Nach dem Tod eines alten Künstlers machte sich sein einziger Sohn daran, der extra aus den USA angereist war, den gesamten Hausstand seines verstorbenen Vaters aufzulösen.




Im Arbeitszimmer fand er, neben zahlreichen wertvollen Dingen, in der Ecke eines verstaubten Schrankes die Hälfte eines vertrockneten Brotes, das im Laufe der Zeit so hart wie Stein geworden war.




Der Sohn fragte schließlich die Haushälterin des alten Künstlers, den sie bis zu seinem Tod betreut hatte, warum sein Vater dieses ungenießbare, versteinerte Brot im Schrank aufbewahrt hat.




Die Haushälterin erinnerte sich nach einer Weile an eine seltsame Begebenheit, die mit diesem halben Brot im Zusammenhang stand.




„Ihr Vater hat mir die Geschichte von diesem Brot mal erzählt, als ich es beim Abstauben seines Schrankes in besagter Ecke fand und fast in den Müll geworfen hätte. Nun, als er endlich aus dem Krieg in seine Heimatstadt zurück gekehrt war, wurde ihr Vater plötzlich schwer krank. Ein guter Freund aus der Gegend, der ein wohlhabender Arzt war, schickte ihrem Vater schließlich ein frisch gebackenes Brot, damit er etwas zu essen hatte. Aber anstatt es selbst zu essen, schenkte er das Brot einer armen Frau aus der Nachbarschaft, die einsam und allein in einer Dachkammer wohnte. Doch diese Frau brachte das Brot zu ihrer Tochter, die mit ihren zwei kleinen Kinder in einem halb zerstörten Haus lebte, das sich auf der gleichen Straßenseite befand. Als die junge Frau davon hörte, dass das Brot von dem schwerkranken Heimkehrer kam, den sie von früher her kannte und wusste, dass er schon vor dem Krieg als Künstler tätig gewesen war, schnitt sie das Brot in zwei Hälften und gab die andere Hälfte an den kranken Spender zurück, damit auch dieser in Zeiten der Not etwas zu essen habe. Ihr Vater wurde bald wieder gesund, auch dank seines wohlhabenden Freundes, der ja selbst ein Arzt war und der für seine medizinischen Dienste nichts verlangte. Beide kannten sich schon sehr lange, eigentlich seit der Zeit, als sie noch zusammen auf dem Gymnasium waren. Später besuchten sie sogar gemeinsam die Universität. Erst der schreckliche Krieg trennte ihre Wege. Nun, als ihr Vater schließlich die eine Hälfte des Brotes wieder in seinen Händen hielt, war er sehr gerührt und sagte mir, solange noch Menschen unter uns leben, die so handeln, müssen wir uns keine Bange um die Zukunft zu machen. Tja, und so legte er das Brot in diesen Schrank, weil er es immer wieder anschauen wollte, wenn er mal nicht mehr weiter wusste und die Hoffnung verlor.“




ENDE

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Das Gute macht immer wieder Hoffnung.

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