Als ich noch ein kleiner Junge war, da sah ich einmal meiner Großmutter beim Stricken zu. Ich bewunderte besonders ihre Geduld und wie sie mit großer Sorgfalt an einem wunderschönen Schal arbeitete, der im Laufe der Zeit immer länger wurde. So stand ich da, sagte kein einziges Wort und schaute ihr nur dabei zu, mit welcher Geschicklichkeit sie die beiden Stricknadeln handhabte.




Nach einer Weile blickte sie mich plötzlich an und fragte mich, ob ich eine kleine Geschichte von ihr hören wolle, von der ich vielleicht etwas lernen könnte. Ich bejahte, holte einen Stuhl und setzte mich zu ihr. Nach einer kleinen Gedenkpause fing meine Großmutter an zu erzählen.




"Mein lieber Junge! Wenn ich so darüber nachdenke, dann stricken wir alle unser Leben. Ja, manche Muster sind kompliziert, andere wiederum recht einfach, die dann auch leichter zu stricken sind. So ist das eben. Es kommt aber immer darauf an, ob man seine Arbeit gerne und mit Freuden macht, ganz gleich wie schwer oder leicht sie auch immer sein mag. Weißt du, ich habe schon viele schöne Sachen angefertigt und stets freundliche Farben verarbeitet, die ich bunt gemischt habe, wobei ich hier und da natürlich auch die grauen Farbtöne nicht vergaß. Die gehören einfach dazu, wie im wahren Leben, wenn du mich verstehst. Wichtig war mir auch die Qualität. Manchmal war die Wolle weich, manchmal flauschig, mal hart und kratzig, je nach dem. Manchmal kam es auch vor, dass mir Maschen von der Nadel fielen. Dann entstanden Löcher im Muster, über die ich mich stets ärgerte, weil ich nicht aufgepasst hatte. Dann wollte ich immer das ganze Strickzeug in die Ecke werfen. Trotzdem machte ich jedes Mal weiter und bekam die meisten Sachen am Ende doch noch gut hin. Ab und zu ist mir sogar der Faden ausgegangen. Das war ja auch kein Wunder, denn zu meiner Zeit damals war es nicht leicht, an neue Strickwolle heran zu kommen. Außerdem war Krieg und das Geld knapp. Die meisten Menschen lebten in bitterer Armut und hatten nur wenig zu essen. Die Soldaten an der Front gingen vor. Ihre Verpflegung war vorrangig. Tja, mein Junge, so war das früher zu meiner Zeit eben. Was soll ich sagen? Oft habe ich mir beim Stricken gedacht, dass es in vieler Hinsicht mit unserem Leben vergleichbar ist. Wir Menschen sind für das, was wir tun, selbst verantwortlich, aber viele stricken lieber nur Einheitsmuster, anstatt eigene Kreationen zu entwickeln. Doch keiner von uns weiß, wie viel Lebensfaden er noch hat, um an seinem Leben weiter stricken zu können. Das vergessen viele nur allzu gerne. Sie denken nicht daran, dass jeder Faden auch ein Ende hat. Nun, wie du siehst, stricke ich heute noch, obwohl ich schon 86 Jahre alt bin. Es geht zwar nicht mehr ganz so schnell wie früher, auch brauche ich eine Brille bei meiner Arbeit, aber das Stricken geht trotzdem noch ganz gut. Der Schal hier soll übrigens für dich sein, mein Junge."




"Was, für mich? Ich finde besonders das Muster sehr schön, Großmutter. Ich freue mich schon darauf, wenn ich den Schal zum ersten Mal tragen darf. Der Winter steht bald vor der Tür, da kommt er mir gerade recht", erwiderte ich freundlich, drückte mein Oma herzlich und verließ das Wohnzimmer, weil ein Freund von mir draußen an der Tür geklingelt hatte, um mich abzuholen. Wir wollten zum Fußballspielen gehen. Über die kleine Geschichte, die sie mir erzählt hatte, dachte ich nicht weiter nach.




***




Anfang Dezember 1963.




Draußen war viel Schnee gefallen und meine Großmutter lag krank im Bett. Die ganze Nacht hatte sie wegen eines Asthmaanfalles nicht schlafen können. Dann, am frühen Morgen, wurde die Atemnot so schlimm, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Meine Eltern riefen schließlich nach dem Hausarzt, der schnell da war und den lebensbedrohlichen Zustand meiner Großmutter gleich erkannte. Er rief sofort nach einem Rettungswagen, der wenig später auch kam.



Trotz aller ärztlicher Bemühungen jedoch verstarb meine Oma noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie war qualvoll erstickt. Man hatte ihr nicht mehr helfen können.




***




Als es endlich Weihnachten wurde, lag der gestrickte Schal meiner verstorbenen Oma nicht unter dem Weihnachtsbaum, wie ich es eigentlich erhofft hatte. Sie hatte ihn leider nicht mehr vollenden können. Meine Mutter versprach mir aber, dass sie ihn weiterstricken und fertig machen würde.




So kam es schließlich auch. Im neuen Jahr überreichte mir meine Mutter den Schal, als ich zum Schlittenfahren nach draußen gehen wollte.




Es war wirklich ein ganz besonderes Stück, mit vielen bunten Farben und einer Wolle, die weich und warm auf der Haut lag. Ich habe diesen Schal viele kommende Winter hindurch getragen. Er erinnerte mich auch immer wieder an meine verstorbene Großmutter, wenn Weihnachten vor der Tür stand.




Doch eines Tages war er ganz plötzlich verschwunden. Vielleicht habe ich ihn ja einfach nur irgendwo liegen gelassen, dachte ich so für mich und hoffte insgeheim, dass ihn früher oder später jemand finden und zu mir zurück bringen würde.




Aber ich wurde enttäuscht.




Auf jeden Fall blieb mein schöner Schal für immer verschwunden. Ich war darüber tief traurig gewesen, wie ich mich heute noch lebhaft daran erinnern kann.




Etwas anderes ist dafür viele Jahrzehnte später ganz plötzlich wieder aufgetaucht, nämlich die kleine Geschichte meiner längst verstorbenen Großmutter, die sie mir damals vor langer Zeit beim Stricken so wunderbar erzählt hatte.




Und das kam so.




Ich besuchte kürzlich den Weihnachtsmarkt unserer Stadt. In einem dieser kleinen, weihnachtlich geschmückten Holzhäuschen entdeckte ich eine ziemlich alte Frau beim Stricken, die mich seltsamerweise an meine längst verstorbene Oma erinnerte. Auf einmal kamen schlagartig alle Erinnerungen an sie zurück.




Ich sah mich plötzlich in Gedanken als kleiner Junge vor meiner Großmutter sitzen und hörte ihr zu, wie sie mir ihre Geschichte erzählte, die wohl etwas mit ihrer erworbenen Lebensweisheit zu tun hatte.




Besonders erinnerte ich mich an jene Worte, die mir seit damals nie ganz aus dem Kopf gegangen sind.




"Mein lieber Junge! Keiner von uns weiß, wie viel Lebensfaden er noch hat, um an seinem Leben weiter stricken zu können. Das vergessen viele nur allzu gerne. Sie denken nicht daran, dass jeder Faden auch mal ein Ende hat.“




Ja, wenn ich so zurück blicke in meinem Leben, dann muss ich meiner Großmutter nachträglich zustimmen, denn viele Menschen, die mir sehr, sehr nahe standen, haben schon längst Stricknadel und Faden für immer ablegen müssen.



ENDE


(c)Heiwahoe


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