Was soll nur aus meinen Kindern werden?
Ich gebe ja zu, noch habe ich keine, aber man wird doch wohl mal fragen dürfen.

Wenn ich an die gute alte Zeit zurückdenke, wird mir ganz schlecht. Das reinste Paradies muss das hier gewesen sein. So erzählen es zumindest meine Eltern. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern. Seit ich denken kann, ist da immer dieser Lärm gewesen. Früher, so erzählen meine Eltern, habe es den nicht gegeben. Alles sei ganz friedlich gewesen. Still.

Probleme habe es keine gegeben, sagen sie.
Eine andere Welt.

Kann ich mir nicht vorstellen.
Nun ja, du kennst das. Eltern eben. Zu weit sollte man ihnen nicht vertrauen. Sie sind alt.

Mich hat der Lärm eigentlich nie groß gestört. Irgendwie hatte ich mich daran gewöhnt. Erst seit der Gestank dazu gekommen ist, mache ich mir Sorgen. Das war früher nicht so. Gestunken hat es nicht, da bin ich ziemlich sicher. Meine Freunde sagen allerdings, dass ich einen guten Geruchssinn habe. Aber darauf bilde ich mir nichts ein. Ist ja schließlich nicht mein Verdienst, oder?
Außerdem frage ich mich, ob sie es nicht manchmal bloß sagten, um mich zu veräppeln. Bisweilen habe ich die Blicke bemerkt, die sie sich zuwarfen. Obwohl sie gedacht haben, ich sähe es nicht. Aber ich bin ja nicht blind!
Dabei habe auch ich lang so getan, als wäre nichts.
Mir wäre es ehrlich gesagt sogar lieber! Aber eines Tages kommt dann der Punkt, da kannst du nicht einfach so tun, als ob alles in Ordnung wäre, selbst wenn die Welt um dich herum zusammenbricht.
Sei nicht so melodramatisch, wirst du sagen.
Ich kenn‘ dich schon. Du unterstellst mir ja immer, ich übertriebe. Macht aber nichts, auch daran habe ich mich unterdessen gewöhnt.
Das ist das Schicksal der Auserwählten, dass sie zum Gespött ihrer Zeit werden. Naja, schön finde ich das nicht. Aber wie soll ich’s ändern? Zu allen Zeiten und aller Orten war das so. Schon immer. Insofern versuche ich es erst gar nicht.
Sorgen mache ich mir ab und an trotzdem.
Schuld daran dürfte sein, dass ich mit meiner Argumentation in die gleiche Kerbe schlage, wie meine Eltern.
Das sollte einem stets zu denken geben, findest du nicht? Zumindest sollte man sich in einem ruhigen Moment mal hinsetzen und sich fragen, ob man noch alle Tassen im Schrank hat. Also ich jedenfalls habe das gemacht! Ehrlich. Könnte ja sein, dass ich einfach nur alt werde. Ich möchte mich da ungern zum Affen machen!

Als wir die ersten Leichen gefunden haben, hat es sich dann allerdings verändert.
Die Herablassung ist aus den Blicken meiner Freunde gewichen. Von einem Tag auf den anderen. Ich kann förmlich riechen, dass sie mich jetzt mit einem gewissen Respekt betrachten.
Als ob ich es mir so gewünscht hätte!
Offen gestanden hätte ich lieber Unrecht behalten. War wirklich kein schöner Tag, der mit den Leichen. Sie waren noch so jung!
Meine Eltern sind völlig ausgerastet.
„Solche Küken! Die waren ja kaum flügge! Eben erst von zu Hause weg und dann – wer macht denn sowas?“
Es war nicht schön, ihnen zuzuhören. Ist meistens schwierig, zu sehen, dass die eigenen Eltern – naja, du weißt schon.
Ich bin ganz offen: Meine Eltern sind schon irgendwie schräge Vögel. Aber schau dir mal deine an – also, nicht dass ich dich kritisieren will, aber…
Lassen wir das.
Wenn du allen Ernstes glaubst, ich übertriebe, lade ich dich gern mal zu uns nach Hause ein. Danach wirst du anders denken, das verspreche ich dir. Ich bin der Realist in der Familie. Brauchst gar nicht zu lachen!
Seit dem Tag mit den Leichen hat sich jedenfalls einiges verändert.
Klar, es gibt noch immer die, die so tun, als wäre nichts.
„Das hat es immer mal wieder gegeben“, sagen sie, „überbewerten sollte man das auf keinen Fall.“
Also wenn du mich fragst! Aber mich fragt ja keiner.
Sollen sie doch denken, was sie wollen.
Ich aber lese die Zeichen der Zeit. Die sprechen eine eindeutige Sprache. Leider. Um das nicht sehen zu wollen, muss man sich schon sehr anstrengen.

