Zuhause hatte die Mutter sie nie gefragt, wie es in der neuen Schule läuft. Dazu hatte sie gar keine Zeit. Sie musste lange ausschlafen. Das tat sie gemeinhin auf dem Sofa. Dann, irgendwann am Vormittag, wenn Ida längst in der Schule war, und im großen Mietshaus niemand mehr war außer den Hausfrauen, die seit Stunden ihrer Arbeit nachgingen, hievte sie sich von ihrer Schlafstätte. Sie war gar nicht schwer, nur ihre Glieder waren es und in ihrem Kopf tobte ein Schmerz, der sich mischte aus einem handfesten Kater und der Verzweiflung über die Welt, die es einfach nicht gut mit ihr meinte.
Kam Ida dann von der Schule nach Hause, saß die Mutter meist auf dem Sofa. Das waren die beiden Basispositionen der Mutter: sitzend oder liegend auf dem Sofa. Küche und Badezimmer der Wohnung schienen mehr oder minder tabu für die Mutter, sie war einfach überfordert von den Möglichkeiten, die diese Räume boten. Oder gar den Anforderungen, die sie lautlos zu stellen schienen.
Das Sofa war braun und beige kariert, vor ewigen Zeiten wenigstens, jetzt eher schmutzig grau und baufällig, mit unzähligen Brandlöchern von glühenden Zigaretten, die der Mutter aus dem Mund gefallen waren, wenn sie versehentlich einnickte. Ida hatte immer Angst vor Zimmerbränden.
Die Mutter hatte eine alte Wolldecke über den größten Brandfleck gelegt und dort saß sie meist. Sie sah kaum auf, wenn Ida sie begrüßte. Sie war sehr konzentriert auf Kreuzworträtsel jeder Art. Konnte sie in Windeseile lösen und empfand eine tiefe Befriedigung über ihr Wissen. Stapelweise Kreuzworträtselheftchen lagen auf dem fleckigen Tisch und darunter, besonders viele hinter der Wohnzimmertür. Idas Mutter roch nicht wirklich gut und dominierte damit das Klima im Zimmer. Ida hatte sich daran gewöhnt. Es war ein Gemisch aus vergorenem Obst und Getreide und ausgeschwitztem Nikotin, den Hauptnahrungsmitteln der Mutter. Über allem waberte der bissige Gestank des Katzenklos.
Wenn Ida ihren Schulranzen nach der Schule in ihrem Zimmer abgelegt und die Tür geschlossen hatte, ging sie in die Küche und bereitete Schnittchen zu. Ihre Mutter hatte diese Mahlzeiten so genannt, als sie sie noch sporadisch selbst machte. Billiges Toastbrot, ungeröstet, bildete die Basis. Der Toaster war schon lange kaputt und sammelte den Staub von Jahren, dort auf der Fensterbank in der Küche. Über dem bleichen Toast gab es meist Packungswurst, sehr schweinerosa, aus dem Billigmarkt im Viertel. Manchmal auch mit Backmargarine aus der 500 Gramm-Plastikbox für kleines Geld, als Schmiermittel zwischen dem Pappbrot und der Fettwurst. Ida bereitete ihrer Mutter auch immer einen Teller voll mit Schnittchen, den sie zwischen den Aschenbechern und den Heftchen auf dem Couchtisch platzierte. Die Mutter aß kaum davon und die Wurst hob im warmen Mief bald protestierend ihre Ränder und ließ fettige kleine Seen in der Mitte schimmern. Am Abend räumte Ida die Schnittchen wieder in die Küche und aß sie dort im Stehen auf. Für Ida waren die Mahlzeiten so in Ordnung. Schlimm war es nur, wenn die Mutter kein Geld mehr für Toast und Packungswurst entbehren konnte und Idas Magen grollte oder wenn die Mutter meckerte, weil sie von der Tochter mit den Schnittchen nicht bevormundet werden wollte. „Ich mach mir selber was, wenn ich Hunger habe“, schmollte sie dann, weil sie tief in ihrem Kopf bemerkte, dass es nicht schlecht gewesen wäre, wenn die Rollen vertauscht wären und sie der Tochter das Essen zubereitet hätte. Vielleicht sogar eine Suppe oder ein Nudelgericht. Aber sie konnte die Energie nicht aufbringen, schon lange nicht mehr, und Ida hätte es nie von ihr verlangt. Sie war froh, wenn die Mutter einigermaßen ausgeglichen war. Diese Demut irritierte Idas Mutter noch mehr und so war Idas Leben mit der Mutter nie langweilig, weil immer unberechenbar...


© Ruby Ranitzki


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Beschreibung des Autors zu "Alles ist so verdammt wunderbar!"

Dies ist ein Auszug aus Idas Geschichte. Sie ist der Klotz am Bein ihrer alkoholabhängigen Mutter und hat es auch sonst nicht allzu gemütlich. In meinem ebook "Alles ist so verdammt wunderbar" kann man miterleben, wie Ida mutig ihren Lebensweg geht, auch wenn der eher ein Hindernisparcours zu sein scheint.
Ruby Ranitzki: Alles ist so verdammt wunderbar!
eBook, 3,99€, erhältlich bei Amazon über die kindle-App
Verlag: Meavision Media GmbH
Seiten: 286
ASIN: B00AJQK3B6
ISBN 978-3-00-040690-4

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