern nicht hatte.
Nach etwa einem Jahr begannen die ersten Probleme: Ali betrog seine Ehefrau mit deren Schwester. Dieses Mal verliebte er sich und das zum ersten Mal in seinem Leben. Sie war für ihn die „große“ Liebe, die man vielleicht nur einmal im Leben trifft.
Doch was macht ein verheirateter Mann, dessen Frau ein Kind erwartet?
Als Ali mir von seiner Affäre erzählte, konnte nicht aufhören, seine Schwägerin zu lieben, und doch war es falsch. Als seine Frau bald danach von der Affäre erfuhr, war an Versöhnung nicht mehr zu denken – sie ließen sich scheiden.
Doch für Ali gab es kein gutes Ende: er verlor seine Frau, sein ungeborenes Kind und auch die große Liebe. Denn so ist es nicht vorgesehen in der Tradition! Sie durfte ihn nicht wiedersehen, denn die Eltern – die Eltern ihrer Schwester - verboten es ihr.
Das ist die Geschichte meines Freundes und so läuft es in vielen Familien. Die persönliche Freiheit und das private Leben müssen dem Überleben des Verbandes geopfert werden.


© Dif Hassen


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