Vor allem seit gestern.

Trotzdem gibt es noch immer welche, die es nicht wahr haben wollen!
Unvorstellbar eigentlich.
Die Erde bebt und zittert ohne Unterlass und sie behaupten allen Ernstes, das sei seit jeher so gewesen. Manchmal lange ich mir echt ans Hirn. Was brauchen sie denn noch? Erst die Leichen und jetzt das! Egal wo ich gehe oder stehe – es ist vollkommen unmöglich, das einfach zu ignorieren!
Denen ist nicht mehr zu helfen. Ehrlich.
Zumindest scheint die Mehrheit mir inzwischen zuzustimmen, dass wir darüber sprechen müssen. Der große Rat für heute Abend steht. Aber ich sag’s dir, einfach war das keineswegs.
Du, manche haben mich angeschaut, als wäre ich ein perverser Lüstling.
Als ob ich mir das Ganze ausgedacht hätte! Meinen die eigentlich, mir macht das Spaß?
Töte nicht den Boten, hätte ich ihnen am liebsten ins Gesicht geschrien.
Aber ich hab’s mir gespart. Hauptsache, sie kommen alle.
Dieser Gestank macht mich ganz kirre. Ich kann nicht mehr klar denken.

Vorhin bin ich mal draußen gewesen. Ja, ich weiß, dass ich das nicht hätte tun sollen. Was ich da aber gesehen habe, beruhigt mich nicht wirklich. Ich weiß nicht, was es ist, aber diese Dinger sehen verdammt gefährlich aus. Auf jeden Fall sind sie riesig! Außerdem viel zu laut, als dass es normal wäre. Und, schlimmer noch, sie bewegen sich auf uns zu. Ich hoffe nur, dass es nicht zu spät ist. Ich könnte wetten, dass sie daran schuld sind, dass hier alles wackelt. Gesehen habe ich so etwas jedenfalls noch nie.
Bis heute.
Ich bin nervös. Aber notfalls gehe ich eben allein fort. Sollen sie doch denken, was sie wollen.
Der große Rat. Den habe es nicht mehr gegeben, seit der Geschichte mit dem See damals, erzählten mir meine Eltern. Die waren völlig außer sich, so auf die Art Unser Sohn! und so. Schräge Vögel eben, aber das habe ich ja bereits erwähnt.

