Gestern waren wir, also meine Frau und ich, auf einem Vortrag. Ein Nachbar hatte davon mitbekommen, dass an diesem Abend Jesus, der Wanderprediger aus Nazaret, gleich hier um die Ecke in Kapernaum referieren sollte. Da unser Nachbar aber nicht alleine hingehen wollte, hatte er uns gefragt, ihn zu begleiten. Meine Frau wollte eigentlich nicht, denn ihr waren schon so einige Gerüchte über diesen Jesus zu Ohren gekommen, die nichts Gutes verhießen. Ich hingegen wollte unbedingt hingehen, denn ich war neugierig, was das für ein Mann war, der es schaffte, die Massen zu mobilisieren wie seinerzeit ein Elia oder gar ein Mose. Wir diskutierten dies also aus und kamen nach einigem Hin und Her zu dem Schluss, dass die Gefahr, an diesem Abend Opfer einer politischen Revolte zu werden, relativ gering war, weswegen wir es wagen wollten, hinzugehen. Für den Fall aber, dass uns Langeweile, Ärger oder irgendein anderes Unbehagen überkommen würde, vereinbarten wir, dass mich meine Frau als Zeichen für einen vorzeitigen Aufbruch zweimal in die Seite puffen sollte. „Lass uns ganz weit hinten sitzen, dann können wir uns im Fall der Fälle unbemerkt davonschleichen“, meinte meine Frau noch, woraufhin ich anmerkte, dass wir dann aber auch pünktlich los müssten. Aber natürlich kamen wir nicht pünktlich los, woran in erster Linie meine Frau Schuld war, die wie immer Ewigkeiten brauchte, um sich hübsch zu machen. Dabei ist sie eigentlich schon von Natur aus eine umwerfend schöne Frau, aber wie Frauen so sind, wollen sie von derlei Komplimenten nichts hören, wohlwissend, dass sie, wenn sie aus der Haustür treten, gleichzeitig an einem öffentlichen Wettbewerb teilnehmen, wer die Schönste im Lande ist. „Sie gehen mit aufgerecktem Halse, mit lüsternen Augen, trippeln daher und haben kostbare Schuhe an ihren Füßen“, zitierte ich ärgerlich wartend aus der Jesaja Rolle. Das mit den Schuhen gab mir allerdings zu denken, denn in der Tat wusste man nicht, wen man an diesem Abend auch von der gut situierten Gesellschaft so alles begegnen würde. Also entschloss auch ich mich kurzerhand, noch etwas an meinem Äußeren zu feilen und wenigstens die Alltagssandalen gegen die Sabbatsandalen einzutauschen.

Es war kurz vor knapp, als wir dann endlich mit unserem Nachbarn bei der Veranstaltung aufschlugen. Zwar waren, wie befürchtet, hinten alle Plätze belegt, aber weiter vorne waren noch drei Plätze nebeneinander frei. Wir setzten uns und beobachten, wie sich der Raum immer weiter füllte, bis schließlich auch die Gänge verstopft waren. Meine Frau schaute mich leicht verzweifelt an und ich las in ihren Gedanken, dass wir der Situation jetzt wohl wehrlos ausgeliefert wären. Dann endlich erhob sich Jesus, um das Wort zu ergreifen. Er war weitaus kleiner als ich ihn mir vorgestellt hatte. Selbiges schnatterte mir auch meine Frau ins Ohr, weswegen ich die Redeeröffnung dann auch gleich verpasste. Ich legte mir den Zeigefinger auf den Mund, dabei mahnend meine Frau anguckend. Diese erwiderte meinen Blick mit einem fast schön bösartigen Flackern in den Augen. Der sich daran anschließende Tritt sollte mir zu verstehen geben, wie ich es denn wagen könnte, sie in aller Öffentlichkeit vorzuführen. Ich schüttelte den Kopf, um wiederum ihr deutlich zu machen, dass mir ihre Reaktion sehr überzogen vorkam. Daraufhin hob sie auffordernd die Augenbrauen, was so viel hieß, wie: „Freundchen, wenn du nicht damit aufhörst, bin ich hier schneller raus als du gucken kannst!“ Um die Situation zu beruhigen, machte ich eine besänftigende Handbewegung. Dann wendete ich meinen Blick wieder dem Redner zu. Allerdings hatte ich nun bereits so viel von seinem Vortrag verpasst, dass ich kaum imstande war, auch nur ein Wort zu verstehen. Trotzdem nickte ich eifrig, um damit meine Ahnungslosigkeit so gut wie irgend möglich zu überspielen.

