Er traute seinen Augen nicht, als er bemerkte, dass er sich an einem Ort befand, der ihm völlig fremd war. Er hatte keine Erklärung dafür, wie er hierhergekommen war, noch konnte er sich an ein Vorher erinnern.
Bestialischer Gestank drang in seine Nase. Er fühlte sich wie jemand, den man in eine Totengrube geworfen hatte, aber an ein Leben, an ein Davor, fehlte ihm jede Erinnerung, obwohl ihm bewusst war, das er nicht schon immer an diesem Ort hätte sein können. Vorsichtig sah er sich um und bemerkte schwarz blutverkrustete, gusseiserne Säulen, die hoch oben ein hölzernes Dach stützten. Das Schachbrettmuster des Bodens weckte eine vage Erinnerung an Etwas, eine Erinnerung, die vor seinem Zugriff floh wie ein erschrecktes Kaninchen. Haken schlagend, immer wieder ausweichend, rannte sie vor ihm davon. Schließlich gab er es auf ihr nachzulaufen.
Er starrte, immer noch von seiner augenblicklichen Situation völlig irritiert, auf den schwarzweißen Boden. Er wollte es noch immer nicht in seinen Gedanken zulassen, aber er sah auf einen blutverschmierten Boden, der großflächig schon eingetrocknet war. Nur an manchen Stellen konnte er im fahlen Licht noch glänzende Stellen ausmachen.
Die absolute Stille ließ ihn mit seinen Gedanken allein, und langsam kroch das Unbehagen und die Furcht an ihm empor, wie Feuchtigkeit, die in die Kleidung eindringt, wenn man im Nebel steht. Da bemerkte er, dass er gegen eine der gusseisernen Säulen lehnte. Sein Unbehagen wuchs, als er die Kruste, die die Säule überzog, durch seine Kleidung am Rücken spürte, und so trat er einen Schritt vor.
In dem Moment, da er sich bewegte, war es, als habe er den Ort aus einem tiefen Schlaf geweckt. So bemerkte er mit einem Mal Dinge, die er vorher nicht gesehen hatte oder die vielleicht auch noch gar nicht sichtbar waren. Nun erkannte er vor ihm an einer Wand entlang riesige Wannen, angefüllt mit schwarzem, dampfenden Blut. Der Geruch nach frischem Blut schnürte ihm den Hals zu und die Angst ließ ihn krampfen. Sein Magen rebellierte. Er meinte sich übergeben zu müssen, aber seine Angst war die eines Fremden, wie hinter einer Glaswand so, als würde jemand Fremdes diesen Albtraum träumen. Er schien nur Zuschauer zu sein, unfähig einzugreifen, und dennoch war der Gestank nach frischem und altem Blut Übelkeit erregend allgegenwärtig.
Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken und riss ihn aus seinen Gedanken. Er vernahm fern das Trippeln von kleinen Hufen oder etwas Ähnlichem. Etwas, das sich unsicher auf dem glatten Boden bewegte und es kam näher. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, in der sich die riesige Halle verlor. Schließlich erkannte er ein Schwein, ein rosiges Schwein, das trippelnden Schrittes aus dem Dunkel auftauchte, gefolgt von einem grimmigen Alten, der es mit einer langen Weidenrute dirigierte. So hatte es den Anschein, das das Schwein von allein dorthin lief, wo der Alte es haben wollte. Und genauso wenig bemerkte das Schwein den Alten hinter sich. Dieses arme Schwein, das dorthin lief, wo es der sichere Tod erwartete, warf ihm einen Blick aus lang bewimperten Augen zu, den man glückselig hätte nennen können. So lief es an den dampfenden Blutwannen vorüber, ohne das ihm bewusst gewesen wäre, was ihm geschah. In ihm war ein stiller Schrei, der ihm die Kehle fest zuschnürte und den Atem nahm. Eine Träne rollte über seine Wange und fiel zu Boden, wo sie mit gläsernem Klang zersprang.
