Chasarisches Meer

Chasarisches Meer



Ich starre ächtend auf die Wand, die weiße Wand. Aber nein, nicht die Wand ist es, die meinen Gedanken die Flügel stutzt, wie es normalerweise bei weißen Gänsen gemacht wird, damit sie nicht Richtung Norden aufbrechen können, sobald es wärmer wird. Was fasziniert mich so daran, frage ich mich und während ich mich umdrehe, zieht ein sanfter Lufthauch an meiner Wange vorbei. „Das ist es“, ich schau wieder zur Wand, aber ist es dieselbe oder eine andere. Alle Wände sind doch weiß, also woran soll ich erkennen, ob sie neu ist, oder alt, oder einfach nur weiß. „Weiß, weiß, weiß“, das ist es, mein Kopf fühlt sich an, als ob er gleich explodiert. Fast so als ob das Weiße Meer durch meine Gedanken zieht und mit jeder Welle einen mitnimmt, bis nichts mehr da ist – außer weiß. Oder war es das Schwarze Meer? Aber woher soll es kommen, wenn ich mich drehen und wenden kann, wie ich will und trotzdem nur weiß sehe? Gibt es etwa mehr hinter dem Weiß? Plötzlich fühle ich ein überwältigendes Gefühl, ist es etwa eine Ahnung, eine Vorahnung, ein Ich-weiß-mehr-als-das-weiß? Und da kommt schon die nächste Welle, dieses Mal etwa 2 Meter weiß oder doch hoch, nein, eher hochweiß. Aber dieses Mal fühlt sie sich nicht an, als ob sie alles mit sich reißt – eher als ob sie etwas Neues mitbringt. Ich drehe mich um und plötzlich sehe ich etwas, was mir bisher noch nicht aufgefallen ist: Da ist ein Schatten auf dem Weiß, genauso weiß wie die restliche Wand, aber auch anders. Sonst könnte ich ihn schließlich nicht erkennen, logisch oder? Ich drehe mich, dieses mal um 180 Grad und nicht wie üblich um 90. Wieso? Ich kann entscheiden, denn das weiß befindet sich gerade außerhalb meiner Gedanken, und da ist sie wieder, die weiße Wand, die mich anfangs so in ihren Bann gezogen hat. Sie wirkt nun anders. Ich erkennen etwas. C1. Ich erkenne es nicht, es ist eher wie ein Gefühl, eine Welle, ein Ton. Ein bisschen von allem, aber doch nichts davon. Ich starre gebeugt auf die Wand, denn man sollte manchmal eine andere Sicht auf die Dinge bekommen, haben sie gesagt. Das hilft, haben sie gesagt. Danach habe ich geschlafen und sie haben noch viel mehr gesagt, aber ich könnte es glücklicherweise nicht hören. Ich war in meinem Traum, dort war alles grün. Vielleicht war es auch weiß, denn woher soll ich wissen wie grün aussieht, wenn ich immer nur weiß sehe. Aber nein, denke ich plötzlich, „nicht abschweifen“, sage ich mir selbst, denn nicht die Wand ist es, die mich in ihren Bann zieht. Es ist auch nicht das Weiß, ich habe weiß schön langsam satt, ich habe mich satt gesehen, wie sie alle sagen würden. Aber ich fühle mich, als hätte ich mich weiß gesehen. Zurück zum Thema: Nicht die Wand ist es, die mich in ihren Bann zieht. Es ist der Mann auf der Wand. Nach Jahren sehe ich ihn und er ist weiß, genau wie ich, genau wie die Wand. Doch sein Piano ist schwarz. Wenn es weiße Menschen, weiße Wände und weiße Schatten gibt, was muss dem Piano nur zugestoßen sein, dass es schwarz ist. Ich höre es immer noch. C1. Nicht als Gedanke, eher als Welle und ich schwinge mit. Vom weiß ins schwarz. Und wenn ich dort ankomme wird mir eines klar: Man ist nie zu weiß einen Unterschied zu machen. Schwarz ist weiß ist grün. Und wo ist der Mann jetzt?


© The goose


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Kommentare zu "Chasarisches Meer"

Re: Chasarisches Meer

Autor: Angélique Duvier   Datum: 02.05.2022 13:28 Uhr

Kommentar: Eine sehr ansprechende Geschichte!

Liebe Grüße,

Angélique Duvier

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