Da sind sie nun also alle.
Ich sehe mich auf der Lichtung um und mir ist mulmig zumute. Es geht zu wie im Taubenschlag. Dabei wollte zunächst keiner kommen. Im Verdrängen sind wir groß, ehrlich. Immer wieder lasten Blicke auf mir. Von meinen Freunden, meinen Verwandten, Fremden. Als ob ich hier der Alleinverantwortliche wäre. Das ist mir alles zu viel. Aber Zurück gibt es an diesem Punkt keins mehr.
Ich lasse mich in die Mitte schieben, als es an der Zeit ist, den großen Rat zu eröffnen.
„Liebe Freunde!“ beginne ich. Ein Raunen geht durch die Reihen. „Ich weiß, dass ihr jetzt lieber gemütlich zu Hause säßt, aber ich danke euch trotzdem, dass ihr alle erschienen seid.“ Ich warte auf einen Applaus oder irgendein Zeichen der Annerkennung, aber es kommt keins.
Gut, dann also weiter.
„Wie ihr wisst, bin ich hier groß geworden, genau wie die allermeisten von euch. Insofern fällt es mir nicht leicht, zu sagen, was ich zu sagen habe.“ Das Getuschel auf der anderen Seite des Kreises verstummt.
„Ich liebe diesen Ort. Er ist meine Heimat. Offen gestanden kenne ich keinen anderen. Allein die Vorstellung, hier wegzugehen, verursacht mir Magengrimmen. Genau wie euch, dessen bin ich mir vollkommen bewusst.“
Bei diesen Worten brandet Protest auf. Einzelne Wortfetzen drangen bis zu mir durch. …völlig wahnsinnig geworden...keine andere Chance… Kind mit dem Bade… Leichen... übertrieben... Egomane…aber trotzdem.
Ich halte einen Augenblick inne. Warte, bis sie sich wieder beruhigt haben.
Das dauert allerdings. Disziplin war bekanntlich noch nie unsere größte Stärke. In mir kribbelt alles. Mir ist die Bedeutung dieses Rates bewusst. Es geht um unser aller Zukunft – nicht mehr und nicht weniger.
„Aber, Jüngelchen“, ergreift eine der Alten das Wort. „Glaubst du nicht, dass du übers Ziel hinausschießt? Wo sollen wir denn hin? Wir haben schon ganz anderes überstanden!“
Bedachtsam schüttle ich den Kopf.
„Ich kann ja verstehen, dass dir das Blut heiß in den Adern pulsiert“, fährt sie fort und bedenkt mich mit einer Mischung aus mitleidigem und wehmütigem Blick, „aber lass dir eines gesagt sein: nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“
Genau, tönt es beifällig von der Rechten. Abwarten. Nichts überstürzen!
Und was ist mit den Leichen? echauffieren sich andere. Wir können doch nicht einfach so tun als wär‘ nichts. Wollt ihr etwa allesamt so enden?
Diesmal nicke ich. Ich spüre wie der Boden unter mir sanft erbebt. Wenn es noch einige Tage so weiter geht, werde auch ich mich daran gewöhnt haben. Der Lärm jedoch –
Wieder bricht eine aufgebrachte Auseinandersetzung aus. Geschnatter und Geflatter allenthalben.
„Lasst uns das doch bitte gemeinsam diskutieren!“ versuche ich die Streithähne zu beruhigen. „Schließlich geht es uns alle an.“ Der Effekt meiner Worte ist gleich null.
Schwarzmaler! Augenwischer! Wo sollen wir denn hin?
Ich habe ja befürchtet, dass es nicht leicht würde. Am liebsten würde ich mich in diesem Augenblick allerdings abwenden und sie ihrem Schicksal überlassen. Warum müssen große Zusammenkünfte derart anstrengend sein?
Allein zu flüchten, habe ich aber tatsächlich auch keine Lust. Mögen die anderen mich auch für noch so hart halten, ich bin es nicht. Alles nur Show. Aber wem erzähle ich das?
„Glaubst du ernsthaft, wir sollen hier alles aufgeben?“ Die Stimme kommt aus einer der hinteren Reihen. Ihr Klang ist so durchdringend, dass der Rest verstummt. „So lange schon haben wir uns all das aufgebaut.“ Der Sprecher deutete herum.
Genau! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wir lassen uns von dir doch nicht alles kaputt machen!
Eine Welle der Zustimmung brandet über mich hinweg. Ich blicke mich um. Einige wenige schweigen.