Dann plötzlich, ich war gerade halbwegs im Thema, geschah etwas völlig Unerwartetes. Direkt über uns knackte und krachte es. Ich schaute hoch zur Decke. Staub und Lehm rieselte herunter, mir mitten ins Gesicht. Ich sah mehrere Hände, die wuselig ein Loch durch die Decke gruben. Gesichter kamen durch das immer größer werdende Loch zum Vorschein. Ich sah durchgeschwitzte Männer auf dem Dach stehen. Einer von denen rief so etwas wie: „Das ist jetzt groß genug, ihr könnt ihn holen!“ Dann sah ich, wie eine Bahre mit Seilen heruntergelassen wurde, auf der ein Mann lag. Ich schaute in das entsetzte Gesicht meiner Frau. Ihre frisch gewaschenen Haare waren voller Staub. Im Gesicht klebten ihr lauter kleine Lehmkrümelchen. Ihr Sabbatkleid war von oben bis unten mit Schmutz und Dreck besuldet. „Das darf doch nicht wahr sein!“ schrie sie, während mir klar wurde, dass ich wahrscheinlich ganz ähnlich zugerichtet aussah. Die Aufregung im Raum legte sich langsam wieder. Nur meine Frau war noch ganz außer sich, was sie aber, um nicht aufzufallen, eher mit sich selbst austrug. Der Nazarener hingegen schien die Ruhe selbst zu sein. Ganz gelassen ging er ein paar Schritte auf die Bahre zu, lächelte den darauf liegenden Mann an und sagte so laut, dass es jeder im Raum hören konnte: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Das allerdings war zu viel für meine Frau. „Wie kann er es wagen?“, flüsterte sie mir aufgeregt ins Ohr, „diese Vandalen graben ein Loch durch die Decke, zerstören fremdes Eigentum, sorgen für einen Heidentumult, ruinieren mein schönstes Sabbatkleid – und der heißt das auch noch gut?“ Sie begann leise, Jesus nachzuäffen: „Deine Sünden sind dir vergeben! Sag mal, geht’s noch?“ Dann puffte sie mir zweimal in die Seite und schaute mich dabei auffordernd an. Ich versuchte, ihr schweigend zu verstehen zu geben, dass in diesem Gedränge noch nicht einmal eine Ameise ein Bein vors andere setzen könnte. Sie jedoch hielt ihren Blick und puffte mir ein zweites Mal energisch in die Seite. Also gab ich nach, verabschiedete noch leise meinen Nachbarn, der unbedingt dableiben wollte, und fing an, uns mit allergrößter Kraftanstrengung einen Weg durch die Menge zu bahnen. Draußen angekommen war ich so geschwächt, dass ich den Vorwürfen meiner Frau, warum ich sie denn überhaupt mitgeschleppt hätte, nichts mehr entgegenzuhalten hatte. Wie ein Wasserfall schoss es auch ihr heraus. Weder meine Worte noch die Nachtluft vermochten sie zu beruhigen. Erst zu Hause kriegte sie sich langsam wieder ein.

Unserem Nachbarn bin ich heute Morgen auf der Straße begegnet. Wie es denn noch gewesen wäre, habe ich ihn gefragt. „Unglaublich“, hat er mit freudig erregter Stimme geantwortet, „dieser Jesus hat ihn tatsächlich geheilt. Den Mann auf der Bahre. Den Gelähmten!“ Das wäre doch nicht möglich, habe ich meinem Erstaunen Luft gemacht. „Und ob“, hat er erwidert, „Jesus hat nur gesagt: Steh auf, nimm dein Bett und geh heim. Und der Gelähmte ist aufgestanden, hat sein Bett genommen und ist heimgegangen. „Unglaublich!“, habe ich gesagt. Dann bin ich los, Schuhe und Kleidung in die Reinigung bringen. Auf dem Weg dorthin habe ich mir so meine Gedanken gemacht. „Gelähmte, die wieder gehen können, wo gibt’s denn sowas?“, habe ich gedacht. „Kann auch alles Show gewesen sein“, habe ich gedacht. Und außerdem, dass es schon reichlich komisch sei, so etwas immer nur aus zweiter oder dritter Hand mitzubekommen.


© AB


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