Im alten China lebte einmal ein alter Mönch weit weg vom lärmenden Trubel der Zivilisation einsam und allein zurückgezogen in einer kleinen Holzhütte am Fuße eines mächtigen, schneebedeckten Berges.



Nicht unweit seiner armseligen Behausung sprudelte eine quirlige Quelle aus der schroffen Bergwand, deren glasklares Wasser sich direkt unterhalb seiner bescheidenen Hütte in einer kleinen, brunnenartigen Bergsenke sammelte, die ringsherum an ihren felsigen Rändern mit grünem Moos bewachsen war.



Der Mönch saß die meiste Zeit des Tages hier an diesem Platz gleich neben dem ruhigen Wasser, meditierte und sann über neue Weisheiten des Lebens nach.



Die Zeit verging und eines Tages kam ein junger Wanderer zu seiner Einsiedelei. Da er schon einen weiten Weg hinter sich gebracht hatte, war der Wasserbeutel aus Ziegenhaut mittlerweile leer geworden. Er bat den alten Mönch deshalb um etwas Wasser, das er aus der Senke vor dem Haus schöpfen wollte.



Der Alte ging mit dem Fremden hinunter an die Wasserstelle und ließ den Wanderer seinen Wasserbeutel auffüllen. Als der junge Mann damit fertig war, bedankte er sich überaus freundlich bei dem wortlos da stehenden Mönch, hatte aber zugleich das Bedürfnis, ihm noch eine Frage zu stellen, bevor er sich wieder auf den Weg machen wollte.



„Meister, bitte verzeih mir die Frage, aber sag mir, welchen Sinn siehst du darin, dein ganzes Leben in der Einsamkeit zu verbringen? Hier ist es so still, dass man sein Herz in der Brust schlagen hört. Wie kannst du das aushalten?“



Der alte Mönch wies mit einer freundlichen Geste auf das Wasser der kleinen Bergsenke und sagte leise mit freundlichen Worten:



„Geh’ ans Wasser und schau hinein, mein Freund!“



Der junge Mann hielt sein Gesicht über das Wasser, konnte aber nichts sehen, weil es immer noch durch das Schöpfen mit dem Ziegenbeutel hin und her wogte und sehr unruhig war.



„Da ist nichts, Meister. Ich sehe nichts außer das aufgewühlte Wasser.“



„Komm zu mir und verhalte dich ruhig. Sprich kein Wort und lasse die Stille der Natur hier oben auf dich einwirken.“



Nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens forderte der alte Mönch den jungen Mann abermals dazu auf, an das Wasser zu gehen.



Schon bald stand dieser wieder am gleichen Platz wie vorher und schaute auf die ruhige Wasseroberfläche.



„Was siehst du jetzt?“, wollte er von dem fremden Wanderer wissen.



„Nun, ich sehe mich selber, wie in einem Spiegel, Meister.“



„Mein junger Freund, damit ist deine Frage beantwortet, erklärte der alte Mönch wandte sein Gesicht dem mächtigen Berg zu, schaute hinauf zum schneebedeckten Gipfel und sprach mit leisen Worten weiter:



„Das erste Mal, als du auf das Wasser schautest, war es vom Schöpfen unruhig und aufgewühlt. Du konntest nichts erkennen. Das ist vergleichbar mit dem hektischen Leben der Menschen da draußen in ihrer vom lärmenden Trubel durchwühlten Welt. Nachdem sich die Wasseroberfläche wieder beruhigt hatte, konntest du dein Gesicht darin sehen, wie in einem Spiegel. Das ruhige Wasser ist mit der Stille vergleichbar, denn nur in der Stille kann man sich selbst erkennen. Je länger die Stille andauert, mein junger Freund, desto mehr erkennt man sich selbst und das Leben an sich.“



Nach diesen weisen Worten verließ der fremde Wanderer mit nachdenklichem Gesicht den alten Mönch, der ihm noch lange nachschaute, bis dieser schließlich irgendwo im aufkommenden Nebel eines tief unten gelegenen Tales verschwand.



Es vergingen noch viele, viele Jahre, bis eines Tages der alte Mönch schließlich starb.



Er war nicht allein in seiner letzten Stunde gewesen. Ein junger Mann, der einst als fremder Wanderer den alten Mönch besucht hatte, war irgendwann in die Einsiedelei des Alten zurückgekehrt und schließlich bis zum letzten Atemzug bei ihm geblieben.



Nach dem Tod des alten Mönchs begrub er den toten Körper an seinem moosbewachsenen Lieblingsplatz gleich neben der kleinen, mit Wasser gefüllten Bergsenke, den er ab jetzt den Ort der Stille und der Weisheit nannte.



Dann setzte er sich selbst an den Rand des Wassers, sah auf die ruhige Oberfläche, betrachtete darin sein spiegelndes Gesicht, wandte sich schließlich davon ab und schaute versonnen hinauf zum schneebedeckten Gipfel des mächtigen Berges, der sich hinter der einsam da liegenden Holzhütte in einen wunderschönen blauen Himmel auftürmte. Dabei dachte er wehmütig an seinen verstorbenen Meister, mit dem er hier einmal zusammen gelebt hatte.



Vielleicht würde eines Tages wieder ein fremder Wanderer kommen, wenn die Zeit dafür reif ist, dachte der junge Mönch noch, schloss seine Augen und versank in eine tiefe Meditation.





ENDE

(c)Heiwahoe


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