Ich straffe mich. Eines Tages, das schwöre ich mir, werde ich voller Stolz auf diesen Augenblick zurück blicken.
„Ihr“, beginne ich und spüre, wie die, die mir am nächsten stehen, zusammenfahren, „ihr werft mir allen Ernstes vor, ich würde euer Leben zerstören? Jetzt macht aber mal halblang. Ich versuche, es zu retten.“ Ich muss beinahe schreien, um den allgegenwärtigen Lärm zu übertönen. „Glaubt ihr ernsthaft, ich bilde mir das alles nur ein? Denkt ihr, wenn ihr nur lange genug die Augen davor verschließt, wird alles wieder so sein, wie es einmal war? Seht euch doch mal um! Wir müssen uns anschreien, um uns überhaupt noch verständigen zu können!“
Mein harscher Tonfall lässt sie verstummen.
„Bin ich denn von einer Gruppe von Vollidioten umgeben? Der Boden kommt nicht mehr zur Ruhe – aber ich bin es, der euch alles kaputt macht? Kommt zur Besinnung, ich bitte euch! Ihr seid mein Zuhause, nicht dieses Stück Land! Ihr seid es, die zu verlieren ich mich weigere!“
Betretenes Schweigen.
Dann von der Rechten: „Du willst dich doch nur wichtig machen!“
Einige Lacher hat er auf seiner Seite. Weswegen er hinzufügt: „Das ist mal wieder typisch, schon als kleiner Hosenscheißer musstest du immer im Mittelpunkt stehen.“
„Es geht hier nicht um mich, verdammt!“
Die ersten wenden sich ab.
„Halt, ihr könnt das nicht einfach ignorieren! Ihr rennt in euer Verderben!“ Der Boden unter mir wankt. Ich bin nicht sicher, ob das tatsächlich geschieht oder ob es nur ein Hirngespinst ist.
„Ich war gestern draußen!“
Es ist ein verzweifelter Versuch. Ich weiß, es ist verboten. Schon als Kind hörte ich, dass es zu gefährlich sei. Dass ich dort niemals, niemals, niemals hin dürfe. Eine Welt voll unabsehbarer Bedrohungen.
Eine Mischung aus Neugierde und Entsetzen hält die auf, die schon dabei waren, den Großen Rat zu verlassen. Weit aufgerissene Augen starren mich an.
Ich senke meine Stimme zu einem schuldbewussten Flüstern. „Besondere Zeiten.“
Einer meiner Gleichgesinnten tritt zu mir heran und berührt mich sanft. Eine Woge der Zuneigung durchbrandet mich.
„Er hat Recht“ zieht er für mich ins Feld. „Nichts wird dadurch besser, dass wir in unserer Abgeschiedenheit verlernt haben, hinzuschauen. Auch ich wünschte mir, es wäre anders!“
„Was hast du gesehen?“ heißt es nun. Die Luft ist von Spannung erfüllt. Ich schwöre, ich hätte eine Feder fallen hören können.
Rasch erzähle ich von den gewaltigen Dingen. Einige Mitglieder des Rates kippen, das kann ich sehen.
„Außerdem habe ich die Großen sprechen hören. Durchzugsverkehr nach München leiten, habe ich verstanden. Was auch immer das bedeuten soll. Klingt brutal, wenn ihr mich fragt.“
„Du hast doch keine Ahnung von der Sprache der Großen.“
„Stimmt“, gebe ich zu, „aber diese Zisch- und Klacklaute. Da muss irgendwas faul sein.“

Ich sehe, dass einige blass werden.
Was ist los, frage ich mich noch, während mich die mächtigen Klauen eines Habichts ergreifen. Unter mir sehe ich die Lichtung entschwinden. Dornscharfe Krallen schlitzen durch meine Haut.
Das Rauschen der mächtigen Habicht-Schwingen übertönt alles andere. Nur einen Satz kann ich noch hören. Die achselzuckende Betroffenheit dazu kann ich mir vorstellen.
„Naja, letztlich war er doch nur ein kleiner Schilfrohrsänger.“


Elyseo da Silva, www.elyseoswelt.de

Köln, 15. März 2013


© Elyseo da Silva


0 Lesern gefällt dieser Text.


Beschreibung des Autors zu "Der Quertreiber"

Eine Reizwortgeschichte mit blind aus dem Duden gepickten Wörtern, die diesmal nicht verraten. Eine Geschichte um Jugend, Hoffnung und die finstere Macht der Realität.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Quertreiber"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der Quertreiber"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.