Dieser Klang bohrte sich in seine Gedanken wie eine spitze Nadel, schmerzhaft, durchdringend und absolut. Dieser Schmerz riss ihn aus seiner Lethargie und im nächsten Moment wurde er gewahr, das hoch oben in einem eisernen Gestell ein Stier stand. Ein kräftiges Tier, dem die Situation, in der er sich befand, nicht geheuer war. Schnaubend scharrte es mit den Hufen auf dem Eisengitter, auf dem es stand. Das Muhen des Tieres hallte ungeduldig durch die Halle und verlor sich im Dunkel. Und als hätte es mit diesem Muhen etwas in Bewegung versetzt, begann sich ein riesiges Messer herabzusenken. Mit quälender Langsamkeit zielte es auf den Nacken des Stiers, der nicht wahrnehmen konnte, was da geschah. Immer noch ungeduldig ließ er ein zorniges Muhen vernehmen, das auch diesmal in der riesigen Halle verhallte. Als das Messer den Nacken des Tieres berührte und es spürte, das ein Aufbegehren mit einem ihm fremden Schmerz vergolten wurde, wandelte sich sein zorniges Brüllen in ein klägliches Muhen, bis es leiser werdend verstummte. Unter dem Schmerz beugte es den Kopf. Doch das Messer sank tiefer und tiefer, bis es nicht mehr ausreichte den Kopf zu senken. Allmählich ging das Tier in die Knie, bis es, in dem Versuch dem Messer auszuweichen, auf dem Boden lag, eingezwängt von einem Gatter, das ihm ein Fliehen unmöglich machte.
Er wollte es nicht sehen. Er wollte nicht, das man dieses schöne, starke Tier töten würde und Spannung erfüllte seinen Körper. Dennoch fühlte er sich wie ein Tiger, der sein Opfer fixiert aber hinter einer Glasscheibe steht, unfähig, auch nur seine Beute zu berühren. Sein Magen krampfte und sein Hals wurde von diesem Gefühl gewürgt, bis es ihm die Luft nahm, da hörte er eine Stimme hinter sich. Unwillkürlich wollte er sich schon umdrehen, da sprach jemand bestimmt und mit fester Stimme keinen Widerspruch duldend: „Nein! Dreh dich nicht um. Höre!“
Da stand er nun, sein ganzer Körper von einer Steifigkeit befallen, die ihm zuwider war, die er aber nicht loslassen konnte, und hinter ihm war diese Stimme. Und er erkannte die Stimme seines Vaters: „Ich wollte dir nur zeigen, wo du dich befindest.“ Und er sah seinen Vater, obgleich er ihn nicht sehen konnte, da er hinter ihm stand. „Lass nicht zu, dass sie ihn töten“, bat er. Da sprach die Stimme hinter ihm: „Wende dich nicht ab.“ Widerwillig aber unfähig sich gegen die Stimme aufzulehnen, die die Stimme seines Vaters war, sah er zu dem Stier hinauf, und noch immer klang der Satz „Ich wollte dir nur zeigen, wo du dich befindest“ in seinen Ohren. Angsterfüllt starrte er auf den Stier, der kläglich muhend am Boden lag, das Messer am Hals, unfähig sich zu bewegen. Es wollte ihm das Herz zerreißen, aber er konnte sich nicht abwenden.
Das Messer hielt inne. „Er wird wieder aufstehen“, vernahm er die Stimme hinter sich, die die Stimme seines Vaters war. Und mit einem Mal war große Helligkeit um ihn. Es dauerte aber eine Weile, bis er gewahr wurde, das er erwacht war.
Alles nur ein böser Traum?
Tränen standen in seinen Augen und ließen die ersten Sonnenstrahlen in einem Regenbogen erstrahlen.


© Karl Maria Sprachlos/Gunnar Buchheister


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